14
Fehlanzeige. Kaum war ich Zuhause, erwartete meine Mutter mich. Sie sah sehr wütend aus. Sehr, sehr, sehr wütend. In der Hand hielt sie das zerrissene Nachthemd.
„Hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, was du dir dabei gedacht hast?!", schimpfte sie los. „Ein totkrankes Kind in deinem Zimmer aufzubewahren, ohne mir davon was zu sagen?"
„Sorry." Ich fuhr mir durch die blonden Haare und sah überall hin, nur nicht in die strafenden Augen meiner Mutter. „Und das...!" Sie hielt das Nachthemd hoch und wedelte mir damit vor der Nase rum. „... ist ja wohl das schlimmste. Wem gehört das? Hast du eine Freundin, von der du mir nichts gesagt hast?"
Ich runzelte die Stirn. Sie hatte Tommy gefunden, aber Yuuki nicht? Langsam nahm ich ihr das Nachthemd ab. „Und was wäre daran bitte so schlimm?"
Sie schüttelte den Kopf und lief in die Küche. „Also hast du eine? Wann hättest du mir das gesagt? Siles, ich bin deine Mutter. Weißt du, wie ich mich fühle, dass du mir nichts von dir erzählst? Du hockst den halben Tag nur in deinem Zimmer, an deinem Computer." Sie blickte mich an, mit Tränen in den Augen. „Du bist genauso wie dein Vater."
Ich blickte sie an, als hätte sie mich geschlagen. Mein Vater, mein richtiger Vater, hatte uns wegen seiner neuen Flamme verlassen, da war ich zehn gewesen. Er hatte sich bereits ein ganzes Jahr mit ihr getroffen, ohne dass wir etwas davon wussten. Sobald er nach Hause gekommen war, hatte er sich in sein Zimmer eingeschlossen und am Computer gesessen. Und dann war er verschwunden und hatte sowohl mich, als auch meine Mutter sitzen gelassen. Sie hatte nie wieder ein einziges Wort über ihn verloren und ausgerechnet heute kam sie auf ihn zu sprechen?
Ein Quietschen ließ uns beide herumfahren. Yuuki stand auf einer Treppenstufe und sah erschrocken zu uns. Dann erblickte sie das Nachthemd in meiner Hand und meine wütende Mutter. „Hallo." Kam es kleinlaut aus ihrer Richtung.
Meine Mutter starrte sie geschockt an. „Du hast mein Kleid an... und ist das der Pullover von Siles? Oh Gott..." Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Langsam tapste Yuuki zu mir und nahm das Nachthemd aus meiner Hand. „Das da ist meins. Und Hi. Ich bin Yuuki. Freut mich, sie kennenzulernen."
Wir starrten sie beide gleichermaßen entgeistert an.
Meine Mutter kniff die Augen zusammen. „Ich kenne dich... warst du nicht die Patientin von Maik?" Der freundliche Gesichtsausdruck von Yuuki war wie weggewischt.
„Ja. Sie haben recht. Er hat mich behandelt." Sie sagte das vollkommen ausdruckslos. „Das mit ihm tut mir Leid. Sitzt er immer noch im Krankenhaus?"
Meine Mutter nickte und ließ den Kopf hängen. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass Yuuki das nur so gesagt hatte und es keinesfalls so meinte. „Er wird wohl noch eine Weile dableiben müssen. Seine Beine sind an mehreren Stellen gebrochen."
Wir schwiegen. Ich blickte zu Yuuki und fragte mich, was sie gegen Androsch hatte.
Sie räusperte sich. „Ich ziehe mich dann mal wieder zurück. Mein kleiner Bruder braucht mich. Ich wollte nochmal danke sagen, dass sie uns hier bei sich aufnehmen, Mrs. Sykes." Damit wandte sie sich um. „Seien Sie Siles nicht böse. Er hat nur das getan, was nötig war."
Meine Mutter stotterte etwas und sah ihr nach. Als Yuuki wieder in meinem Zimmer verschwand, richtete sich der Blick meiner Mutter auf mich. War ja klar, dass die Diskussion noch nicht zu Ende war.
„Siles, ist das deine Freundin?"
„Nein. Ich habe ihr geholfen, mehr nicht. Wir kennen uns durch die Schule." Das Lügen schien mir leichter zu fallen, als ich dachte.
„Und warum ist sie jetzt hier? Hat sie kein Zuhause oder so?"
„Ihre Eltern sind auf einer Reise nach Mallorca. Sie ist siebzehn, deswegen haben sie ihr die Verantwortung übertragen. Aber dann wurde ihr kleiner Bruder schwer krank und Yuuki wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte. Und da ich der Stiefsohn von Androsch bin...."
Diese Lüge war einfach mal total schlecht, und meine Mutter spürte auch, dass ich log. Aber sie schien nicht weiter nachfragen zu wollen, wie ihr Blick zur Uhr zeigte. „Okay, Siles. Ich glaube dir jetzt einfach mal. Ich muss zur Arbeit. Wir klären das später." Ich atmete erleichtert aus und setzte ein Lächeln auf. „Danke."
„Sie wird uns verraten.", sagte Yuuki, als ich zu ihr aufs Zimmer ging. Sie saß wieder vor dem Bett und blickte Tommy an.
„Das weißt du doch gar nicht." Ich lief zu meinem Computer und schaltete ihn an.
„Doch."
„Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?", wechselte ich das Thema.
Es raschelte, als sie aufstand, zu mir trat und sich neben mich auf dem Schreibtisch abstützte. Sie legte ihre Hand auf die Maus und versuchte, den Cursor auf das Internet zu bringen.
„Es hat nicht funktioniert. Siehst du?"
„Ja, weil du die Maus erstmal mit dem Computer verbinden musst.", lachte ich. „Warte.." Ich steckte das Kabel in den Anschluss und wartete einen Augenblick. „Jetzt müsste es gehen." Zögerlich legte ich meine Hand auf ihre. Als sie ihre Hand nicht wegzog, sondern einfach nur abwartete, führte ich den Cursor langsam auf den Browser und klickte drauf.
Dann gab ich in die Suchzeile „Xenol" ein und klickte auf Enter. Sofort öffneten sich mehrere Links. Yuuki sah wie gebannt auf das kleine Bild von farblosen Pillen. „Das sind sie."
„Echt? Gut." Ich setzte mich und klickte auf den Link ganz oben. Es öffnete sich eine Seite mit blauem Hintergrund, in der rechten Ecke ein Schriftzug namens „ParaSyc".
„Hier hast dus." , meinte ich zufrieden. „Dieses Medikament wird in sämtlichen Apotheken verkauft und dient dazu, bestimmte Geschmacksnerven außer Kraft zu setzten." Ich hielt inne. „Wie soll das denn Tommy helfen?"
„Er hat das gleiche wie ich. Wir können normales Essen nicht vertragen, weil das irgendwie was mit unseren Geschmacksnerven oder so zu tun hat. Was weiß ich. Wenn wir also keine Infusionen bekommen, können wir nach einer Woche verhungern. Dieses Medikament aber... es hilft uns, kleine Sachen zu uns zu nehmen, und zwar frisch. Nicht von einer Plastiktüte. Auch wenn wir kaum was schmecken."
„Aha." Ich schwieg und sah sie an. Yuuki war dünn, sehr dünn. Was mich wieder fragen ließ, weshalb sie vom Krankenhaus weggelaufen war und sogar noch Tommy mit sich gerissen hat.
„Yuuki. Willst du mir jetzt endlich mal verraten, was überhaupt passiert ist?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein."
„Du redest nicht gerne oder?"
„Nein."
Ich blickte sie immer noch an. Ihre Augen waren gerötet, sie stand kurz vor dem Weinen, hielt sich aber unter großer Anstrengung zurück.
Einem Impuls heraus zog ich sie an mich und umarmte sie. Sie erstarrte sofort und wehrte sich, aber ich hielt sie fest. Nach einiger Zeit hörte sie auf, mir gegen das Schienbein zu treten und erschlaffte vollkommen. Nun hing sie regelrecht in meinen Armen. Sie atmete schwer.
„Lass mich los, du Perversling."
Ich schwieg. Und wartete.
Irgendwann dann fing ihr Oberkörper zu zucken, sie krallte sich an meinem Tshirt fest und schluchzte.
„Was ist passiert Yuuki?", fragte ich nochmal, etwas sanfter.
Sie schüttelte nur den Kopf und weinte weiter. Ich ließ sie.
Einige Zeit später hatte sie sich wieder gefangen. Peinlich berührt stieß sie mich weg, drehte mir den Rücken zu und beschränkte sich darauf, Tommy zu beobachten.
Ich wollte mich schon damit abfinden, niemals mehr ein Wort von ihr zu hören, als sie plötzlich anfing, leise zu erzählen: „Ich hasse Krankenhäuser. Seit ich diese Geschmacksverschiebung habe, hab ich dort die meiste Zeit verbracht. Zuerst waren die Schwestern ja nett zu mir, aber irgendwann hatten sie mich dann auch vergessen. Der Doc vor Androsch war eklig. Er hat meinen Körper immer so lüstern angeguckt. Zuerst war ich alleine in meinem Zimmer. Es war langweilig, den ganzen Tag im Bett zu liegen, mit all diesen Schläuchen im und am Körper." Sie blickte auf. „Am schlimmsten war ja immer noch die Ungewissheit. Ich glaub, die Docs haben noch nie irgendwie so eine Krankheit erlebt. Was für Idioten. Sie haben jede Menge Sachen an mir ausprobiert. OPs. Wegen meinem Bauch und so. Die Operationen haben Narben hinterlassen."
Ich wagte nicht, mich zu rühren, geschweige denn etwas zu sagen. Ich wollte ihren plötzlichen Redefluss nicht unterbrechen.
„Zu diesem Zeitpunkt warst du gerade da. Ich hatte irgendwann mal genug von meinem faden tristen Zimmer und bin im Krankenhaus rumgelaufen. Da saßt du. Ich glaub, ich stand noch ein bisschen unter den Drogen, die sie mir gegeben haben." Sie gab einen Laut von sich, eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. Ihre Augen blieben an einen Punkt auf dem Boden hängen, sie wurden trüb und Yuuki schien sich in ihren Erinnerungen zu verlieren. „Androsch war der neue Arzt. Er war okay. Bis dahin haben meine Eltern noch irgendwie die Kosten für mich übernommen. Aber irgendwann hatten sie genug, und sie"-
In dem Moment wurde meine Tür aufgerissen. Meine Mutter stand da und zeigte auf Yuuki. „Das ist das Kind. Nehmen Sie sie, sie muss dringend ins Krankenhaus. Ihr kleiner Bruder auch, wenn nicht noch nötiger."
„Mama...?" Verwirrt stand ich auf, als zwei uniformierte Männer in mein Zimmer traten und Yuuki an den Armen packten. Der Gesichtsausdruck von Yuuki wurde für kurze Zeit unglaublich wütend. Ich spürte regelrecht, wie die Luft anfing zu flimmern und vor Energie zu knistern. Es wurde unerträglich heiß. Dann fing sie meinen Blick ein und die Luft wurde wieder um einige Grade kälter. „Ich sagte doch, dass sie uns verraten würde.", sagte sie kalt in Richtung meiner Mutter.
Diese sah sie irritiert an und deutete auf Tommy. „Der Kleine auch. Aber passen Sie auf, er ist schwer krank."
Tommy wachte in diesem Moment auf und fing an vor Angst zu schreien, als er die Männer erblickte, die ihn aus dem Bett hoben.
„Mama! Was soll das?", fragte ich entsetzt.
Sie sah mich überrascht an. „Na, was denn? Ich bringe diese armen Kinder ins Krankenhaus. Sie habens nötig."
„Aber....!"
„Nichts aber, Siles. Diese Kinder brauchen professionelle Hilfe."
Und damit sah ich zu, wie Yuuki und Tommy wie Sträflinge abgeführt wurden. In diesem Moment hasste ich meine Mutter so sehr wie noch nie.
Als Yuuki und Tommy weg waren, schloss ich mich wütend in meinem Zimmer ein und ignorierte das Klopfen meiner Mutter. Sie sollte elendig in ihren Schuldgefühlen verrecken.
Hey :D Liv wieder hier. Diesmal mal mit einem etwas längerem Kapitel, weil ich ausnahmsweise mal wieder am Computer sitze :) Wie findet ihr es? Könnt ihr die Handlung von Siles Mutter nachvollziehen oder hasst ihr sie genauso wie Siles auch? Und wie steht ihr zu Yuuki? (sorry, bin gerade etwas neugierig xD) Ach ja, und nochmal danke für all die Votes und Kommentare!!!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top