1. Kapitel

Diejenigen, die gehen, fühlen nicht den Schmerz des Abschieds. Der Zurückbleibende leidet.

Henry Wadsworth Longfellow

Javet starrte zur Türöffnung, in der nun die Silhouette von Mgonjwa zu sehen war. Er erkannte seinen Stiefvater sofort an den grotesk aus seinem Brustkorb wachsenden Rippen, für die er in jedes seiner Oberteile Löcher geschnitten hatte. Einige dieser Löcher hatte Javet sogar selbst machen müssen und wenn sie nicht an der richtigen Stelle waren, hatte es Schläge mit dem Gürtel gegeben. Die meisten der Schläge hatte Marielle für ihn abgefangen, aber nun war sie fort.

»Warum hast du nicht aufgemacht, du nutzloser Bastard?«, knurrte Mgonjwa Javet an und trat ohne eine Antwort abzuwarten ein. Er bewegte die Fackel in seiner Hand in einem Halbkreis um sich herum, damit er das Innere der Hütte einsehen konnte. Das flackernde Feuer erhellte endlich auch das Bett, in dem Marielle lag. Das Gesicht eingefallen, die Augen geschlossen, aber trotzdem waren ihre Züge seltsam friedlich. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren blassen Lippen.

»Ist die Schlampe jetzt doch gestorben?« Die gelb unterlaufenen Augen von Mgonjwa richteten sich mit einem wütenden Blitzen auf Javet. »Geschieht ihr recht.«

»Wie kannst du so etwas sagen!«, schrie Javet ihn an. Er spürte bittere Tränen in sich aufsteigen, ballte aber die Fäuste und atmete tief durch, damit der Strahlenkranke es nicht bemerkte. Wenn ich jetzt weine, ist meine Sicht verschwommen und ich werde nichts tun können, wenn er... wenn er... »Warum bist du hier?« Seine Stimme zitterte trotzdem.

»Um euch aus dieser Hütte zu schmeißen«, antwortete Mgonjwa barsch und kratzte am Hautausschlag an seinem Hals. Er war in den fünf Jahren, seit Mgonjwas Vater Ubinafsi Marielle und Javet aus Zamani vertrieben hatte, angewachsen. Er stirbt, dachte Javet. Eigentlich müsste ihn das freuen, aber er spürte nur eine gewisse Hilflosigkeit. Vielleicht habe ich mich auch bereits mit der Strahlenkrankheit angesteckt. Zwar hatte Marielle ihm nicht erlaubt, sie an der Haut zu berühren, aber natürlich waren Ubinafsi und Mgonjwa nie davor zurückgeschreckt. Wie viele Male hatten sie ihn geschlagen oder ihn am Arm gepackt und aus der Hütte gezerrt, damit er draußen schlief?

»Uns rausschmeißen? Warum?« Javet stellte sich seinem Stiefvater in den Weg, der Anstalten machte, zu Marielle zu gehen. Ich werde nicht zulassen, dass er sie auch nur ein weiteres Mal anfasst! Er hat schon genug Unheil angerichtet!

»Ein paar alte Freunde sind aus dem Ostland zurückgekehrt«, erklärte Mgonjwa. »Geschlechtslose. Jetzt, da König Miro offenbar tot ist, kommen sie wieder ins Grenzland und wollen ihr altes Zuhause zurück. Dieses Haus gehört einem der Geschlechtslosen. Ihr müsst hier raus, bevor sie in Zamani auftauchen und uns Schwierigkeiten machen. Ich war ohnehin schon gütig genug, dass ich euch diese Hütte überlassen habe. Ich hätte euch auch einfach töten lassen können. So wie ihr meinen Mashimo getötet habt.«

Javet presste die Lippen zusammen, um nichts Unbedachtes zu erwidern. Er hätte uns töten können, aber er hat es nicht getan, weil er uns leiden sehen wollte. Fünf Jahre lang hatten er und Marielle in diesem abgelegenen Haus gelebt, weil der Besitzer weg war. Und ausgerechnet jetzt sollte dieses Geschlechtslose zurückkommen? Denkt er wirklich, ich würde das glauben? Er möchte doch nur, dass ich auch endlich die Strahlenkrankheit bekomme, damit er mich noch ein bisschen leiden sehen kann, bevor er selbst stirbt. Er hat weder mir noch Marielle den Tod seines Sohnes vergeben. Mashimo... Der Junge war zwar nicht der schlauste gewesen, aber ein guter Spielkamerad. Wenn ich damals nur nicht darauf bestanden hätte, nach Ugonjwa zu gehen...

»Gehst du freiwillig?«, fragte Mgonjwa mit einem drohenden Unterton und hob die Fackel hoch, sodass die Flammen über die steinerne Decke leckten. »Oder soll ich nachhelfen?«

»Ich gehe nicht ohne Marielle!«, presste Javet hervor.

»Du willst diese Schlampe begraben? Sie ist nicht mal deine richtige Mutter!«

»Und du bist nicht mein Vater!« Er spürte, wie eine ungeheure Wut in ihm aufkochte, doch er riss sich zusammen.

Zu spät bemerkte er das hinterhältige Funkeln in Mgonjwas Augen. »Tatsache«, sagte er so ruhig, dass dem Jungen ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. »Aber ich bin ihr Ehemann. Damit liegt die Entscheidung, wie sie bestattet wird, allein bei mir. Und wenn es nach mir geht, soll sie brennen!« Mit einer blitzschnellen Handbewegung warf der Strahlenkranke die Fackel auf das Bett. Der Stoff der Decke und des Lakens gingen sofort in Flammen auf.

»Nein!« Javet stürzte auf das Feuer zu, wollte Marielle am Unterarm ergreifen und aus dem Bett ziehen, doch die Hitze ließ ihn zurückzucken. Verzweifelt raufte er sich die Haare, sah weg, als die Flammen auf den Körper der Frau übergriffen, die ihm sein ganzes Leben lang wie eine Mutter gewesen war. Hinter ihm erklang das grausame Lachen seines Stiefvaters.

»Was ist so schlimm daran, zu verbrennen?«, übertönte Mgonjwas Stimme das Knistern des Feuers. »Sie war doch schon tot. Und jetzt raus hier!«

Javet fuhr wütend zu dem Mann herum. Für einen kurzen Augenblick verspürte er den Drang, nach draußen zu stürmen und die Tür von außen zuzuschließen, sodass der Strahlenkranke zusammen mit Marielle verbrannte. Doch er unterdrückte dieses Verlangen und verließ die Hütte stockenden Schrittes. Mgonjwa folgte ihm, kratzte sich wieder am Hautausschlag.

»Viel Spaß alleine im Grenzland!«, lachte der Strahlenkranke und wandte sich zum Gehen. Er würde in sein Dorf zurückkehren, nach Zamani, wo sein mittlerweile schon halb toter Vater auf ihn warten würde. Javet erinnerte sich noch genau an die ekelhafte Spucke, die stetig aus dem Mund seines zweiten Kopfes tropfte.

Aber wo werde ich hingehen?, dachte Javet wütend und zugleich so traurig, dass er fürchtete, sein Herz würde gleich zerspringen. Das Feuer in der Hütte war bereits durch die Fenster gebrochen und sprühte Funken auf die Erde drumherum. Nur dass es dort nichts gab, was brennen konnte. Nur rotbraunen Staub, auf dem keine einzige Pflanze wuchs. Ein einziges Mal hatte Javet versucht, etwas Gras wachsen zu lassen, aber er hatte schnell bemerkt, dass selbst diese kleinen Samen viel zu viel des Trinkwassers verbrauchten. Gedankenverloren griff er sich an den Wasserschlauch. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, immer einen bei sich zu haben. Jeder im Grenzland tat das, denn die Wasserhändler aus dem Süden kam nur selten hierhin. Wenn überhaupt.

Er blickte zum dunklen Nachthimmel. Die Sterne hatten ihn schon immer fasziniert, seit er denken konnte. Auch jetzt funkelten sie hell im finsteren Schwarz. So unschuldig. Als wüssten sie nicht, wer unter ihrer Wache gestorben war. Als wüssten sie nicht, wessen Leiche gerade in dieser Hütte verbrannte.

»Marielle«, flüsterte Javet leise, um ihren Namen noch einmal zu hören. Sie war eine enge Vertraute seines Vaters gewesen. Eine Magierin im Dienste König Witans und seiner Frau Sybille. Marielle hatte ihm erzählt, dass an dem Tag, an dem Miro Witan ermordet hatte, um an Stelle seines Bruders König zu werden, Sybille zwei weitere Kinder geboren hatte, Zwillinge. Der Junge war zusammen mit seiner Mutter sofort getötet worden, aber das Mädchen... Vala. Miro hatte sie am Leben gelassen. Wahrscheinlich, um das Volk nicht gegen sich aufzubringen. Danach hatte er sich anscheinend doch anders entschieden. Wie sonst sollte Vala ins Grenzland gekommen sein? Marielle hatte ihr einen Teil ihrer Kraft gegeben, doch weil Vala keine Magierin war, war sie wahrscheinlich bereits tot. Und Miro? Stimmt es, dass mein Onkel tot ist? Hat Vala es geschafft, bei ihm aufzutauchen und ihn zu töten? Wahrscheinlich ist das das einzig Wahre, was Mgonjwa heute gesagt hat.

Javet schloss die Augen und die Sterne verschwanden aus seiner Sicht. »Ich sage dir nun, dass die Zeit gekommen ist«, hatte Marielle ihm gesagt, bevor sie gestorben war. Sie hat Vala einen Teil ihrer Gabe gegeben, damit sie Miro töten konnte. Damit der Thron des Ostlands leer ist und ich ihn endlich einfordern kann. Aber wie? Wie soll ich das machen? Es gibt niemanden, der auf meiner Seite ist. Ich habe Marielle verloren, ich habe kein Zuhause mehr, ich habe keine Verbündeten. Er strich sich mit der Hand durch die schwarzen Haare. Will ich den Thron überhaupt? Aber habe ich nicht auch eine Verantwortung für mein Volk? Was, wenn wieder ein Tyrann wie Miro König wird? Das darf ich nicht zulassen. Und ich darf auch nicht zulassen, dass Marielle umsonst gestorben ist.

Er öffnete seine Augen wieder und wartete eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das Feuer in der Hütte war bereits niedergebrannt, weil es kein Holz hatte finden können. Holz war zu kostbar, um daraus alltägliche Gegenstände herzustellen, besonders im Grenzland. Entschlossen ballte er die Fäuste und runzelte die Stirn. Du bist nicht umsonst gestorben, Marielle, versprach er. Ich werde mir den Thron holen. So wie du es mir immer gesagt hast.

Javet überlegte kurz, ob er nach Zamani zurückkehren und allen dort seine wahre Herkunft offenbaren und ihre Treue fordern sollte, entschied sich aber schnell dagegen. Sie kennen mich schon seit ich zu ihnen gekommen bin. Sie werden denken, ich hätte mir alles ausgedacht. Außerdem brauche ich solche Verbündeten wie Mgonjwa und Ubinafsi nicht. Strahlenkranke, die kaum mehr ein oder zwei weitere Jahre zu leben haben. Soll ich also einfach ins Ostland zurückkehren? Ihm schauderte bei diesem Gedanken. Die Idee war naheliegend, aber irgendwas in ihm sträubte sich dagegen. Ich bin fast mein ganzes Leben lang im Grenzland gewesen. Was, wenn ich runter gehe und die Leute nichts mit mir zu tun haben wollen, weil ich aus dem Grenzland komme? Schließlich könnte ich strahlenkrank sein. Der Großteil denkt bestimmt, dass die Strahlenkranken grausame Wesen ohne Gewissen sind. Vielleicht stimmt das auch. Für einige jedenfalls.

Er wusste nicht, wie lange er reglos da gestanden hatte, bis er sich endlich in Bewegung setzte. Seine Beine trugen ihn wie von allein in die entgegengesetzte Richtung, weiter hinein ins Grenzland und auf das Totenland zu. Viele Male hatte er sich gefragt, wie das Leben vor dem Großen Krieg gewesen sein musste. Oben, auf den Kontinenten, bevor alle Meere und Ozeane verdampft waren und die Überlebenden sich auf den Grund des Pazifiks geflüchtet hatten. Er hatte sich gefragt, wie die riesigen Städte ausgesehen hatten, wo so viele Menschen gelebt hatten, dass sie sich gegenseitig kaum gekannt hatten, obwohl sie dicht beieinander gewohnt hatten. Marielle hatte ihm viel darüber erzählt. Alles, was sie von einer alten Frau in Burg Fedha erfahren hatte. Einige Sachen waren so unglaublich, dass er sie sich nicht mal vorstellen konnte.

Tief in Gedanken versunken bemerkte Javet gar nicht, dass er am Rand von Ugonjwa angekommen war. Die giftigen Quellen. Hier war Mashimo gestorben. Marielle hatte vielleicht gedacht, er hätte es nicht mitbekommen, aber er hatte es sehr wohl bemerkt. Wie sie Mashimo geopfert hatte, ihren Sohn mit Mgonjwa, um ihn, Javet, zu retten. Ich hätte ihn damals nicht dazu überreden sollen, hierher zu gehen, dachte er wieder. Das schlechte Gewissen verfolgte ihn beinahe jeden Tag. Die Luft an diesem Ort stank fürchterlich, war ein Dampf, der einen schwindelig werden ließ. Aus der Dunkelheit hörte der Junge das Platzen der Luftblasen, die an die Oberfläche der Schlammlöcher stiegen. Ich sollte nicht hier sein.

Doch er konnte sich nicht bewegen, war wie festgewachsen. Und dann kam die ganze Verzweiflung über ihn. Mit einem Schrei ließ er sich auf die Knie fallen, vergrub die Hände in der hier leicht feuchten Erde und blinzelte regelmäßig die Tränen weg, die in ihm hoch kamen. Jeder Atemzug war eine Qual. Er wusste, dass er hier weg musste, aber er konnte nicht. Es gab zu viele Erinnerungen an diesem Ort. Schließlich drehte er sich auf den Rücken und schaute zu den Sternen hoch. Marielle hatte ihm erzählt, dass die Alten an einen Gott geglaubt hatten, der die guten Menschen nach ihrem Tod in den Himmel schickte. Zwar war dieser Gott im Großen Krieg gestorben, aber trotzdem klammerte Javet sich an die Vorstellung, dass Marielle nun da oben war und auf ihn runter blickte.

Vielleicht bist du einer der Sterne, dachte er und schloss die Augen. Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn es war schon hell, als er vom Hufschlag mehrerer Pferde geweckt wurde.

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