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Ranias Sicht

Drei Monate sind nun vergangen seit dem Vorfall in Naomis Wohnung. Nadir, mein Vater und Jack - Shawn hat mir am Tag des Vorfalls seinen Namen verraten und erklärt, dass er sein Cousin ist - sind seitdem in Untersuchungshaft in New York, weil sie dort staatsangehörig sind. Die kanadische und amerikanische Polizei versuchen weiterhin den gesamten Tatbestand aufzudecken, sowie alle möglichen Komplizen von Nadir zu finden, was schwieriger als gedacht ist. Jedoch wurden mehrere ,,Helfer", unter anderem durch meine Aussagen, gefunden. Ich sollte so detailliert wie möglich die einzelnen Vergewaltiger beschreiben, damit die Polizei so schnell wie möglich die Täter suchen kann. Nadir hat letzten Endes immer weiter nachgegeben, sodass nun die meisten Vergewaltiger gefunden wurden.

Alle drei wurden wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung verhaftet. Nadir und Jack müssen zusätzlich Strafen für sexuellen Missbrauch vollziehen, wobei Nadir auch für versuchten Mordes an Naomi absitzen muss. Sie sitzen also für mehrere Jahre hinter Gittern. Bis dahin habe ich mein Studium bereits beendet und kann wieder umziehen.

Die Polizei hat mich noch nicht aufgeklärt, da sie erst einmal den gesamten Tatbestand aufdecken wollten, bevor ich alles erfahre. Außerdem musste ich auf ein psychologisches Gutachten von Karen warten, in dem sie bestätigt, dass ich voraussichtlich keine weiteren Panikattacken erleiden werde - selbst wenn ich erneuert mit meiner Vergangenheit konfrontiert werde. So kommt es, dass ich erst in wenigen Tagen einen Termin im Polizeibüro habe. Schon daran zu denken lässt mein Herz schneller schlagen.

In den letzten Wochen wurde meine Freunde und ich zur Polizei eingeladen, um alle vorhandenen Informationen an sie weiterzugeben. Wir haben natürlich alle kein Blatt vor den Mund genommen und alles, was wir über Nadir und seine Freunde wissen, erzählt.

Seit drei Monaten besuche ich nun zweimal in der Woche die Praxis von Karen. Ich hatte endlich beschlossen, mit ihr über die Geschehnisse mit Nadir und seinen Freunden zu sprechen, um auch diese vernünftig verarbeiten zu können. Es tut mir wirklich gut, das alles endlich hinter mir lassen zu können. Anders als erwartet, haben sie und ihre Familie die Ereignisse gut aufgenommen, auch wenn sie anfangs schockiert waren, dass Jack zu so etwas fähig gewesen ist.
Die Anfangszeit der „neuen" Therapie war schwer, da ich durch die neuen Ereignisse wieder ähnlich traumatisierte wie vor neun Monaten war. Wir haben aber sehr schnell Fortschritte gemacht

Naomi und ich wohnen noch immer in derselben Wohnung. Im Gegensatz zu damals, lebe ich nun offiziell unter dem Namen "Rania Nur". Wenige Tage nach Nadirs Verhaftung habe ich die Scheidungspapiere nach New York gesendet, da unsere Hochzeit dort stattgefunden hat. Einen Monat später waren wir offiziell geschieden. Ich glaube, ich war in meinem gesamten Leben noch nie so glücklich und erleichtert, wie an diesem Tag.

Naomi, Lucas und Sabrina haben mich auch so gut es geht unterstützt, haben aber darauf geachtet, mich nicht wie ein Wrack zu behandeln. Sie wussten, dass es mir dann nur noch schwerer fallen würde, mich von Allem zu erholen.

Gerade sitze ich auf dem Beifahrersitz von Shawns Jeep, während er am Steuer sitzt. Wir sind auf dem Weg zu seinen Eltern, die mittlerweile wieder in ihrem Haus wohnen.

,,Warte kurz." befielt mir Shawn, nachdem wir neben dem Haus seiner Eltern geparkt haben. Er steigt aus, rennt um das Auto herum und öffnet mir die Autotür. Unwillkürlich muss ich grinsen.

,,Ich muss dir doch die Tür aufhalten." betont er und hält mir die Hand hin, die ich dankend annehme. Anschließend küsst er meine Hand. Mein Herz macht einen Sprung und wie so oft in den letzten Wochen, habe ich das Gefühl, als würde die Zeit still stehen. Wenn Shawn an meiner Seite ist, fühlt es sich an, als wäre mein Leben vollständig.

Shawn ist mir in den Tagen nach dem Einbruch kaum von der Seite gewichen, was unfassbar süß von ihm war. Da er weder mich noch Naomi alleine lassen wollte, hat er, obwohl seine Eltern bereits ausgezogen waren, in unserer Wohnung übernachtet. Wir haben extra eine Matratze gekauft, auf der Shawn und ich im Wohnzimmer geschlafen haben.

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Am Abend sitzen Shawn und ich gemeinsam auf der Couch in seiner Wohnung. Mein Kopf liegt aus seiner Schulter während sein Arm um mich gelegt ist. Wir lauschen dem Atem des jeweils Anderen und gehen unseren eigenen Gedanken nach.

,,Rania?" unterbricht Shawn die Stille nach einer Weile.

,,Mhm?" summe ich, da ich zu faul zum Reden bin.

,,Ich möchte dir einige Lieder zeigen, die ich geschrieben habe. Du hast ja immer wieder mitbekommen, wie ich eigene Melodien vor mich hingesummt habe. Ich wollte dir die Lieder erst zeigen, wenn ich mit allen fertig bin, und das bin ich gestern." berichtet er. Stimmt, Shawn hat sehr viele Lieder geschrieben, die ich mir aber nie anhören durfte, weil er mich überraschen wollte.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. ,,Wie viele Lieder hast du denn geschrieben?"

Shawn atmet laut aus. ,,Fünfzehn Stück sind es mindestens."

Ich reiße die Augen auf. ,,Was? Wo hast du die ganzen Ideen her?" frage ich überrascht. Ich wusste, dass Shawn ab und zu Lieder schreibt, aber dass er gleich so viele selber verfasst hat, hätte ich nicht geahnt.

,,Die meisten Lieder handeln von dir." flüstert er und küsst mich auf den Haarscheitel. Mein Herz beginnt zu rasen. Meint er das ernst?

,,Hören wir auf zu reden. Ich würde dir gerne mein Lieblingslied davon vorsingen." Er steht auf und holt die Gitarre von der Wand runter. Dann bittet er mich aufzustehen, was ich mache.

Leise lässt er seine Finger über die Gitarrensaiten gleiten, wodurch wunderschöne Klänge entstehen. Plötzlich legt er seine Hand auf die Saiten und unterbricht damit den Klang.

,,Ich habe eine Idee. Wir müssen dafür raus. Würdest du noch einige Stunden wach bleiben können?"

,,Äh, ich denke schon. Wieso fragst du?" entgegne ich meinem Freund. Anstatt zu antworten, schnappt er sich seine Jacke und wirft mir meine Jacke zu, die ich anziehe. Dann zieht er mich, mit der Gitarre in der anderen Hand, zur Wohnungstür.

Gemeinsam laufen wir zu seinem schwarzen Wagen, der am Straßenrand steht und steigen. ,,Wir fahren jetzt ungefähr eine Stunde. Schlaf am besten, wenn du möchtest." erzählt mein Shawn.

,,Wohin fahren wir?" frage ich, woraufhin Shawn den Kopf schüttelt.

,,Das siehst du, wenn wir da sind. Du musst nur eine Stunde geduldig warten" antwortet er mit hoher Stimme.

,,Hör auf mit mir wie ein kleines Kind zu reden." Ich verschränke die Arme vor der Brust.

,,Okey, Baby." erwidert er und ich weiß nicht, ob er damit einen Kosenamen meint oder auf meine vorherige Aussage anspielt. Vielleicht auch beides.

Ich boxe Shawn gegen die Schulter. Scheinbar macht ihm das nichts aus, denn er lacht nur.

,,Idiot." murmele ich.

Als Antwort drückt er mir einen Kuss auf die Wange. Dann startet er den Motor und fährt los.

Was glaubt ihr, wohin fahren die beiden?

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