16. Kapitel
Im Walde zwei Wege boten sich mir dar und ich ging den, der weniger betreten war – und das veränderte mein Leben.
Walt Whitman
»Warum schleppst du diese Kinder an, Peter?«, regte sich der Mann auf, der der Anführer der Gruppe zu sein schien. Er saß zusammen mit zwei weiteren Männern und einer Frau am Tisch im Wirtshaus ›Juweldieb‹, zu dem Peter Javet und Annie geführt hatte. Seine Hautfarbe erinnerte Javet an die von Domador und all den anderen Menschen aus Hölle. Leicht bronzefarben. Er sprach Nordländisch. Innerlich dankte Javet Marielle dafür, dass sie ihm die Sprache ihrer Heimat beigebracht hatte, sonst wüsste er nicht, worüber geredet wurde.
»Du hast gesagt, wir brauchen jemanden, der sich unauffällig ins Gebäude rein schleichen kann. Also habe ich dir diese zwei besorgt.« Peter schob Javet und Annie ein Stück nach vorne. »Sie sind klein und flink und können bestimmt durch alle möglichen Fenster und Türen schlüpfen ohne entdeckt zu werden.«
»Was hat der Junge an der Hand?«, fragte der andere Mann, als sein Blick auf Javets Verband fiel. »Peter, hast du mir ernsthaft einen Wasaliti angeschleppt?«
»Die beiden haben sowieso nach Arbeit gesucht«, antwortete Peter. »Außerdem: Was ist so schlimm daran, eine Wasaliti zu sein? Aveline wäre auch einer, wenn sie damals im Ostland gewesen wäre! Unsere ganze Gruppe besteht praktisch aus Wasaliti!«
»Nicht alle«, gab der andere Mann zurück, klang diesmal jedoch nicht mehr so abweisend. »Was hast du den beiden überhaupt versprochen, dass sie freiwillig mitgekommen sind?«
»Sie wollen nachher ins Westland«, erklärte Peter. »Ich habe ihnen Pferde, Vorräte und ein paar Münzen für die Reise versprochen. Das dürfte doch drin sein, oder?«
»Natürlich ist das drin.« Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Hast du ihnen schon gesagt, worum es geht?«
Peter schüttelte den Kopf, woraufhin der andere sich an Javet und Annie wandte. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Die Frau schob ihnen zwei Krüge mit etwas zu, das nach Alkohol roch. Javet versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen und seine Überraschung nicht zu zeigen, als Annie ihren Krug in die Hände nahm und an dem Getränk nippte.
»Ich bin Leonardo«, stellte der Mann sich vor, diesmal auf Ostländisch. Sogar der Akzent erinnerte Javet an den von den Menschen aus Hölle. »Ich führe diese kleine Gruppe an. Wir kommen ursprünglich aus dem Nordland, was ihr bestimmt schon bemerkt habt.« Er überlegte kurz und fuhr dann fort: »Wir nennen uns die Freiheitskämpfer. Heißt das so auf Ostländisch?«
Javet nickte. Es klingt wie eine richtige Übersetzung. Aber wer sind diese Leute wirklich? Wenn er eben richtig gehört hatte, sollten er und Annie bei dieser ›Arbeit‹ in irgendein Haus eindringen. Ich habe nicht vor, ein Einbrecher zu sein. Und ich stehle auch nichts. Er überlegte, ob er Leonardo verraten sollte, dass er vorhin alles verstanden hatte. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er das früher oder später ohnehin herausfinden würde, also sagte er entschlossen: »Annie und ich werden nirgendwo einbrechen und auch nichts stehlen.«
Leonardo hob überrascht die Augenbrauen. »Du verstehst Nordländisch?«
»Ja«, antwortete Javet auf eben dieser Sprache. »Meine Mutter hat es mir beigebracht. Aber Annie versteht es nicht, also sollten wir uns vielleicht weiter auf Ostländisch unterhalten.«
»Das Mädchen heißt also Annie«, ging der Mann auf seine Bitte ein. »Und du?«
»Mashimo«, log Javet erneut. »Und ich wiederhole mich: Wir werden nirgendwo einbrechen.«
»Auch nicht, wenn es der Gerechtigkeit dient?«, fragte diesmal Peter. Er hatte sich neben sie gesetzt und versperrte ihnen so den Weg in Richtung Ausgang des Wirtshauses. Weil keiner der Anwesenden Anstalten machte, seine Waffen zu ziehen oder ihnen zu drohen, blieb Javet jedoch ruhig. Vorerst.
»Welche Gerechtigkeit rechtfertigt einen Einbruch?«, wollte er wissen.
»Wir wollen ein Zeichen setzen«, erklärte Leonardo. Er deutete mit der Hand auf Annie. »Deine Freundin dürfte wissen, dass es im Ostland keine Gerechtigkeit für ihresgleichen gibt. Nur, weil sie eine helle Haut hat, hat sie weniger Rechte als andere. Stimmt doch, oder, Annie?«
»Wir haben es nicht leicht«, gab sie zu, blieb allerdings misstrauisch.
»Nun«, fuhr Leonardo fort, »im Nordland sind wir es, die keine Gerechtigkeit erwarten können.« Er breitete die Arme aus und umfasste alle am Tisch Sitzenden, die bestätigend nickten. »Wir werden von den Adligen verächtlich ›Schwächlinge‹ genannt, weil wir nicht das wilde Blut ihrer Vorfahren in den Adern haben. Wir haben weder blondes noch blaue Augen. Ich frage jetzt euch beide: Ist es gerecht, Menschen anhand ihres Aussehens zu beurteilen?«
Javet und Annie schüttelten entschlossen die Köpfe. Worauf möchte er hinaus?
»Aber die Adligen beurteilen andere nach ihrem Aussehen«, sagte Leonardo. »Sie sehen uns Schwächlinge als ihnen untergeordnet und unrein an. Sie behandeln uns, als wären wir Dreck unter ihren Füßen. Jeder von uns«, er zeigte wieder in die Runde, »hat seine eigenen Erfahrungen damit gemacht. Der eine wurde geschlagen, der andere als Sklave gehalten, der nächste einfach nur ausgenutzt, obwohl er nur Geld für seine ehrliche Arbeit verlangte. Peter und ich kennen uns schon seit unserer Kindheit. Wir wuchsen in einer Sklavengrube auf, in der wir für den Stadthalter von Råtne nach Kohle graben sollten. Niemand überlebt dort mehr als zehn Jahre. Wenn man Glück hat und die Aufseher es nicht auf einen abgesehen haben. Eines Tages schafften wir es, zu fliehen. Ursprünglich waren wir sechs junge Männer, die sich in der Nacht davonschleichen wollte, aber vier wurden erwischt. Nur Peter und ich konnten unseren Verfolgern entkommen.
Wir durchstreiften das Nordland sehr lange. Es war eine Zeit voller Hunger und Durst. Wir lebten auf der Straße und stahlen uns zusammen, was wir konnten. Hier einen Laib Brot, da einen Wasserschlauch. Wir wollten nur überleben. Irgendwann, nachdem wir viele Male erwischt und öffentlich ausgepeitscht worden waren, beschlossen wir, dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Wir gründeten die Freiheitskämpfer. Wir kämpfen für die Freiheit und die Rechte der Unterdrückten des Nordlandes. Wir wollen nur Gerechtigkeit.«
Javet hatte ihm aufmerksam zugehört. Bei jedem Wort brach sein Entschluss, nie zu stehlen, nach und nach zusammen. Ich kann verstehen, warum sie es gemacht haben. Aus dem Augenwinkel sah er zu Annie, deren Augen vor Begeisterung strahlten. Sie kannte die Ungerechtigkeit, die ihr und allen anderen Hellhäutigen im Ostland widerfahren war, besser als er.
»Aber ihr seid so wenige«, gab Javet zu bedenken. »Ihr könnt doch nichts ausrichten.«
»Unterschätze die Macht des kleinen Kiesels nicht, Mashimo«, entgegnete Leonardo. »Er kann eine Lawine auslösen.«
»Was werdet ihr tun?«, fragte Annie auf einmal. »Was habt ihr vor? Wofür braucht ihr uns? Was sollen wir tun?«
»Annie«, zischte Javet ihr leise zu. »Wir wissen noch nicht, ob wir ihnen vertrauen können.«
»Ihr könnt uns vertrauen«, sagte Peter, der ihn offenbar gehört hatte. »Du brauchst nicht so skeptisch zu sein. Ich sehe, dass Annie schon für unsere Sache brennt. Sie versteht, wie wichtig diese Gerechtigkeit ist.«
Das Mädchen lächelte verlegen und wandte sich dann Javet zu, nahm ihn an der Hand. »Wenn ich denen, die unterdrückt werden, irgendwie helfen kann, werde ich das tun.« Ihre blauen Augen schienen direkt in sein Herz zu blicken. »Ich weiß, dass du das auch so siehst, Mashimo. Wir werden ja nicht für immer bei den Freiheitskämpfern sein. Es geht nur um diese eine Sache, oder?«
Leonardo nickte zustimmend.
»Wir sollen in ein Haus einbrechen?«, hakte Javet nach ohne Annies Hand loszulassen.
»Nicht in irgendein Haus«, erklärte Leonardo im Flüsterton. »In das Haus des Stadthalters von Råtne. Er ist der Besitzer der Sklavengrube. Eure Aufgabe wird es sein, in das Haus zu kommen und sich dort zu verstecken, bis es Nacht wird. Dann öffnet ihr uns ein Fenster und wir erledigen den Rest.«
»Den Rest?« Die Art, wie der Mann das sagte, gefiel Javet nicht.
»Wir stehlen alle Münzen und allen Schmuck, den wir finden können«, sagte Leonardo. »Einen Teil behalten wir für uns. Den Rest schütten wir in die Sklavengrube, damit unsere Brüder und Schwestern endlich etwas von den Reichtümern bekommen, die der Stadthalter sich an ihrer Arbeit verdient hat! Die Nachricht von unserer Aktion wird sich in Windeseile im ganzen Nordland verbreiten! Die Sklavengrube von Råtne ist nämlich eine Berühmtheit. Es wird Aufstände geben, in anderen Städten mit anderen Sklaven. Und wer weiß, vielleicht wird es dann irgendwann Gerechtigkeit für uns angebliche Schwächlinge geben.«
Nach Råtne, überlegte Javet wenig begeistert. Das ist im Nordosten des Nordland, wenn ich mich richtig erinnere. Die vollkommen falsche Richtung! Doch Annies Begeisterung schien nicht nachzulassen. Sie klatschte mit strahlenden Augen in die Hände.
»Ich bin dabei!« Sie schaute zu Javet. »Du doch auch, oder? Wenn es im Nordland Aufstände gibt, wird es sie bald auch im Ostland geben. Vielleicht werden solche wie ich dann besser behandelt. Es ist schon schlimm genug, dass Königin Alina unsere Rechte weiter eingeschränkt hat.«
Wenn ich König bin, werde ich diese Ungerechtigkeit sowieso abschaffen, dachte er, konnte es jedoch nicht laut sagen. Auch wollte er Annie nicht enttäuschen. Ich werde mich halt beeilen müssen, um ins Westland zu kommen. Wenn die Freiheitskämpfer wirklich einen Teil für sich behalten, sollte es kein Problem sein, sich zwei gute und schnelle Pferde zu besorgen. Die haben sie uns ohnehin versprochen.
»Die Gerechtigkeit ist etwas Gutes«, sagte Javet schließlich. »Dafür lohnt es sich, zu kämpfen. Und auch, einzubrechen und zu stehlen.«
»Das erinnert mich an eine Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat, bevor sie gestorben ist«, warf Peter auf Nordländisch ein und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
»Wir werden bei eurer Aktion mitmachen«, erklärte Javet, als Peter nichts weiter sagte. »Allerdings mit drei Voraussetzungen.«
Leonardo bedeutete ihm mit einer Handgeste, fortzufahren.
»Erstens: Wir bekommen wirklich Pferde, Vorräte und genügend Münzen für die Reise ins Westland.«
Der Mann nickte. »Kein Problem. Der Stadthalter hat die Sklaven so sehr ausgebeutet, dass er eine ganze Schatzkammer voller Münzen hat. Weiter?«
»Zweitens: Annie und ich dürfen gehen, nachdem wir euch das Fenster geöffnet haben.«
Diesmal setzte Leonardo sich aufrecht hin und überlegte eine Weile. Die Frau neben ihm flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er zögernd nickte und antwortete: »Ihr dürft gehen, wenn keine Gefahr besteht, dass ihr entdeckt werdet oder Aufmerksamkeit auf euch zieht. Ihr müsst völlig sicher sein, dass keine der Wachen euch sieht, bevor ihr abhaut.«
»In Ordnung«, willigte Javet ein. »Und drittens: Wenn wir es nicht schaffen, uns in das Haus zu schleichen, trifft uns keine Schuld und wir werden weder bestraft noch müssen wir auf eine nächste Gelegenheit oder so warten.«
»Ein Versuch?« Leonardo hob fragend die Augenbrauen, wechselte einen Blick mit den anderen, nickte dann aber ebenfalls. »Das sollten wir schaffen. Notfalls suchen wir uns andere Kinder. Im Nordland gibt es genug, die auf der Straße leben.«
»Dann ist es abgemacht?«, fragte Javet und schaute auch zu Annie, um sich zu vergewissern, dass die Voraussetzungen für sie ebenfalls in Ordnung waren. Doch sie war so fasziniert und begeistert von dem Plan, dass sie an nichts Anderes zu denken schien. Er hatte sie noch nie so gesehen. Das Lächeln auf ihren Lippen machte ihn glücklich.
»Abgemacht«, sagte Leonardo und streckte ihm die Hand hin.
Javet schlug ein.
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