2. Kapitel
Die Vernunft aber wird zeigen, dass Verschwender verrückt sind, weil sie töricht sind.
Horaz
Javet öffnete erschrocken die Augen und wollte sich aufsetzen, als plötzlich eine scharfe Klinge an seinen Hals gehalten wurde und ihn daran hinderte, den Kopf zu heben. Über ihm tauchte das Gesicht eines Mannes auf, den er nicht kannte. Er hatte ihn weder in Zamani noch irgendwo in der Umgebung seines Heimat-Dorfes gesehen. Seine Hautfarbe war seltsam. Zwar fielen ihm schwarze Haare über die Stirn, aber seine Haut war nicht so dunkel wie die der Menschen aus dem Ostland. Sie war eher bronzefarben. Ein für das Grenzland ungewöhnlich dichter und gepflegter Bart bedeckte sein Kinn.
Der Mann musterte ihn eine Weile, als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Dann wandte er sich an jemanden, der anscheinend hinter ihm stand. Javet verstand kein Wort, obwohl er sowohl Ostländisch als auch Nordländisch konnte – Marielle kam ursprünglich aus dem Nordland und hatte ihm ihre Muttersprache beigebracht. Wer sind diese Leute?
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, erschien eine weitere Person neben dem Mann. Eine Frau mit derselben seltsamen Hautfarbe und schwarzen Haaren, die ihr in weichen Locken auf die Schultern fielen. Sie schaute Javet ebenfalls einige Momente an und flüsterte dem Mann schließlich etwas ins Ohr, woraufhin dieser die Klinge von Javets Hals entfernte. Nachdem er das leicht gebogene Schwert zurück in die Scheide gesteckt hatte, hielt er dem Jungen auffordernd die Hand hin.
Etwas verwirrt ergriff Javet sie und stand auf. Das erste Mal konnte er alle Menschen, die ihn im Schlaf überrascht hatten, sehen. Es waren insgesamt fünf. Drei Männer und zwei Frauen. Alle hatten dieselbe bronzene Haut und schwarze Haare, trugen einige Waffen und Kleidung, die zur Hälfte aus Metall zu bestehen schien. Was ist der Sinn dahinter? Die ist doch viel zu schwer.
Nun bemerkte Javet auch die fünf Pferde, mit denen die Menschen anscheinend gekommen waren. Er war einem solchen Tier bisher nur ein Mal in seinem Leben begegnet, da Pferde im Grenzland sehr schnell starben. Wie konnte es sein, dass diese Menschen gleich fünf hatten? Als er die Tiere anstarrte, hob auf einmal einer der Hengste seinen Kopf. Vor Schreck stolperte Javet zwei Schritte zurück, ließ das schwarze Pferd nicht aus den Augen. Von der Seite hatte es vollkommen normal ausgesehen, doch jetzt, da er es von vorne betrachtete, stellte er fest, dass es zwei Köpfe hatte. Oder war es doch nur einer? Ab der Mitte des Nasenrückens spaltete der Kopf des Tieres sich entzwei – zwei Paar Nüstern, die schnaubten, zwei Paar Münder, die mit den Zähnen mahlten, aber trotzdem nur zwei Augen, die ihre Umgebung wachsam musterten.
Der Mann, der die Zügel der fünf Pferde hielt, lachte belustigt auf und rief demjenigen, der Javet zuvor mit dem Schwert bedroht hatte, etwas zu. Dieser verzog nur grimmig die Lippen und entgegnete etwas, bevor er sich wieder Javet zuwandte
»Name?«, fragte der Mann auf einmal.
Javet war so überrascht, ein Wort auf Ostländisch zu hören, dass er erst nach mehrmaligem Blinzeln antwortete: »Javet.«
»Was machst du hier, Javet?«, wollte der Mann wissen.
Er spricht meine Sprache? Der Junge öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, doch es kam nur ein fassungsloses Keuchen aus seiner Kehle. Sein Blick wanderte zurück zu den fünf Pferden mit den gespaltenen Köpfen. Wer sind diese Leute? Ein Räuspern des Mannes erinnerte ihn daran, dass er ihm noch eine Antwort schuldete.
»Ich... Ich habe nachgedacht«, sagte Javet ausweichend. Sie müssen nicht wissen, dass ich um Marielle getrauert habe. »Wer seid ihr?«
Der Mann legte sich die Hand auf die Brust und sagte »Domador«. Dann zeigte er nacheinander auf die anderen vier Menschen. »Sera, Aguarde, Equestre und Desconfiança.« Er stemmte die Arme in die Seiten. »Am Rand der giftigen Quellen denkt man nicht nach. Niemand, der nicht sterben will, kommt hierher. Was hast du hier wirklich gemacht?«
»Nichts, was euch etwas angeht.« Javet knirschte mit den Zähnen. »Wenn niemand hierher kommt, was macht ihr dann hier?«
»Wasser holen.«
Javet blinzelte überrascht und schaute zu den zwei anderen Männern, die sich am Rand zweier Schlammlöcher niedergehockt hatten und anfingen, runde Gefäße hinein zu tauchen. Er konnte nicht anders als das Gesicht vor Ekel zu verziehen. Die werden diesen giftigen Matsch doch wohl nicht trinken!
»Wir trinken das nicht, falls du das denken solltest«, sagte Domador, als hätte er die Gedanken des Jungen gelesen. »Wir verarbeiten den Schlamm bei uns Zuhause weiter und filtern das Wasser heraus.«
»Zuhause?« Javet raufte sich verwirrt die Haare. »Aus welchem Dorf kommt ihr?«
»Dorf?« Domador schnaubte. »Wir kommen aus einer Stadt!«
Wieder wusste Javet nicht, was er sagen sollte. Stadt? So nahe am Grenzland gibt es keine Städte! Es sei denn... Kann es wirklich sein? Meint er... Meint er eine Stadt jenseits des Pazifiks? Auf dem Kontinent? Wie von selbst wanderte sein Blick zu den riesigen Bergen, die sich hinter den giftigen Quellen in den Himmel erhoben. Aber alle Städte dort wurden zerstört! Dort ist alles so verstrahlt, dass es kein Leben mehr geben dürfte! Oder nicht?
Er hörte, wie die Frau mit den Locken, Sera, Domador etwas zu rief. Dieser schüttelte den Kopf und winkte sie zu sich. Sera beugte sich zu Javet hinab und zerstrubbelte ihm mit einem Lachen die Haare. »Geh einfach zurück in dein Dorf, Junge«, sagte sie. Ihren Worten haftete ein ungewöhnlicher, aber angenehmer Akzent an. Während sie sprach, runzelte Domador verärgert die Stirn, aber sie redete einfach weiter: »Du hast uns nicht gesehen und wir dich nicht. Dein Dorf lässt uns in Ruhe und wir dich. Eigentlich achten wir immer darauf, dass niemand da ist, wenn wir das Wasser holen, aber dich haben wir dieses Mal übersehen.«
»Ich bin in meinem Dorf nicht mehr willkommen«, erklärte Javet etwas hilflos. Er überlegte schnell, was er als nächstes sagen sollte. Wenn wirklich Menschen auf dem Kontinent überlebt haben, kann ich sie dann als Verbündete gewinnen? Obwohl... Bestimmt kümmern sie sich nicht um das, was im Pazifik geschieht. Ich muss die richtigen Argumente finden, um sie davon zu überzeugen, mir bei der Throneroberung zu helfen. Was wünschen sie sich am meisten? Vielleicht wollen sie zusammen mit uns im Pazifik leben? Nein, wenn das so wäre, hätten sie sich schon lange zu uns begeben können.
»Nicht mehr willkommen?« Sera sprach das letzte Wort aus, als würde sie es nicht kennen und wandte sich an Domador, der es ihr übersetzte. Mitleidig nickte sie und wandte sich erneut an Javet: »Hast du kein anderes Zuhause? Wo wohnst du? Wo schläfst du?«
»Meine Hütte ist verbrannt und wahrscheinlich wird dort bald ein Geschlechtsloses einziehen«, erklärte er und fügte in Gedanken hinzu: Wenn Mgonjwa überhaupt die Wahrheit gesagt hat, was ich stark bezweifle.
Die zwei Männer am Rand der giftigen Quellen hatten aufgehört, die Gefäße mit Schlamm zu füllen und sie in die Metallkisten gelegt, die an den Satteln der Pferde befestigt waren. Einer von ihnen rief Domador und Sera etwas zu. Der Mann mit dem Schwert nickte, doch Sera zischte ihn von der Seite an, bevor er sich überhaupt von der Stelle bewegen konnte. Es klang wie eine Drohung. Domador seufzte und erwiderte in einem scharfen Tonfall einige Worte, woraufhin die Frau einen Regen aus Sätzen auf ihn niederfallen ließ, wobei sie wild mit den Händen herumfuchtelte. Ihre Locken schwangen bei jeder Bewegung wild hin und her. Domador versuchte mehrmals, das Wort zu ergreifen, doch jedes Mal wurde Seras Stimme ein Stück lauter, sodass er es irgendwann aufgab. Während Javet eher mit Ehrfurcht zuschaute, schienen die zwei anderen Männer und die Frau das Ganze lustig zu finden, denn sie versuchten vergebens, ein Lächeln zu unterdrücken.
Irgendwann schrie Domador Sera einen kurzen Satz ins Gesicht und stampfte wütend zu den Pferden zurück, wo seine restlichen drei Begleiter schnell so taten, als würden sie die Sattelgurte überprüfen.
Sera drehte sich nun wieder Javet zu. Ein freundliches Lächeln stand auf ihrem Gesicht. Der plötzliche Sinneswandel überraschte ihn so sehr, dass er fast nicht verstand, was sie sagte: »Domador hat dir erlaubt, mit uns zu kommen. Du hast kein Zuhause. Es wäre unverantwortlich von ihm, dich einfach hier zurückzulassen. Das Grenzland, wie ihr es nennt, ist gefährlich. Du bist doch gesund?«
Perplex nickte Javet, obwohl er sich eigentlich nicht sicher sein konnte. Soll ich wirklich mit ihnen gehen? Er war hin und her gerissen zwischen der Gefahr des Totenlandes und diesen fremden Menschen, die dort anscheinend lebten ohne strahlenkrank zu werden. Keinem von ihnen fielen die Haare aus, keiner hatte einen Hautausschlag oder war irgendwie anders entstellt.
»Sehr schön. Komm.« Sera nahm ihn bei der Hand, bevor er länger darüber nachdenken konnte, und führte ihn zu den fünf Pferden. Neben einem von ihnen, einem ebenfalls schwarzen Hengst, blieb sie stehen. Sie ging in die Knie und verschränkte die Finger miteinander, sodass sie eine Art Stufe vor ihr bildeten. »Steig auf. Du reitest mit mir.«
Angenehm überrascht kletterte er mit Seras Hilfe auf den Hengst und wartete, bis die Frau hinter ihm aufsaß und die Zügel aufnahm. Obwohl dieses Pferd nicht das größte war – das gehörte offenbar Domador – war der Boden trotzdem ziemlich weit unten. Javet versuchte, nur gerade nach vorne zu blicken, aber er kam nicht umhin, auf den Kopf des Hengstes zu schauen. Von hier aus wirkte der gespaltene Nasenrücken noch gruseliger. Bei jedem Atemzug des Tieres ging ein Zucken durch die vier Nüstern und als es wieherte, klang es wie das Donnern einer Steinlawine.
Mit Domador an der Spitze bewegte die Gruppe sich am Rand von Ugonjwa entlang und tatsächlich auf die riesigen Berge des Kontinents zu. Ich kann es nicht glauben! Es gibt immer noch Städte! Städte im Totenland! Mit lebenden Menschen! Und Tieren! Auch wenn sie... etwas entstellt sind. Javet fragte sich, wie es dann möglich war, dass die Menschen offenbar gesund waren. Sind sie vielleicht Magier? Wie Marielle? Wie sonst könnten sie aus dem giftigen Schlamm Wasser filtern? Seine Ziehmutter hatte ihm erzählt, dass die Alten das früher gemacht hatten, als das Wasser in ihren Häusern giftig geworden war. Nur war diese Technik lange verloren gegangen. Oder doch nicht? Es kann doch nicht sein, dass diese Menschen ohne irgendwelche Auswirkungen auf ihre Gesundheit im Totenland überlebt haben?
Je weiter sie ritten, desto unheimlicher erschien Javet die Landschaft um ihn herum. Die fünf Pferde bahnten sich ihren Weg nicht nur an Steinen vorbei und steile Hänge hinauf, sondern passierten auch halb unter Schutt begrabene Skelette. Ab und zu konnte er mit Rost überzogene Metallplatten sehen, die sich zwischen einigen Felsen verkantet hatten. Von einigen blätterte etwas ab, das wie Farbe aussah, aber schon lange verblasst war. Dann kamen riesige Gebilde aus Metall, die schräg über ganze Berghänge gekippt waren als wären sie erst vor Kurzem vom Himmel gefallen.
»Schiffe«, sagte Sera hinter ihm, die seinem Blick gefolgt war. »Die rostigen Platten gehörten mal zu großen Kisten, in denen die Alten damals Sachen über die Meere gefahren haben.«
»Sie sind so riesig«, entwich es Javet.
»Es gab mehr Menschen damals«, antwortete die Frau und lenkte ihren schwarzen Hengst an einer der Metallplatten vorbei. »Und sie waren verschwenderisch.«
Javet bekam gar nicht mit, wie lange sie überhaupt geritten waren, als Domador ihnen von vorne etwas zu rief und anhielt. Die ganze Gruppe folgte seinem Beispiel und Sera half dem Jungen vom Pferd. Er schaute sich fasziniert um. Sie befanden sich neben einer der Kisten, die Sera zuvor erwähnt hatte. Die Wände bestehen aus demselben gewellten Metall wie einige Dächer in Zamani, bemerkte Javet. War doch schon jemand hier und hat ein paar der Platten mit sich geholt, um die Hütten abzudecken?
»Rein!«
Javet schaute zu Domador hoch, der sich mit finsterem Gesicht vor ihm aufgebaut hatte und in Richtung der Kiste zeigte, in der die vier anderen und die Pferde bereits verschwunden waren. Der Junge beeilte sich, der Aufforderung zu folgen. Drinnen, stellte er überrascht fest, gab es mehrere Decken, die in einer Ecke gestapelt waren. Die andere Frau, Desconfiança, und einer der Männer, Aguarde, wenn er sich richtig erinnerte, machten sich daran, sie auf dem Boden auszubreiten, während Equestre die Pferde an einer Stange festband, die jemand horizontal an der gewellten Metallwand befestigt hatte.
»Morgen reiten wir weiter«, erklärte Sera, die nun auf ihn zu kam und ihm eine der Decken hin hielt. »Die ist für dich.«
»Danke«, sagte Javet und nahm sie entgegen. »Wie weit ist es denn noch bis... bis zur Stadt? Also, wenn Ihr das sagen dürft?«
»Du brauchst nicht so formell zu sprechen«, lachte die Frau und warf ihre Locken zurück. »Du bist hier unter Freunden.« Dabei warf sie Domador einen funkelnden Blick zu, der am Eingang der Kiste lehnte und schnell abwehrend die Arme hob. »Wir müssen noch zwei weitere Tage reiten, bis wir da sind.«
»Ihr lebt so weit im Totenland?« Javet riss ungläubig die Augen auf.
»Das ist der Name, den ihr euch dafür ausgedacht habt«, meinte Sera belustigt.
»Wie nennt ihr den Kontinent denn?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Unser Zuhause. Früher hatte er wahrscheinlich einen richtigen Namen, aber für uns ist das unwichtig.«
»Und die Stadt?«
Bevor Sera antworten konnte, war Domador an ihrer Seite. »Vor dem Großen Krieg trug sie wohl einen Namen, der mit Engeln zu tun hatte, aber da der Gott gestorben ist, nennen wir sie jetzt Hölle.«
»Hölle? Warum...« habe ich noch nie von euch gehört?, vervollständigte Javet die Frage nur in seinem Kopf, denn Domador hatte Sera am Arm ergriffen und nach draußen gezogen, wo er sie wieder wild miteinander streiten hörte. Peinlich berührt schaute er zu den drei anderen. Sie konnten anscheinend kein Ostländisch sprechen, aber trotzdem winkte Aguarde ihm freundlich zu, damit er sich zu ihnen setzte.
Etwas zögernd nahm Javet das Angebot an und legte sich die Decke um die Schultern. Von irgendwo her hatte Equestre einen Laib Brot hervor geholt und brach ihn in mehrere Stücke, die er unter ihnen verteilte. Javet versuchte, sich seinen Hunger nicht anmerken zu lassen, doch trotzdem war er der erste, der seinen Teil vollständig aufgegessen hatte. Er bemerkte, wie Equestre Anstalten machte, ihm ein weiteres Stück zu geben, aber Desconfiança hielt ihn auf und sagte etwas, was ihn seine Meinung ändern ließ. Mit einem entschuldigenden Blick packte er das Brot wieder weg.
Die drei Menschen unterhielten sich noch eine Weile, bis es draußen dunkler wurde und sie sich mit ihren Decken hinlegten, um zu schlafen. Javet tat es ihnen gleich, schaute aber nochmal in Richtung Eingang. Domador und Sera waren nicht wieder aufgetaucht, aber die anderen schienen sich gar keine Sorgen zu machen. Als er zu Aguarde schaute, der ihm am nächsten lag, bedeutete dieser ihm mit einer Handbewegung, einfach zu schlafen. Wahrscheinlich halten sie Wache. Aber warum? Gibt es im Totenland noch andere Lebewesen, die überlebt haben und eine Gefahr werden könnten?
Javet wickelte sich enger in seine Decke ein und versuchte, das Schnauben und Hufescharren der unheimlichen Pferde zu ignorieren, bis er endlich einschlief.
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