26. Kapitel

Wer recht sehen will, was der Mensch tun könnte, wenn er wollte, darf nur an die Personen denken, die sich aus Gefängnissen gerettet haben oder haben retten wollen. Sie haben mit einem einzelnen Nagel so viel getan wie mit einem Mauerbrecher.

Georg Christoph Lichtenberg

Brøl schoss so schnell vor, dass Javet sich zur Seite werfen musste, um dem tödlichen Schlag mit der Streitaxt zu entgehen. Das funkelnde Metall zischte nur wenige Handbreiten über seinem Körper hinweg. Wenn er sich nicht fallen gelassen hätte, hätte der Hieb ihn in der Mitte durchtrennt. Verzweifelt streckte er seine Hand nach dem Dolch aus, der ihm entglitten war. Gleichzeitig kroch er weiter nach vorne, fast bis an den Rand der Tribüne. Ein Blick nach unten sagte ihm, dass die Menschen nur auf einen spektakulären Tod warteten und nicht mal daran dachten, dass er gewinnen könnte.

Hilgard! Was auch immer deine Idee war! Mach, dass sie jetzt in Kraft tritt!

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, da ließ Brøl seine Axt wieder um die eigene Achse schwingen. Das Geräusch war ein unangenehmes Brausen und Zischen. Javet umklammerte den Dolch in seiner Hand mit schwitzigen Fingern. Ich komme nicht mal nah genug an ihn ran.

»Nun mach schon!«, rief jemand aus der Menge. »Lass ihn tanzen!«

Als hätte der Berserker nur darauf gewartet, verzog er sein Gesicht zu einer grausamen Fratze und grinste hämisch. Mit schweren Schritten kam er auf Javet zu, der nicht weiter zurückweichen konnte, da er sonst von der Tribüne fallen würde. Also floh er zur Seite, verlor einmal fast das Gleichgewicht. Keuchend fand er sich auf der anderen Seite wieder, wo die Garderitter sich aufgestellt hatten, um Königin Sunna zu bewachen. Er stieß fast gegen ihre Schilde, eilte an ihnen vorbei weiter. Hinter sich Brøls Unheil verkündende Schritte. Er jagt mich! Er jagt mich wie ein Raubtier seine Beute!

Schließlich blieb Javet stehen. Ich kann nicht ewig davonlaufen. Ich muss mich ihm stellen. Aber ich habe absolut keine Chance gegen ihn! Der Berserker war nun fast bei ihm und blieb einige Schritte entfernt stehen. Brøl öffnete den Mund und entließ ein ohrenbetäubendes Brüllen, bei dem die Menge begeistert jubelte. Gleichzeitig hob er die Streitaxt über seinen Kopf.

Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Javet hörte einen lauten Schrei und wurde kurz darauf so heftig zur Seite gestoßen, dass er hinfiel. Eine Gestalt war zwischen den Garderittern heraus gebrochen, hatte ihre Barriere aus Schilden überwunden und sich auf Brøl gestürzt. Der Berserker brüllte überrascht auf, als die Gestalt ihm das gestohlene Schwert eines Garderitters tief in die Brust rammte. Rotes Blut quoll hervor, doch noch war er nicht tot. Nur geschwächt brach er in die Knie. Im Fallen hob er seine Axt und schlug damit nach der Gestalt, die hart gegen den Schildwall geschleudert wurde und regungslos dort liegen blieb. Fassungslos starrte Javet sie an.

»Leonardo!«, schrie er. Der Anführer der Freiheitskämpfer war unverkennbar. Alle Gefahr ausblendend, stürzte Javet zu dem Mann hin und blickte ihm hilflos ins Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Lippen hervor. Die Axt hatte ihn mitten auf die Brust getroffen.

»Was ist passiert?«, fragte Leonardo benommen. Seine Augenlider flatterten schwach.

»Du...« Die Worte blieben Javet im Hals stecken. Er hat mir das Leben gerettet! Dabei dachte ich, das würde ihn gar nicht kümmern! »Du...« Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sich bedanken? Sagen, dass er das nicht hätte tun müssen? Aber es war schon zu spät. Leonardo hatte aufgehört zu atmen und sein Körper war erschlafft.

In völliger Stille stand Javet auf und drehte sich zu dem Berserker um, der immer noch auf dem Boden kniete, sich mit dem langen Stiel seiner Streitaxt aufrecht hielt. Er schaute ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Wut an, schien das Schwert, das immer noch in seiner Brust steckte, gar nicht wahrzunehmen. Die versammelten Menschen hatten alle den Atem angehalten, blickten mit großen Augen zur Tribüne hinauf.

»Der Kampf ist noch nicht vorbei!«, ertönte die Stimme der Königin. »Steh auf, Brøl!«

Doch der Berserker rührte sich nicht, starrte Javet einfach nur an. Der Junge packte den Dolch fester. Ich muss ihn töten, um zu gewinnen. Er versuchte, nicht zu zittern, als er sich Brøl näherte. Den Blick wachsam auf die Streitaxt gerichtet, setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er direkt vor dem knienden Hünen stand. Der Berserker machte keine Anstalten, sich zu wehren, als Javet ihm den Dolch an den Hals setzte, hob sogar den Kopf.

»Brøl!«, kreischte Königin Sunna. »Wie kannst du es wagen!«

Javet sah nicht hin, als er den Dolch mit einem Ruck über den Hals des Berserkers zog. Erst, als er sich umgedreht hatte, öffnete er die Augen. Ich habe einen Menschen getötet... Hinter sich hörte er einen schweren Körper zu Boden fallen, zusammen mit dem Scheppern einer Axt. Er schaute zu Königin Sunna, die ihn über den Schildwall hinweg wütend anblickte.

»Du hast dein Leben verwirkt, Junge!«, rief sie und stieß die Garderitter vor ihr zur Seite, damit sie auf Leonardos Leiche zeigen konnte. »Er hat dir geholfen! Damit warst nicht du es, der Brøl getötet hat!«

»Das ist nicht fair!« Javet funkelte die Königin wütend an. »Die letzte, tödliche Wunde habe ich ihm zugefügt! Was kann ich dafür, dass Eure Garderitter nicht auf ihre Schwerter aufpassen können!«

Der Blick der Königin schoss zu dem Garderitter hinüber, der sich nun von den anderen gelöst hatte, um seine Waffe zurück zu holen. Doch bevor er überhaupt einen weiteren Schritt gehen konnte, zeigte Königin Sunna mit dem Finger auf ihn. »Verhaften!«, befahl sie. »Sperrt ihn in den Kerker!«

Sofort traten zwei weitere Garderitter vor, packten den Schuldigen an den Schultern und führten ihn ab. Er wehrte sich nicht mal.

»Du hast also gewonnen, Junge«, wandte Königin Sunna sich erneut an Javet. »Du wirst leben und hast einen Wunsch frei. Was willst du? Münzen? Schätze? Reichtümer? Ich habe Säcke mit Bernstein in meiner Burg. Du kannst einen davon haben.«

»Ich möchte, dass Ihr zwei Mädchen aus Eurem Kerker befreit«, sagte Javet.

»So?« Die Königin schnalzte unzufrieden mit der Zunge. »Du willst also zwei Kriminelle auf die Welt loslassen?«

»Sie sind unschuldig«, zischte Javet. »So wie ich.«

Königin Sunna schnaubte nur verächtlich. »Wer wären denn diese Mädchen?«

»Annie. Sie ist zusammen mit mir her gekommen«, sagte er. »Und Hilgard.«

Beim zweiten Namen ging ein leises Raunen durch die versammelte Menschenmenge und Königin Sunna sog scharf die Luft ein. Sie fuhr mit einem Ruck zu dem Mann herum, der neben ihr stand. Auch er wirkte mehr oder weniger geschockt. Die Königin zischte ihm etwas zu, woraufhin er hilflos den Kopf schüttelte. Dann trat sie einen Schritt vor, wandte sich ihren Garderittern zu und schrie: »Welcher Schwachkopf hat ihn neben Hilgard eingesperrt?«

Jemand wurde nach vorne gestoßen und sofort abgeführt, ohne dass sie noch etwas sagen musste. Anschließend drehte Königin Sunna sich wieder Javet zu, ihr Gesicht von einer ungezügelten Wut verzerrt. »Noch was?«, blaffte sie.

Javet erinnerte sich daran, dass Hilgard ihn gewarnt hatte, seinen Wunsch ganz genau zu formulieren. Also fügte er hinzu: »Ich möchte, dass Ihr sie nicht nur befreit, sondern auch direkt hierhin, zu mir bringt. Ihr werdet uns unverletzt gehen lassen und keine Versuche unternehmen, uns wieder einzufangen. Eure Garderitter und auch keiner Eurer anderen Untergebenen wird uns folgen. Außerdem werdet Ihr uns, wenn wir gegangen sind, in keiner Weise weiter schaden.« Er überlegte kurz, ob das reichte. Ich glaube, ich habe alles abgedeckt, was schief laufen könnte.

»Holt diese zwei verfluchten Mädchen«, fuhr Königin Sunna einige der Garderitter an, die sofort los eilten. Mit einem wilden Ausdruck auf dem Gesicht blickte sie in Richtung der versammelten Menschen. »Ihr habt den Jungen gehört! Keiner von euch wird ihm oder seinen Begleiterinnen schaden oder, bei meiner Ehre, ihr werdet alle im hintersten Winkel des Kerkers landen!«

Javet war überrascht vom plötzlichen Wandel der Königin und so auch die Menge. Die Adligen tuschelten leise und huschten davon, bis der Platz vor der Tribüne fast leer war. Sie wird meinen Wunsch wirklich erfüllen? Oder habe ich etwas übersehen? Könnte sie etwas anderes im Sinn haben?

Wie zur Bestätigung seiner Vermutung wandte sie sich nun mit einem aufgesetzten Lächeln nochmal an ihn., »Du verstehst sicher, dass ihr das Nordland aber auf schnellstem Weg verlassen müsst? Wir Nordländer sind nicht sonderlich gut darin, Befehle zu befolgen. Ich möchte ja nicht, dass euch etwas passiert und ihr dann behauptet, ich hätte mein Wort nicht gehalten.«

Auf schnellstem Weg? Javet war kurz davor, der Königin zu widersprechen, doch das wäre sicher nicht schlau gewesen. Der schnellste Weg aus dem Nordland raus ist noch weiter nach Norden. Ins Grenzland. Sie möchte uns in den Tod schicken! Seine Lippen zuckten leicht belustigt. Wie gut, dass sie nicht weiß, wo ich den Großteil meines Lebens verbracht habe!

Nach einigen Minuten der Stille, die nur von zwei Garderittern durchbrochen wurde, die Leonardos und Brøls Leiche wegschafften, ertönten zögernde Schritte, die die Treppe hoch kamen. Zuerst sah Javet den immer noch dunkel gefärbten Haarschopf von Annie. Die Ketten waren ihr abgenommen worden, aber sie ging trotzdem leicht gekrümmt. Wahrscheinlich war sie vom Aufenthalt im Kerker geschwächt. Hinter ihr ging Hilgard, die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht gezogen. Mit den Händen schien sie etwas zu umklammern, das wie ein Medaillon aussah, das an einer Kette um ihren Hals hing.

»Nehmt ihr diese verdammte Kapuze ab!«, wütete Königin Sunna. Als der Garderitter es tat, sog sie scharf die Luft ein. Auch Javet keuchte erschrocken. Hilgards Gesicht war kaum wieder zu erkennen. Es schien, als hätte sie aus der Nase, den Augen und dem Mund geblutet und dann versucht, es wegzuwischen, was jedoch nicht geklappt hatte. Sie sah aus wie eine Wahnsinnige.

»Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, rief Javet erschrocken. »Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt! Warum ist sie trotzdem verletzt?«

»Ist schon in Ordnung«, erklang Hilgards schwache Stimme.

Javet blickte sie entgeistert an.

»Ich bin gestürzt«, sagte sie. »Es ist ni...« Bevor sie zu Ende sprechen konnte, verdrehten sich ihre Augen und sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Annie sie nicht aufgefangen hätte. Vorsichtig kniete sie sich hin und bettete das Mädchen in ihren Schoß.

Javet bemerkte, wie Königin Sunna Hilgard misstrauisch ansah und sich fast behutsam über den Bauch strich. Doch dann fasste sie sich. Sie nahm den Mann neben ihr an der Hand, der Hilgard mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen ansah, und befahl ihren Leuten, sich in die Burg zurückzuziehen.

»Ich hoffe, ich sehe keinen von euch je wieder«, zischte die Königin zum Abschied.

Als Javet, Annie und Hilgard alleine waren, stürzte der Junge zu seinen zwei Freundinnen. Er umarmte Annie so fest, dass sie ihm beruhigend über den Rücken streichen musste, damit er sie los ließ. »Ich dachte, es wäre alles vorbei«, flüsterte er ihr zu.

»Du hast mich rausgeholt.« Annies Stimme zitterte leicht und schimmernde Tränen standen in ihren Augen, die sie aber schnell weg blinzelte. Sie deutete auf Hilgard. »Wer ist das?«

»Hilgard. Sie war in meiner Nachbarzelle«, antwortete Javet und betrachtete das bewusstlose Mädchen nachdenklich. »Sie hat mir gesagt, wie ich der Hinrichtung entkommen kann. Als Gegenleistung sollte ich sie aus dem Kerker holen.« Aber wer ist sie wirklich? Was war ihre Idee? Wie soll ihr jetziger Zustand mir geholfen haben?

»Was werden wir jetzt tun?«, fragte Annie. »Ich möchte nicht wieder für Menschen arbeiten, die wir nicht kennen. Vielleicht enden wir am Ende wieder im Kerker und dieses Mal werden wir nicht mehr so einfach wieder raus kommen.«

Ich muss dringend ins Westland, dachte Javet und erinnerte sich gleichzeitig an das, was Königin Sunna kurz vorher gesagt hatte.

»Wir gehen nach Norden«, beschloss Javet.

»Nach Norden?« Annie schaute ihn verwundert an. »Ich dachte, du wolltest ins Westland?«

»Das auch, aber wir müssen das Nordland zuerst so schnell wie möglich verlassen.« Er zögerte. Ich habe ihr immer noch nicht gesagt, was überhaupt mein Ziel ist. Ich sollte sie nicht weiter im Dunklen halten. »Wenn wir Borg verlassen haben, werde ich dir alles erzählen«, gab er endlich nach. »Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem weitersagst. Ich vertraue dir.«

Annie nickte und umarmte ihn erneut. »Ich vertraue dir auch«, flüsterte sie ihm ins Ohr, was sein Herz wie verrückt klopfen ließ.

Auf einmal ertönte ein leises Stöhnen. Hilgard kam langsam wieder zu sich. Ihre Lider flatterten und schließlich schlug sie ihre dunkelbraunen Augen auf. Sie hob eine Hand, um ihr Gesicht vor der Sonne zu schützen und blinzelte Javet und Annie leicht benommen an. Die andere Hand umklammerte immer noch das Medaillon.

»Ich danke dir«, sagte sie zu Javet. Zu seiner Überraschung sprach sie ihn auf Ostländisch an.

»Es ist nichts«, antwortete er und fragte nicht weiter, woher sie seine Sprache konnte. »Du solltest dir das Blut aus dem Gesicht waschen. Und von den Händen. Was ist passiert?«

»Ich bin gestürzt«, meinte sie nur und richtete sich mit Annies Hilfe auf. Schwankend stand sie da. »Hast du der Königin genau gesagt, was du dir wünschst?«

Javet nickte.

»Dann trennen sich hier unsere Wege.«

Javet schaute sie überrascht an. »Wo wirst du hingehen? Königin Sunna hat eigentlich gesagt, dass wir das Nordland so schnell wie möglich verlassen sollen, wenn wir keinen Ärger wollen. Oder hast du Familie hier in Borg, die sich um dich kümmern kann?«

Hilgard lächelte gequält. »Ja.« Mit zitternden Händen setzte sie sich die Kapuze wieder auf.

»Dann...« Etwas hilflos streckte er dem Mädchen die Hand zum Abschied hin. Sie schlug ein, wobei sie einige Blutspuren auf seiner Haut hinterließ. Er wischte es schnell an seinem Hosenbein ab.

»Du solltest deinen Dolch auch säubern«, meinte Hilgard, bevor sie sich umdrehte und schwankend die Stufen der Treppe hinunter ging, dabei fast hinfiel.

»Was für ein seltsames Mädchen«, bemerkte Annie, während sie beobachtete, wie Hilgard über den Platz torkelte und in einer der dunklen Gassen verschwand. »Hat sie keine Angst, dass ihr etwas passieren könnte?«

»Königin Sunna hat den Menschen in Borg befohlen, uns in Ruhe zu lassen«, entgegnete Javet mit gemischten Gefühlen. »Sie werden ihr also nichts tun. Hoffe ich jedenfalls.«

»Was meinte sie mit deinem Dolch?«, fragte Annie.

Javet blickte auf die Waffe in seiner Hand. Immer noch klebte das rote Blut des Berserkers daran.

»Das Blut...« Annie blickte ihn besorgt an und umarmte ihn dann. »Was du getan hast, lässt sich nicht vergessen. Aber du hast es getan, um unser Leben zu retten.«

Ihre Worte beruhigten ihn. »Lass uns etwas ausruhen«, flüsterte er ihr zu. »Dann können wir morgen aufbrechen.«

Annie nickte und zusammen gingen sie die Stufen der Tribüne hinab.

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Jaaaaaa, die ursprüngliche Begründung für Javets Abstecher ins nördliche Grenzland war »Lass mal Domador besuchen« XD Warum zum Henker hätte er das tun sollen? XD Deshalb habe ich jetzt schön Königin Sunnas Charakter benutzt, um ihn und Annie dorthin zu zwingen :) 

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