Prolog
-Malia, ein Jahr vor Gründung-
Ich fühle mich leer, vollkommen leer. Meine Augen sind starr auf den Monitor gerichtet. Wie schon seit langer Zeit vermeide ich es, den Mann im Krankenbett anzusehen. Zu oft habe ich diesen ausdruckslosen, kalten Blick in den letzten Monaten und Jahren schon gesehen. Wieder zerbricht ein kleiner Teil meines Herzens. Ich weiß nicht, wie oft es noch brechen kann, bis ich selbst zerbreche. Tränen bahnen sich ihren Weg in meine Augen, doch ich wische sie schnell weg. Ich kann mir das jetzt nicht erlauben. Stattdessen hole ich tief Luft und lasse meinen Blick auf die kleine Uhr wandern, die sich in der rechten unteren Ecke des Monitors befindet.
„Todeszeit: vier Uhr elf", sage ich, mit wenig Hoffnung, dass das irgendjemand noch aufschreibt. Solange ich den Tod schriftlich bestätige, ist es jedem vollkommen egal, wann er eingetroffen ist.
Eine der Krankenschwestern schließt die Augen des Soldaten und deckt ihn mit einem dünnen Laken zu. Ich bin froh, dass mir der Anblick seines zerstörten Körpers erspart bleibt. Ich hätte nichts mehr für ihn tun können, außer ihn von seinen Qualen zu befreien, das weiß ich. Doch jedes Mal aufs Neue zittern meine Hände, wenn ich das Giftgemisch in die Adern der Patienten spritze. Als ich mein Studium begonnen hatte, hatte ich mir vorgenommen, Menschen zu retten, nicht ihnen den Tod zu bescheren – egal, ob das Richtige zu tun oder nicht. Zögernd halte ich inne, dann unterschreibe ich endlich die Papiere, damit man ihn wegbringen kann und Platz für einen neuen, zukünftig toten Soldaten schafft. Die Arbeit ist nicht nur körperlich anstrengend, psychisch ist es fast noch schlimmer. Die langen Schichten ohne Pausen tun ihr Übriges.
„Geh nach Hause, deine Schicht ist schon seit Stunden zu Ende", meint eine sanfte Stimme an meiner Seite. Mit einem kurzen Lächeln begrüße ich die junge Frau, dann wische ich mir den Schweiß von der Stirn.
„Ich kann nicht", flüstere ich verzweifelt. Sie nickt verständnisvoll.
„Sie werden auch noch morgen sterben, egal ob du schläfst oder nicht. Aber wenn du schläfst, hat vielleicht einer von ihnen noch eine Chance zu leben." Trocken schlucke ich. Sie hat Recht. Wie kann ein so junges Mädchen so klug sein? Kaum älter als 14 und schafft es schon, eine erwachsene Frau dazu zu bringen, das zu tun, wogegen diese sich seit Stunden weigert.
„Mir ist nicht nach Schlafen", gebe ich zu. Nicht, dass ich wirklich schlafen könnte. Ein Grinsen legt sich auf ihre Lippen.
„Dann reiß jemanden auf und vergesse deine Sorgen eben auf diese Weise", meint sie. Ein Lachen steigt in meiner Kehle auf, ungewohnt in diesen Zeiten.
„Danke, Bel. Vielleicht werde ich das machen. Wir sehen uns später wieder", sage ich sanft und drücke ihr meine Lippen auf die Stirn. Sie lächelt freudlos.
„Ich hoffe es."
Die Eisige Luft strömt mir entgegen, als ich endlich das Krankenhaus hinter mir lasse. Gierig atme ich tief ein, ignoriere dabei den rauchigen Beigeschmack, den die Luft schon seit Jahren in sich trägt, und bleibe für einen Moment einfach stehen. Es hat geschneit, während ich gearbeitet habe. Ich schaue nie nach draußen, so viel Zeit bleibt mir nicht. Zitternd schlinge ich meine Jacke enger um meinen Körper. Zu spät merke ich, dass ich nicht in die richtige Richtung laufe, als hätten meine Beine nie vorgehabt, sich auszuruhen. Kurz denke ich über den Vorschlag nach, den mir das Mädchen gemacht hat. Ich zögere. Es kommt mir falsch vor, so etwas zu tun. Andererseits könnte es das letzte Mal sein, dass ich überhaupt die Gelegenheit dafür habe. Genau genommen, das erste Mal.
Sofort denke ich an ihn. Den Mann, der mir ein gemeinsames Leben versprochen hatte. Den Mann, der mich jeden einzelnen Tag unseres Lebens geliebt hat. Den Mann, der in den Krieg gezogen war und niemals wieder zurückkam. Dennoch muss ich lächeln, als ich an ihn denke. Ich habe so viel um ihn getrauert, obwohl ich wusste, dass er das nicht wollen würde. Er ist der Grund, wieso ich die Toten nicht ansehen kann. Er hat vielleicht Seite an Seite mit ihnen gekämpft. Er hat sie vielleicht in ihren dunkelsten Tagen zum Lachen gebracht, ihnen etwas Normalität geschenkt. So hat er es schließlich bei allen getan, die wir gekannt haben. Er war einfach ein großartiger Mann. Ich sollte sein Leben feiern, so wie er es immer getan hat.
Nur noch wenige Kneipen in der Stadt sind noch geöffnet, was nicht mal an der Uhrzeit liegt, sondern eher daran, dass die meisten Besitzer im Krieg sind. Dennoch finde ich schnell eine, die nicht ganz so heruntergekommen aussieht wie die anderen, an denen ich sonst oft genug vorbeilaufe. Niemand schaut zu mir herüber, als ich eintrete; alle sind viel zu betrunken oder anderweitig abgelenkt. Mein Blick fällt auf den Bildschirm, wie immer laufen Nachrichten. 24 Stunden am Tag. 7 Tage die Woche. Nicht, dass irgendein Mensch daran denken würde, etwas anderes anzuschauen. Trotzdem hatte ich gehofft, dass es hier keinen Fernseher gibt. Nur für ein paar Stunden wollte ich nicht daran denken. Auch wenn ich mir selbst nicht zutraue, dass ich es nicht tun würde.
„Was darf's sein?", fragt mich ein älterer Barkeeper, als ich mich zu ihm an die Bar setze.
„Ein Bier", sage ich leise und schaue mich um. Neben mir sitzt eine junge Frau, die eindeutig mehr als nur ein Getränk hatte. Der Blick des Barkeepers wird ernster, er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Mit seinem Kinn zeigt er auf ein Schild, das mir zuvor nicht aufgefallen war.
„Es gibt nur noch Selbstgebrautes", sagt er, obwohl ich das selbst lesen kann.
„Was für ein Scheiß", sage ich. Er lacht leise und schiebt mir ein eindeutig zu volles Glas zu.
„Was du nicht sagst. Trink, solange es noch nicht zu spät ist", meint er und schenkt sich selbst ein Glas ein. Wir stoßen an und trinken es gleichzeitig leer.
Angewidert verziehe ich das Gesicht und stelle das Glas vor mir ab.
„Noch einen", sage ich. Wieder lacht er und legt dabei sein fast zahnloses Gebiss frei.
Mittlerweile verstehen wir uns gut, was vielleicht daran liegt, dass wir beide betrunken sind. Ich kenne nicht mal seinen Namen, aber er interessiert mich auch nicht. Mir war es eher wichtiger, dass er mein Glas nachfüllt, bevor es leer ist.
Ich zucke zusammen, als die Türe aufgeht. Instinktiv drehe ich mich um, doch es ist lediglich ein junger Mann, der hineinkommt. Er setzt sich, ohne etwas zu sagen, an die Bar und hält zwei Finger hoch. Der Barkeeper nickt und stellt ihm zwei Gläser hin. Ich betrachte ihn von der Seite. Egal, wie betrunken ich bin, mein Herz zieht sich vor Sehnsucht und Schmerz zusammen. Vielleicht bin ich wirklich nur zu betrunken, doch er erinnert mich so sehr an ihn, dass mir Tränen in die Augen steigen. Schnell wende ich den Blick ab, doch offensichtlich nicht schnell genug.
„Ist was?", fragt er missmutig.
„Nein, ich... du erinnerst mich nur an jemanden, den ich mal gekannt habe", gebe ich zu, was ich in nüchternem Zustand wohl nie getan hätte. Er nickt langsam und schiebt mir eines der Gläser zu.
„Ich hoffe doch, das war im positiven Sinne", meint er freundlicher. Er trinkt sein Glas in einem Zug aus und hebt wieder zwei Finger in die Höhe. Ich lächle.
„Ja, mehr als das", sage ich und leere mein Glas ebenfalls.
„Und wieso trinkst du?", fragt der Mann mich schließlich, nachdem einige Zeit Schweigen geherrscht hatte. Ich zucke mit den Schultern.
„Gibt es nicht genug Gründe dazu?", frage ich.
Er lacht leise. Sein Lachen ist genauso schön wie das von ihm. Dann wird er plötzlich wieder ernst.
„Ich werde morgen an die Grenze geschickt", meint er schließlich. Bedauernd sehe ich ihn an. Genauso wie ihn.
„Solltest du dann nicht lieber nüchtern bleiben?", frage ich. Er schüttelt den Kopf und kommt mir ein Stück näher. Sein Atem riecht nach Alkohol und Zigaretten. Doch aus irgendwelchen Gründen ist es beruhigend.
„Ich finde, dass ich deswegen erst recht nicht nüchtern bleiben sollte", meint er grinsend und leert sowohl das zweite als auch das dritte Glas. Ich zögere, dann nehme auch ich einen kleinen Schluck.
„Vielleicht werde ich dich ja wieder zusammenflicken", sage ich ungewöhnlich undeutlich. Verdammt, ich musste deutlich betrunkener sein, als gedacht. „Ich bin Ärztin", erkläre ich, als ich seinen verwirrten Blick endlich richtig deuten kann.
Er lacht leise.
„Ich hoffe, dass von mir so wenig übrig bleibt, dass es überhaupt nichts mehr zu flicken gibt", meint er kalt.
Dankbar nehme ich das Glas Wasser an, das mir der Barkeeper wortlos reicht und nippe daran, dann sehe ich zu dem schönen Namenlosen.
„Das hört sich verdammt düster an", sage ich.
Er nickt zustimmend, scheint dabei jedoch gedankenverloren zu sein, denn er sieht irgendwie eher an mir vorbei.
„Wenn es anders läuft, würdest du mich immer und immer wieder zusammenflicken müssen. Ich will deine zarten Hände schonen", meint er und zwinkert mir leicht zu.
Alleine diese Geste veranlasst mein Herz beinahe, doppelt so schnell zu schlagen wie davor. Und obwohl ich weiß, dass das nicht möglich ist, bin ich in dem Moment fest davon überzeugt. Und genau das ist das Problem. An dem Tag, an dem er eingezogen wurde, hatte ich mir geschworen, dass kein anderer Mann jemals so etwas in mir auslösen würde.
Schnell wende ich den Blick ab. Ohne darüber nachzudenken, erzähle ich von ihm. Ich schildere, wie wir uns im letzten Jahr des Studiums kennengelernt haben. Erzähle von unserem ersten gemeinsamen Urlaub. Ich erzähle von den schönen und von den schlechten Tagen. Vom Tag, an dem er mich gebeten hat, ihn zu heiraten. Vom Tag, an dem er eingezogen wurde. Tränen steigen mir in die Augen, doch der Mann wagt es nicht, sie zu trocknen, als wüsste er ganz genau, dass er nicht in der Position dafür ist. Er sieht mich nachdenklich an.
„Dein Verlust tut mir ehrlich leid", sagt er sanft und greift nach meiner Hand.
„Im Krieg gibt es nur Verluste", sage ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Erst jetzt fällt mir auf, dass das ziemlich unbedacht von mir ist. Verlegen beiße ich mir auf die Lippe und sehe ihn an. Aber er lächelt nur leicht, als würde er mir zustimmen.
„Mein Name ist Kyan", meint er schließlich und reicht mir die Hand.
Verwirrt sehe ich ihn an, dann strecke ich ihm meine eigene Hand entgegen. Erst jetzt fallen mir seine atemberaubenden Augen auf. Blau mit goldenen Sprenkeln. Ich muss ehrlich sagen, dass ich noch nie solch schöne Augen zuvor gesehen habe.
„Malia", sage ich leise. Er lächelt.
„Ich weiß, das klingt unverschämt, aber kennst du das, wenn man sich wünscht, dass man jemanden früher getroffen hätte?", fragt er ruhig. Leicht lächelnd nicke ich.
„Wenn du den Krieg überlebst, kannst du mich ja auf ein Date einladen", sage ich zögernd. Er lacht leise.
„Ich schätze, wenn ich das tue, werde ich dich auf hunderte Dates einladen. Aber ich denke, du wirst lange warten müssen."
„Schon gut, ich habe nichts anderes vor", sage ich sanft. Noch immer halten wir uns fest. Noch immer sehen wir uns in die Augen, bis ich meinen Mut zusammennehme und ihn küsse.
„Vielleicht werden wir diese hundert Dates in einer Nacht haben müssen", meint er an meinen Lippen, die mit großer Sicherheit genauso sehr nach Alkohol schmecken wie seine eigenen. Ich lächle, nicht nur von dem vielen Alkohol benebelt.
„Ich bin heute zu allem bereit."
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