11. Kapitel
In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.
Voltaire
Sie waren am Tag des Aufbruchs noch nicht weit gekommen, als Javet die Müdigkeit überkam und er darum bat, eine Pause zu machen. Er hatte die letzte Nacht nicht geschlafen, weil er von Domador nach Zamani und wieder zurück gehetzt war. Zum Glück schien der Anführer ihrer kleinen Gruppe nichts dagegen zu haben, sodass er wortlos nickte und sich dann etwas absetzte.
»Es wäre gut, wenn wir bald ein Dorf betreten könnten«, meinte Sera, die sich neben ihm im Staub der Einöde niedergelassen hatte. Sie hatten das Grenzland noch nicht verlassen, aber vermutlich meinte sie ein richtiges Dorf. Eines mit gesunden Menschen.
Während Domador immer noch keine Anstalten machte, sich zu ihnen zu gesellen, holte Javet die Karte hervor und breitete sie vor sich und Sera aus. In ihrer näheren Umgebung war ein einziges Dorf namens Makali eingezeichnet, das allerdings etwas weiter nördlich lag. Er deutete mit dem Finger darauf. »Wir müssen noch ein paar Tage gehen, bis wir dort ankommen.«
»Das sollte in Ordnung sein«, meinte Sera. »Denkst du, dort wird es Pferde geben, die man stehlen kann?«
Javet war es immer noch unangenehm, das Stehlen auch nur in Erwähnung zu ziehen. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, dort Pferde zu treffen. Also schüttelte er den Kopf. »Nein. Pferde gibt es eigentlich nur in den größeren Städten, die eine gute Wasserversorgung haben. Es sind Reittiere für reiche Leute. Nicht jeder kann es sich leisten, so viel Wasser für die Versorgung eines Pferdes zu verbrauchen.«
Sera nickte, wenn auch leicht enttäuscht. Dennoch half sie ihm dabei, seine Decke auf dem Boden auszubreiten, damit er einen etwas weicheren Schlafplatz hatte. Nach einer kurzen Diskussion mit Domador schlug sie ihr Lager direkt neben ihm auf. Vermutlich wollte der Mann die erste Wache selbst übernehmen.
Vermutet er, dass ich diese Nacht versuchen werde zu fliehen?, dachte Javet. So leicht werde ich es ihm nicht machen.
Es vergingen fünf Tage, bis sie nicht weit entfernt die Dächer einiger Häuser entdeckte. Das muss Makali sein! Sie hatten länger gebraucht als er angenommen hatte. Zwar hatte er ab und zu auf die Karte geschaut, aber die leere und staubige Landschaft machte es unglaublich schwierig, sich zu orientieren. Zwei Tage später und ihre Vorräte wären aufgebraucht gewesen. Er hatte irgendwie verdrängt, dass es so nah beim Grenzland eher wenige Dörfer und Städte gab. Sie würden sich am Anfang – solange er noch nicht geflohen war – von einer Siedlung zur anderen hangeln müssen und dabei kostbare Zeit verlieren. Aber je näher sie der Mitte des Pazifiks kamen, desto weniger würden sie um das nächste Dorf bangen müssen. Dann müssten sie einfach immer weiter in Richtung der untergehenden Sonne gehen und ab und zu Halt in Städten machen, um ihre Vorräte aufzufüllen, bis sie im Westland ankamen. Ich kann gar kein Westländisch, fiel ihm auf einmal ein. Seufzend strich er sich durch die Haare. Egal. Das ist ein Problem für später.
Makali war nicht sehr groß, hatte aber trotzdem eine niedrige Steinmauer, die es vor unerwünschten Besuchern schützte. Sie brauchten eine Weile, um das Eingangstor zu finden, da es keine Straße gab, die davon wegführte, aber schließlich fand Sera es und winkte die anderen zu sich. Ein einzelner Mann war an einem der Flügel zusammengesunken und schnarchte laut. Wahrscheinlich war das ein Wächter, aber er schien seine Arbeit nicht sonderlich gut zu machen. Javet ging zusammen mit Domador und Sera einfach an ihm vorbei ohne dass er aufgehalten wurde. Vielleicht war das auch besser so. Er wusste nicht, wie viele Fragen die ungewöhnliche Hautfarbe seiner Begleiter aufrufen würde.
In der Mitte von Makali gab es einen großen Platz, auf dem allerlei Menschen umher eilten und sich unterhielten. Am Rand wurden Waren zum Kauf angeboten, aber da Javet keine Münzen hatte, wagte er es nicht mal, in deren Nähe zu gehen. Stattdessen sah er sich nach so etwas wie einer Tafel mit Zetteln um. In Zamani hatte es so eine Tafel gegeben, auf der stand, ob jemand einen Reisegefährten suchte. Besonders am Rand des Pazifiks war es günstiger und sicherer mit mehreren, teilweise auch fremden Menschen, in einem Wagen durch die Einöde zu reisen. Er hoffte, dass es so etwas auch in diesem Dorf gab.
»Wir werden uns umsehen«, verkündete Domador im selben Augenblick und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bleibst hier. Wenn wir mit Geld oder Reittieren zurückkommen, werden wir wahrscheinlich sofort fliehen müssen. Dann können wir es uns nicht leisten, erst noch nach dir suchen zu müssen.«
»Ja, ich bleibe hier«, versicherte Javet ihm und schaute ihm und Sera hinterher. Die beiden verschwanden am Rand des Platzes in einer abzweigenden Straße. Dann hielt er weiterhin nach der Tafel mit den Zetteln Ausschau. Es wäre perfekt, wenn es hier wirklich jemanden gab, der noch Reisegefährten suchte oder nett war und fragte, ob jemand zufällig auch zu irgendeiner Stadt wollte und Lust hätte, mitzukommen. Mit so einem Reisenden würde er dann Makali verlassen ohne dass Domador und Sera ihm schnell genug folgen konnten. Er war sich ziemlich sicher, dass es hier keine Reittiere gab, die sie stehlen konnten, um ihn einzuholen. Und was Domadors Anweisung für Estrella betraf... Darum würde er sich kümmern, wenn es so weit war.
Endlich fand Javet die Tafel, die er die ganze Zeit gesucht hatte. Er schlüpfte geschickt zwischen den Leuten hindurch, die ihn überhaupt nicht beachteten, und schaute, was für Zettel dort hingen. Sein Blick blieb sofort an dem größten und anscheinend auch neuesten Aushang hängen. Während er las, wurden seine Augen immer größer.
›Bürger des Ostlands‹, stand dort. ›Freuet euch, denn in nur einem Monat werdet ihr einen neuen König haben. Sharaf, der zweite Prinz des Südlands, wird Königin Alina heiraten. Ein Hoch auf die neue Dynastie und das neue Bündnis. Das Paar verspricht eine bessere Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln. Zudem werden die Rechte der Bleichgesichter weiter eingeschränkt, um den Adligen ein besseres und zufriedeneres Leben zu ermöglichen. Bleichgesichtern ist es verboten, lesen und schreiben zu lernen. Es ist ihnen verboten, an einem Tisch, in einer Kutsche, in einem Wagen oder jedwedem anderen Ort mit einem Adligen zusammen zu sitzen. Ehen zwischen Bleichgesichtern und Adligen sind verboten. Kinder mit gemischtem Blut sind Schmutzhäute, gelten als verunreinigt und damit nicht-adelig. Die oben genannten Regeln treten mit sofortiger Wirkung in Kraft. Dieses Flugblatt wurde im Auftrag von Königin Alina des Ostlands von ihrem Berater Kunong'ona geschrieben.‹
Was zum Henker?, schoss es Javet durch den Kopf. Welche Alina? Ist das die letzte Frau von König Miro? Was hat sie gegen Hellhäutige? Warum heiratet sie jemanden aus dem Südland? Und warum überhaupt sie? Ich dachte, Miro hat eigene Töchter. Warum besteigt nicht eine von ihnen den Thron? Er überschlug die Informationen, die er soeben erhalten hatte. Das Ostland hat sich also mit dem Südland verbündet. Das bedeutet, dass ich im schlimmsten Fall nicht nur gegen die Garderitter dieser Alina, sondern auch gegen die aus dem Südland vorgehen muss. Na toll...
»Du siehst aber nicht sehr begeistert aus«, meldete sich auf einmal eine Stimme direkt neben ihm.
Javet fuhr vor Schreck zusammen und schaute zur Seite, wo er einen Jungen entdeckte, der sich mit einer Schulter gegen die Tafel gelehnt hatte. Er kaute auf einem Strohhalm herum, weswegen seine Aussprache etwas verwaschen klang.
»Du bist doch auch ein Adliger. Warum freust du dich nicht?«, fragte der Junge, bevor Javet überhaupt den Mund öffnen konnte. »Weniger Bleichgesichter in Makali bedeutet mehr Essen und Trinken für uns!«
»Weniger Hellhäutige?«, fragte Javet verwirrt und änderte absichtlich seine Ausdrucksweise.
Die Augenbrauen des Jungen zogen sich kritisch zusammen. »Bist du etwa einer dieser Typen, der sich für die Rechte der Bleichgesichter einsetzt?« Er spuckte aus, wobei der Strohhalm wie durch ein Wunder trotzdem zwischen seinen Lippen blieb. »Solche wie dich brauchen wir hier nicht! Verpiss dich! Geh zu deinen bleichgesichtigen Freunden!«
»Was habt ihr mit ihnen gemacht?« Javet ignorierte die unterschwellig aggressive Haltung des Jungen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es in Makali keinen einzigen hellhäutigen Menschen zu geben schien.
»Rausgeschmissen haben wir sie!«, prahlte der Junge. »Hoffentlich sind sie alle in der Einöde da draußen abgekratzt!« Nun stieß er sich von der Tafel ab, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Javet provokativ an. »Ist das ein Problem für dich?«
Javet ballte die Fäuste. Ich hätte nicht gedacht, dass der Hass auf hellhäutige Menschen im Ostland so stark ist! Was ist überhaupt der Grund dafür? Nur, weil sie sich nicht so gut gegen die Sonne schützen können?
»Probleme, Majani?«, ertönte eine weitere Stimme und ein anderer Junge tauchte neben dem vorherigen auf. Er war etwas kleiner, doch nicht weniger frech. Ein fieses Grinsen lag auf seinen Lippen.
»Ich doch nicht, Mkorofi!«, entgegnete Majani ebenfalls grinsend. »Aber der da. Der scheint Bleichgesichter zu mögen. Nennt sie Hellhäutige. Und schau sein Gesicht an! Gleich fängt er an zu heulen, weil alle seine lieben Freunde draußen abgekratzt sind!« Er lachte und hielt auf einmal inne, setzte einen erschrockenen Ausdruck auf. »Sag nicht, du bist eine Schmutzhaut! Wer war denn ein Bleichgesicht? Deine Mutter? Dann wurde sie wenigstens von einem Adligen richtig durchgenommen. Sie sollte sich freu...«
Javets Faust traf Majani mitten ins Gesicht. Der Junge jaulte vor Schmerz und Überraschung laut auf und hielt sich die Nase, von der rotes Blut tropfte. Sein Kumpane, Mkorofi, war für einen Augenblick wie erstarrt und klopfte Majani dann beruhigend auf den Rücken.
»Du Arsch!«, kreischte Majani wütend. »Wenn du mir die Nase gebrochen hast...«
»Du hast es verdient!«, schleuderte Javet ihm entgegen, bevor er sich zurückhalten konnte. Niemand beleidigt meine Eltern oder Marielle!
»Mkorofi, halt ihn fest, damit ich ihm eine richtige Abreibung verpassen kann!«, schnaubte Majani, nahm die Hand von der Nase und spuckte wieder auf den Boden. Dann krempelte er seine Ärmel hoch, während sein Kumpane auf Javet zu kam.
Das war nicht geplant, dachte er. Aber jetzt kann ich mich nicht mehr drücken. Er erinnerte sich an all die Prügeleien, die er mit Mashimo und den Jungen aus der Nachbarschaft gehabt hatte. Aber das war schon eine ganze Weile her. Hoffentlich hatte er alle Kniffe von damals noch drauf. Bevor Mkorofi ihn erreichte, hatte er die Tasche und die Karte schon auf den Boden neben die Tafel gelegt. Als er den Dolch hinter seinem Gürtel hervor holte, blieb der Junge kurz stehen und schaute ihn feindselig an, blinzelte allerdings verwirrt, als Javet die Waffe zu seinen anderen Sachen legte.
»Ein fairer Kampf«, sagte er erklärend, krempelte seinerseits die Ärmel hoch und ging in den tiefen Stand.
»So?«, fragte Mkorofi nur und schoss gleichzeitig vor, um ihn an den Armen zu packen und festzuhalten. Mit einer geschickten Drehung zur Seite ließ Javet ihn ins Leere stolpern. Wegen der hohen Geschwindigkeit und des plötzlich fehlenden Gegners verlor Mkorofi das Gleichgewicht und fiel mit einem überraschten Schrei zu Boden. Eine rotbraune Staubwolke stieg auf.
»Nicht deine erste Prügelei?«, fragte Majani gehässig und schien sich gar nicht um seinen Sand spuckenden Kumpanen zu kümmern.
Javet antwortete nicht, hob nur die Fäuste und starrte den Jungen grimmig an.
»In Ordnung. Ich habe schon lange keinen wie dich mehr gehabt!« Majani ging ebenfalls in den tiefen Stand.
Die beiden Jungen fingen an, sich langsam zu umkreisen. Javet bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sich mittlerweile einige Leute um sie versammelt hatten und sie beobachteten. Domador und Sera waren zum Glück nicht dabei. Diesen kurzen Moment der Ablenkung nutzte Majani und stürzte sich auf Javet. Der Hieb in den Bauch jagte Wellen aus Schmerz durch seinen Körper, aber er biss die Zähne zusammen. Bevor Majani ihn in den Schwitzkasten nehmen konnte, trat Javet ihm auf den Fuß und verpasste ihm gleichzeitig einen Schlag gegen die Schulter. So aus dem Gleichgewicht gebracht stolperte sein Gegner zurück und warf sich sofort wieder nach vorne.
Plötzlich spürte Javet, wie jemand ihn hinten an den Armen festhielt. Mkorofi war also wieder auf die Beine gekommen. Unfähig, sich vernünftig zu bewegen, kassierte er den nächsten Schlag ein. Als Majani erneut ausholte, duckte er sich jedoch und riss gleichzeitig Mkorofi nach vorne, sodass Majanis Hieb seinen eigenen Kumpanen traf. Dieser jaulte vor Schmerz auf und ließ Javet los. Er gönnte sich keine Pause, sondern schickte Majani mit einem heftigen Faustschlag zu Boden.
»Du Arsch!«, brüllte der Junge wütend und hielt sich die wieder blutende Nase und den schmerzenden Kopf, während er sich am Boden herum rollte, um auf die Knie zu kommen. Etwas gekrümmt stand er auf und starrte Javet zornig an. Der Strohhalm war ihm bei der Prügelei aus dem Mund gefallen. »Das wird ein Nachspiel haben! Mkorofi!« Als der Kumpane dem Ruf folgte, stolperten beide in eine Nebenstraße davon und ließen Javet alleine zurück.
Eigentlich war er nicht ganz alleine. Die Menschen um ihn herum schauten ihn mit neugierigen Blicken an. Einige Mädchen mit langen, schwarzen Haaren oder welchen, die zu Zöpfen geflochten waren, waren auch dabei. Sie kicherten und schauten ihn auf eine Art an, die ihn peinlich berührt den Kopf wegdrehen ließ. Mit der rechten Hand tastete er über seinen Bauch und zuckte vor Schmerz leicht zusammen. Das wird einen blauen Fleck geben.
Als die Leute begriffen, dass es nichts weiter zu sehen gab, zerstreuten sie sich wieder. Nur ein extravagant gekleideter Mann, dessen Haare auf eine seltsame Art zur Seite gekämmt waren, blieb zurück. Er trat zu Javet, als er seine Sachen gerade aufhob.
»Du bist ziemlich geschickt mit deinen Fäusten«, sprach er Javet an und zeigte seine blendend weißen Zähne.
»Danke«, entgegnete er und wollte sich wieder den Zetteln an der Tafel zuwenden, doch der Mann ging nicht weg, also blickte er wieder zu ihm. »Kann ich Euch irgendwie weiterhelfen?«
»Wenn man es genau nimmt, ja«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Kuimba. Vielleicht hast du schon von mir gehört. Ich bin ein berühmter Barde und Sänger und bin sogar auf der Hochzeit von König Miro mit Königin Alina aufgetreten. Wie heißt du?«
Javet schüttelte die Hand, um etwas Zeit zu gewinnen, damit er sich einen Namen ausdenken konnte. Weil ihm die Ideen fehlten, sagte er einfach »Mashimo« und bat seinen Stiefbruder in Gedanken um Entschuldigung.
»Nun, Mashimo, mir scheint, du bist auf der Suche nach Arbeit.« Kuimba deutete vielsagend zu der Tafel. Dort hingen nämlich normalerweise vor allem Stellenangebote. »Ich bin zufällig gerade auf der Suche nach einem Leibwächter. Die ganzen Leute hier taugen allerdings zu nichts und die Profis verlangen zu viel Geld. Also, Fäusteschwinger? Wie wär's?«
Javet zögerte. Ich möchte mich eigentlich nicht wieder mit jemandem prügeln, sondern Makali so schnell wie möglich verlassen.
»Zwanzig Münzen pro Tag gebe ich dir«, sagte Kuimba. »Zehn obendrauf, wenn du dich wirklich mal mit jemandem prügeln solltest, um mich zu beschützen. Essen und Trinken bekommst du von mir spendiert.«
Javet glaubte, sich verhört zu haben. »Zwanzig Münzen pro Tag?«
Der Barde nickte bestätigend.
Das ist wirklich viel. Javets Blick wanderte zu den Zetteln auf der Tafel, die er schnell überflog. Keiner bot mehr als fünf Münzen für eine Arbeit, die mehrere Tage dauerte. Irgendwas war hier faul. Aber der Barde hatte seine Neugier geweckt. Er wandte sich wieder Kuimba zu. »Ihr bietet so viel, obwohl man an den meisten Tagen wahrscheinlich nichts zu tun hat. Wo ist der Haken?«
»Es gibt keinen.« Der Barde grinste. »Es ist nur so, dass jeder, der sich in meinem Beruf für etwas hält, auch einen Leibwächter hat. Ich habe praktisch keine Feinde. Es kann nur sein, dass ich einige Adlige mit meinen Liedern verärgert habe, aber die verstehen sich nicht auf den Faustkampf. Bestimmt kannst du sie mit ein paar Schlägen schnell in die Flucht schlagen. Ansonsten geht es nur um Räuber und so.«
»Gegen Erwachsene habe ich noch nie gekämpft«, sagte Javet und wollte schon ablehnen, als Kuimba ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte.
»Was nicht war, kann ja noch werden!«, lachte er. »Du bist wirklich ein vernünftiger Junge! Und wenn du vernünftig bist, nimmst du das Angebot an! Du bekommst nicht jeden Tag zwanzig Münzen pro Tag angeboten, Mashimo! Wenn du jetzt ablehnst, war's das! Ich reise nämlich gleich sofort ab, ob mit oder ohne dich ist mir herzlich egal. Dann werde ich einfach einen der Jungen fragen, mit denen du dich geprügelt hast, und die werden auf keinen Fall ablehnen, das garantiere ich dir!«
Javet knirschte mit den Zähnen. Ich habe ja noch meinen Dolch, machte er sich Mut. Und er meinte, er würde sofort aufbrechen. Wenn er ein berühmter Barde ist, wird er wohl mindestens mit einem Pferd, vielleicht sogar mit einem Wagen, reisen. Ich werde Domador und Sera sofort abgehängt haben. »Wie lange werde ich denn Euer Leibwächter sein müssen?«, fragte er.
»So lange wie ich dich brauche, aber das wird nicht lange sein. Nur bis zur nächsten Stadt«, erklärte Kuimba. »Heißt das, du nimmst die Stelle an?«
»Ja«, bestätigte Javet. Ich werde Domador und Sera loswerden, einige Tage mit Nichtstun verbringen, dabei Geld verdienen und nach dieser Stadt dann weiter in Richtung Westland reisen.
»Wunderbar!«, rief Kuimba aus. »Dann brechen wir sofort auf! Komm mit!«
Javet wurde von dem Barden zu einem Wagen gezogen, der am Rand des Platzes stand.
»Wir sind schon etwas spät dran«, sagte Kuimba. »Ich werde in Vito erwartet und soll dort eine kleine Vorstellung geben.«
Vito... Javet rief sich die Karte ins Gedächtnis. Wenn er sich richtig erinnerte, lag diese Stadt ein Stück weiter westlich als Makali. Wenigstens reisen wir in die richtige Richtung. Und sogar in einem Wagen. Die zwei eingespannten Pferde wirkten im ersten Moment etwas ungewohnt, weil er immer noch die gespaltenen Köpfe der Höllenrösser vor sich hatte, aber der Anblick der schönen und nicht entstellten Tiere beruhigte ihn ungemein.
Kuimba stieg hinten in den Wagen ein und Javet folgte ihm, wobei er noch einen letzten Blick nach draußen warf. Von Domador und Sera immer noch keine Spur. Sind sie nicht schon viel zu lange weg? Was, wenn man sie wegen ihrer Hautfarbe auch schon aus dem Dorf geschmissen oder sogar getötet hat? Wobei... Eine Person, die Domador töten kann, muss sich erst noch finden. Mit etwas Mühe schaffte er es, sein schlechtes Gewissen zu verbannen, und setzte sich auf eine der Bänke in dem Wagen. Es ist sowieso schon zu spät.
Sobald Kuimba gegen die Wand klopfte, setzte das Gefährt sich in Bewegung, wurde von dem Mann gelenkt, den er zuvor draußen bei den Pferden gesehen hatte. Das Innere wurde zusätzlich zu den Sonnenstrahlen, die durch ein Fenster auf dem Dach fielen, von einer tragbaren Laterne erhellt. Sie wurde von einem Mädchen gehalten, das etwa in Javets Alter war. Ihre Haut war hell. Javet riss überrascht die Augen auf.
»Ich weiß, ich weiß«, warf Kuimba ein. »Ein Bleichgesicht bei einem berühmten Sänger und so weiter. Aber keine Sorge, sie ist nur meine Sklavin. Ich habe sie einmal bei einem Trinkspiel gewonnen und sie ist zu hübsch, um sie einfach irgendwo auszusetzen. Ihre Anwesenheit sollte für dich jedoch kein Problem sein, wenn ich den Grund für deine Prügelei von vorhin richtig verstanden habe.«
»Ja«, sagte Javet tonlos und konnte den Blick nicht von dem Mädchen abwenden. Er hatte bisher nur wenig andere hellhäutige Menschen außer Marielle gesehen und die meisten von ihnen waren strahlenkrank gewesen. Dieses Mädchen aber war vollkommen gesund und in der Tat ungewöhnlich hübsch. Ganz anders als die adligen Mädchen. Ihre Haare hatten die Farbe der untergehenden Sonne, eine Mischung aus gelb und orange. Ihre Augen waren strahlend blau. Als sie ihn anblickte, war es, als würde sie direkt in sein Herz sehen.
»Sie scheint dir zu gefallen«, bemerkte Kuimba. »Sag ›Hallo‹ zu meinem Leibwächter, Annie.«
»Hallo«, sagte das Mädchen und schlug die Augen nieder.
Javet lächelte sie freundlich an, aber sie sah es gar nicht.
»Annie redet nicht viel«, erklärte der Barde. »Aber sie kann gut kochen und Wäsche waschen. Das reicht mir.« Er lehnte sich an die Wand des Wagens, während das Gefährt über den Boden ruckelte. Mittlerweile mussten sie Makali schon verlassen haben. »Ich kann ja mal einige meiner Lieder vorsingen, damit uns nicht langweilig ist«, schlug Kuimba vor und ergriff ein seltsam geformtes Stück Holz, auf das mehrere Drähte gespannt waren. Als er mit den Fingern darüber strich, erklangen verschiedene Töne, die sich veränderten, wenn er die linke Hand am langen, schmalen Teil des Gegenstands entlang bewegte.
»Was ist das?«, fragte Javet neugierig. Es muss bestimmt viel wert sein. Immerhin besteht es aus Holz.
»Eine Gitarre«, sagte Kuimba und drehte nacheinander an irgendwelchen Metallstücken. »Ich muss sie kurz stimmen. Dann kann es losgehen.«
Während der Barde an seiner Gitarre herum fummelte, schaute Javet wieder zu dem Mädchen, Annie. Sie ist wirklich hübsch, dachte er. Wenn die Hellhäutigen mehr Rechte hätten, könnte sie bestimmt als Prinzessin oder hohe Adlige durchgehen. Er dachte an Majani und Mkorofi, denen er zuvor gegeben hatte, was sie verdienten. Für Annie hätte ich sogar noch mehr verprügelt. Sie sieht so zerbrechlich aus.
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Logischerweise wurde dieses Kapitel dann extrem überarbeitet und erweitert. Es ist fast doppelt so lang wie vorher XD
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