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„ParaSyc."
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was hatte ein Ordner mit der Aufschrift „ParaSyc" auf dem Computer von Androsch zu tun?
Mein Stiefvater sollte heute wieder nach Hause kommen. Um ihm eine Freude zu machen, wollte ich seinen Laptop wieder auf den neusten Stand bringen, so als Begrüßungsgeschenk. Die Ordner, die alles Medizinische enthielten, ließ ich dabei ausfallen, immerhin gab es ja auch sowas wie Berufsgeheimnis. Menschen konnten Geheimnisse für sich behalten, ihre Computer eher weniger.
Allerdings war ich dann auf diesen einen Ordner gestoßen. ParaSyc. Es war diese Firma, die die geschmacksneutralisierenden Pillen herstellte, die Yuuki so dringend hatte wollen. Zögernd führte ich den Cursor zu dem gelben Hefter, der eine Datei darstellte. Sollte ich wirklich draufklicken?
„Sie ist ein Kind"- „Versuche mit allen Mitteln, sie zu fangen und wieder zurückzubringen. Aber lebendig, nicht tot."
Entschlossen klickte ich drauf. Was oder eher wen Androsch gemeint hatte, würde ich jetzt erfahren. Hoffte ich jedenfalls.
Vor mir öffneten sich jede Menge neue kleine Ordner. Wahllos scrollte ich runter und klickte auf eins, wo „Nine" drauf stand. Was hatte eine Nummer bitte schön mit all den anderen Namen zu tun, die sich hier auflisteten?
Es öffnete sich ein Worddokument. Ganz oben stand „Caroline M. Bekannt als Nine. Nummer 9."
Darunter jede Menge Daten zu dieser Person. Auf einem Foto blickte mir eine erwachsene Frau entgegen, sie war... 35 geworden, ehe sie.. Ich schluckte. Das konnte nicht sein. Androsch hatte bestimmt einen Fehler gemacht, als er schrieb, sie wäre aufgegessen worden.
Gott, wie grausam. Ich schloss das Dokument und scrollte weiter. Caira F. Nummer 7. 19. Überdosis.
Felizity L. 28. Sterbejahr. Nummer 12.
Sterbejahr? Was sollte das denn für eine Todesursache sein?
Ich schloss die drei Dokumente wieder und scrollte weiter nach unten. Unter dem letzten erkannte ich einen Ordner mit der Aufschrift „Tommy R." Mein Atem stockte. Langsam klickte ich drauf. Das Dokument öffnete sich, das Bild eines noch sehr jungen Tommys sah mir entgegen. Auf dem Bild lachte er, seine braunen Augen funkelten vor lauter Lebensfreude. So sah er vollkommen anders aus. Gesund, nicht todeskrank. Wohlernährt. Nicht mager. Was war mit ihm passiert, und vorallem: Was hatte er auf dem Laptop meines Stiefvaters verloren?
Ich las mir alle Daten zu ihm durch. Tommy R. Nummer 4. 8 Jahre alt. Größe: 1,52 m. Blutgruppe A. Status: wieder in Gewahrsam.
Ich ließ das Dokument offen und scrollte in Nebentab weiter. Und dann, ganz unten: Yuuki.
Scheiße. Ich hielt den Atem an, als ich draufklickte. Yuuki zu sehen, versetzte mir einen kleinen Stich. Schon damals sah sie ernst in die Kamera. Ich konzentrierte mich auf den Text: Yuuki K. 17. Größe: 1, 69 m. Nummer 1. Status: Im Sterbejahr.
Das saß. Wie hatte der Kollege meines Vaters gesagt? Patient Nr. 1. Jackpot geknackt, Siles. Kannst stolz auf dich sein. Sie hatten also wirklich Yuuki gemeint.
Was bedeutete der Status? Im Sterbejahr?
Ein unwohles Gefühl machte sich in mir breit. Es fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand mein Herz umschließen und zudrücken. Was auch immer dieser Status hieß, es war nichts gutes.
Ich schloss die Ordner mit den Patienten und klickte auf einen weiteren. „Mitglieder"
Ganz oben blickte mir ein Typ mit Dreitagebart entgegen. Malcolm J. In einem kleinen Informationstext darunter stand alles Mögliche über sein Leben, darunter auch, dass er eine Organisation gründete, die ParaSyc getauft wurde. Ah, sehr interessant. Blitzschnell überflog ich den weiteren Text. Er war wohl son Wohltäter gewesen, der arme Kinder auf der Straße auflas oder großzügige Spenden leistete. Er konnte es sich leisten, er war Milliardär und von Beruf Forscher in der Anatomie des Menschen. Er hatte Schönheitsoperationen durchgeführt.
Hammer. Ich scrollte an weiteren Fotos von mir unbekannten Männern und Frauen weiter, bis ich auf Braunschweidt traf. Harry B. Verheiratet, zwei Kinder. Mitglied seit 1990.
Die Mitglieder waren nach ihrem Eintreten in die Organisation angeordnet. Etwas weiter unten im Jahr 2008 fand ich schließlich Maik A. Androsch war also tatsächlich Mitglied bei ParaSyc? Was machte man da überhaupt?
Ich öffnete Google und ging nochmal auf deren Website, konnte aber nichts Informatives finden. Wie konnte das sein? Wieder bei den Dateien von Androsch klickte ich auf weitere Worddokumente. Vor mir öffneten sich zum einen Baupläne von Krankenhäusern. Darunter war das eine, wo Androsch gearbeitet, und Yuuki eingeliefert worden war. Erstaunt zoomte ich näher heran. Es hatte noch ein ganzes Stockwerk unter dem Erdgeschoss gegeben. Anscheinend konnte man mit dem Fahrstuhl wieder ins Erdgeschoss fahren. Was sollte das bringen?
Auf dem nächsten Dokument fand ich weitere Pläne, darunter zum Teil auch riesige Lagerhallen. In kleiner Schrift war unten „Quarantänen" geschrieben. Ich verstand gar nichts mehr. Was hatte ParaSyc von Quarantänen? Die wurden doch meist nur genutzt, wenn ein Krankheit sich nicht ausbreiten durfte und die davon Betroffenen weggesperrt werden mussten, von den anderen entfernt. Mir ging ein Licht auf. Klar, eine Krankheit, sowie Tommy und Yuuki sie hatten. Patient 4 und 1. Aber was war an einer Geschmacksverschiebung so schlimm?
Dies beantwortete mir das letzte Dokument. Dort hatte Androsch alle wichtigen Informationen aufgelistet. Warum nicht gleich so?
Es war auf dem ersten Blick ganz schön viel, aber als ich mich hineinlas, konnte ich nicht mehr aufhören. Es war auch zu scheußlich.
Die Geschmacksverschiebung war durch eine ungeklärte Ursache entstanden, allerdings schien sie nur bei bestimmten Menschen aufzutreten, die eine schlechte Psyche hatten. Besonders bei Verbrechern kam sie vor, aber gelegentlich auch bei Kindern oder Erwachsenen, die eine schlimme Erfahrung hinter sich hatten. Zunächst schien sie nicht wirklich schlimm zu sein, abgesehen davon, dass die Opfer sich nicht mehr richtig ernähren konnten, ohne ihren Mageninhalt zu verabschieden. Aber dann gab es diesen einen Vorfall. Einer der Patienten hatte seinen Doc angegriffen und zerfleischt. Es blieb nicht nur bei diesem einem, auch in den weiteren Krankenhäusern fingen diese Menschen an, sich gegenseitig aufzuessen. Es war also nicht nur, dass die Kinder und Erwachsenen kein normales Essen mehr zu sich nehmen konnten, nein, sie bekamen Hunger auf Menschenfleisch. Ab da wurden diese Menschen auf einem drittem Stockwerk aufbewahrt. Der unter dem Erdgeschoss, dem Keller.
ParaSyc hatte sich also zusammengeschlossen, um ein Heilmittel dagegen zu finden. So begannen die Menschenversuche. Die Forscher kreierten einen Stoff, führten diese dem Opfer zu und sahen zu, was passierte. Als die ersten Heilmittel anschlugen, allerdings auf negative Weise, wurden diese Menschen als Lebensbedrohung eingestuft und in Quarantänen gesteckt, sodass sie sich selbst aufaßen.
Oh. Mein. Gott. Das war absolut schrecklich. Ich hatte mit Yuuki in einem Zimmer geschlafen. Sie hätte mich töten können. Deswegen brauchte sie wohl auch diese Pillen. Xenol. Langsam fing ich an, zu verstehen, weshalb Androsch damals, als ich auf Yuuki zum ersten Mal traf so furchtsam reagiert hatte. Ich konnte sogar verstehen, weshalb Yuuki aus dem Krankenhaus geflohen war. So als Versuchskaninchen zu dienen, war bestimmt nicht ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Okay, Fakt. Androsch machte bei Menschenversuchen mit, das allerdings zu einem guten Zweck?
„Siles?" Es klopfte kurz und meine Mutter kam in mein Zimmer. Als sie mich am Laptop sah, kam sie stirnrunzelnd näher. „Was machst du da?"
„Den Laptop auf den neusten Stand bringen.", antwortete ich kurzbündig. Ich war immer noch stinksauer auf sie.
„Hör mal..." Sie zog sich einen Hocker ran, setzte sich drauf und sah mich zerknirscht an. „Das mit deiner Freundin tut mir leid, okay? Aber sieh es doch ein. Sie war am ganzen Körper verletzt, die Wunden könnten sich entzündet haben. Außerdem schien sie dir Lügen aufgetischt zu haben. Ich hab bei der Arbeit mal bei meinen Arztkollegen nachgefragt, und anscheinend scheinen die Eltern von Yuuki gestorben zu sein. Sie hatte auch keinen Bruder."
Ich schwieg. „Das rechtfertigt dein Handeln noch lange nicht.", sagte ich schlussendlich.
„Stimmt, ich hätte sie vielleicht ein wenig sanfter abholen lassen können..." Sie wendete den Kopf und erstarrte, als sie die Aufschrift „ParaSyc" entdeckte. Ich beobachte sie genauestens, konnte das Erkennen in ihren Augen sehen. Sie musste nicht mal etwas sagen, ich konnte es mir auch schon denken.
„Du kennst ParaSyc.", stellte ich leise fest. „Du weißt, dass sie Menschenversuche durchführen, oder?"
„Nicht nur. Ich bin selbst Mitglied.", gab sie zu.
„Und wann hättet ihr mir das bitte gesagt?" Verletzt stand ich auf. „Du beschwerst dich darüber, dass ich kaum von mir erzähle, aber du selbst?"
„Es war noch nicht der richtige Augenblick."
Ich schnaubte und stand auf. Wollte genügend Abstand zwischen ihr und mir bringen. „Mama. Das sind immernoch Menschen."
Sie lachte. „Das nennst du Menschen? Das sind Kannibalen. Zombies. Nenn sie, wie du willst." Sie stand ebenfalls auf und wischte sich ihre Hände an ihrem Rock ab. „Siles, du bist noch nicht alt genug, um das zu verstehen..."
„Ich bin siebzehn.", unterbrach ich sie, „Und ich verstehe sehr wohl, dass ihr Menschen unrecht tut. Hast du mal den kleinen Jungen gesehen? Tommy? Er ist acht, Mama. Und jetzt schon voller schädlicher Stoffe, die ihr ihm zugefügt habt."
„Stimmt, weil er sonst eine Gefahr für uns wäre. Diese Kannibalen haben immense Kräfte, wenn sie Hunger bekommen."
„Und du willst das wissen."
Meine Mutter kam näher und packte mich am Arm. „Siles, achte auf deinen Tonfall."
Ich riss mich von ihr los und sah sie wütend an. „Nein, Mama. Hast du Yuuki gesehen? Sie hat physische Schäden davongetragen. Wegen euch."
„Siles!" Die Augen meiner Mutter sahen mich bedrohlich an. „Sie bekommen nur das, was sie verdienen. Nein, eigentlich sollten sie sogar dankbar dafür sein. Sie erweisen Ihresgleichen einen Dienst. Sie haben noch die Möglichkeit zu überleben. Hättest du etwa lieber gewollt, dass Yuuki Kyouri in eine dieser Quarantänen gesteckt wird?"
Ich hielt inne. Meine Mutter sah erschrocken drein.
„Du kanntest sie schon vorher, oder?" Meine Wut erreichte jetzt unglaubliche Maße, ich hatte Mühe, nicht rumzubrüllen. „Du wusstest schon, bevor du sie dir ihren Namen nannte, dass sie es war. Der ganze Scheiß mit deinen Arztkollegen war vollkommener Bullshit. Du hast gelogen."
„Und was wäre wenn? Okay, Siles, es ist mir egal, was du von der Sache hältst. Ich lasse es nicht zu, dass so ein Monster, wie sie es ist, mit meinem Sohn in einem Zimmer lebt. Oder gar in einem Haus!"
„Mama, Yuuki ist kein Monster! Sie hat einen anderen Geschmacksinn, okay. Aber sie ist immer noch ein Mensch, ein Mädchen mit Gefühlen und Ängsten."
Meine Mutter sah mich finster an. „Ich frage mich, ob du noch genauso denken würdest, wenn sie dir deinen Arm abbeißt."
Unwillkürlich legte ich eine Hand auf meinen Arm. Bei der Vorstellung bekam ich Angst, aber dann kam das Bild von Yuuki wieder in mir hoch, wie sie Tommy liebevoll beim Schlafen zusah. Sie würde doch niemals so etwas jemanden antun?
„Glaub mir, Siles. Bei den anderen im Krankenhaus ist sie besser aufgehoben." Meine Mutter sah mich noch einmal an und verließ mein Zimmer. „In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Maik sollte auch bald kommen. Sei bis dahin etwas besser gelaunt, ja?" Und damit war sie verschwunden und ließ mich mit meinen wiederstreitenden Gefühlen allein.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken und legte die Hände auf mein Gesicht. Das war alles einfach zu krass.
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