Kapitel 6

-Linea, 29. August 53 nach Gründung-


Mein letzter Schultag. Ab morgen würde ich ein anderer Mensch sein. Na ja, kein ganz neuer Mensch, aber ich würde nicht mehr so unbeschwert leben. Ich würde jeden Morgen alleine aufstehen. Ich müsste mich um mich selbst kümmern, und je nachdem, was aus mir werden würde, würde ich morgens entweder zur Arbeit gehen oder mich um meine Kinder kümmern. Letzteres scheint mir im Moment schlimmer zu sein. Auf der anderen Seite ändert sich das bei mir quasi minütlich.

Ohne dem Unterricht wirklich folgen zu können, starre ich die Lehrerin vor mir an. Ob sie vor vielen Jahren an ihrem letzten Schultag das Gleiche gedacht hat? Aber nein, wahrscheinlich nicht, denn solche Gedanken gehören sich nicht. Und genau solche Gedanken würden mich davon abhalten, Lehrerin zu werden. Nicht, dass ich wirklich Lust darauf hätte. Aber ich kenne auch keine Alternative, die mir wirklich Spaß macht. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Meine Freundinnen scheinen alle zu wissen, was sie wollen. Nicht, dass ihr Wille berücksichtigt wird. Aber es ist schön, wenn man sich sicher ist. 

Lea zum Beispiel möchte unbedingt Mutter werden. Und ehrlich gesagt kann ich sie mir nur mit einem Kind auf dem Arm vorstellen. Als Bäuerin ist sie nicht gut. Die paar Schulbücher kann sie kaum tragen. Ansonsten ist sie der liebevollste Mensch, den ich kenne. Sie wäre eine gute Mutter, genau wie meine. Aber erst in einem Jahr. Nein, ich bin mir sicher, dass ich keine Mutter werde. Der Gedanke tut trotzdem weh, schließlich ist es bestimmt toll, Mutter zu sein. Aber wahrscheinlich habe ich andere Stärken. Das hoffe ich jedenfalls.

„Heute haben zwei Schülerinnen ihren letzten Tag hier, bevor sie ausgewählt werden. Linea und... Adriana", die ältere Frau blickt auf, um uns beide ausfindig zu machen, kann aber nicht erkennen, wer wir sind. Kein Wunder, wir halten uns die meiste Zeit bedeckt. Bei Adriana kommt erschwerend hinzu, dass sie die Schule als sinnlos empfindet. Deshalb geht sie seit einem halben Jahr nicht mehr zur Schule. Stattdessen arbeitet sie auf dem Feld, und das wird sie wohl auch für den Rest ihres Lebens tun. Zögernd hebe ich die Hand, obwohl mir vor Aufmerksamkeit leicht übel wird. Überrascht, als hätte sie mich zum ersten Mal gehört, nickt die Lehrerin.

„Und das andere Mädchen?", fragt sie. Es ist mir wirklich unbegreiflich, wie wenig Lust man haben kann, eine Klasse zu unterrichten.

„Die belästigt die Frauen auf dem Feld mit ihren absurden Geschichten", kichert eines der Mädchen in den hinteren Reihen, andere stimmen ein. Aber ich bleibe ruhig. Es mag sein, dass Adriana besonders gegen das System ist. Aber ich kann nicht sagen, dass ihre Geschichten völlig absurd sind. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass sie mir mehr erzählt. Aber meistens schweigt sie. Trotz allem will sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen. Ich glaube, sie ist klüger, als wir alle denken.

„Ach so", sagt die Dame und winkt ab, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen.  „Jedenfalls viel Glück. Was auch immer aus Ihnen wird", sagt sie an mich gewandt, was weder besonders einfühlsam ist, noch so klingt, als erwarte sie irgendetwas von mir. Kein Wunder, denn anscheinend bin ich in den letzten Jahren so unauffällig gewesen, dass man mich gar nicht mehr kennt. Unruhig und verlegen rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. Jetzt kann ich mich noch weniger auf den Unterricht konzentrieren. 

Stattdessen starre ich aus dem Fenster, und die Aussicht ist nicht gerade berauschend. Ich sehe hauptsächlich Häuserzeilen und den kleinen Platz vor der Schule, auf dem ich morgen warten werde. Erst ganz weit im Hintergrund erkenne ich die Felder, natürlich keine Menschen, aber kleine schwarze Punkte, die sich langsam über die Felder bewegen. Es könnten Kühe sein, aber ich stelle mir vor, dass es die Arbeiterinnen sind. Vielleicht bin ich morgen eine von ihnen. Ich hoffe nicht, denn ich kann mir nicht vorstellen, auf einem Feld zu stehen. Aber es ist auch nicht meine Aufgabe, mir etwas vorzustellen. Das macht jemand anderes für mich, und das ist auch gut so, denn egal, wie viel ich darüber nachdenke, es kommt sowieso nichts dabei heraus.

„Ich werde dich so sehr vermissen", flüstert mir Lea ins Ohr und umarmt mich. Ich muss die Tränen zurückhalten, als ich ihr zustimme.

„Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder", flüstere ich hoffnungsvoll. Sie nickt, obwohl wir beide wissen, dass das nicht passieren wird. Selbst wenn wir in einer Zone landen, was unwahrscheinlich genug ist, werden sich unsere Wege wohl nie kreuzen. Wir werden völlig unterschiedliche Leben führen. Obwohl ich das weiß, fällt es mir schwer, sie zurückzulassen. Auch die anderen Mädchen, die wohl eher mit mir befreundet sind, weil Lea es ist, umarmen mich. Ihre Abschiedsworte klingen mehr als scheinheilig, aber ich tue so, als würde ich sie auch vermissen.

„Mach's gut, Lina", sagt Ava, eines der Mädchen.

„Linea", sagt Lea schnaubend und wirft ihr einen bösen Blick zu. Ava kichert nur und zuckt mit den Schultern.

„Jetzt muss ich mir ihren Namen auch nicht mehr merken", sagt sie, woraufhin ich die Augen verdrehe. Vielleicht hätte ich mir bei der Auswahl meiner Freunde etwas mehr Mühe geben können. Aber sie hatte sowieso Recht, wenn sie sagte, dass es jetzt sowieso keinen Sinn mehr machte. Ab morgen konnte ich Freunde finden, die echte Freunde waren. Nicht wie diese Mädchen, die so unfreiwillig hier waren, dass man es ihnen aus 50 Metern Entfernung ansehen konnte. Außer natürlich Lea, die ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Unbeholfen streiche ich ihr über die Schulter und lächle sie aufmunternd an.

„Oh Mann, jetzt muss ich mit denen ganz alleine klarkommen", seufzt sie leise, so dass die anderen es nicht hören können. Wenn sie denn zuhören würden. Was sie nicht tun. Ich lächle, obwohl ich genau weiß, dass sie sich ihre Freunde selbst ausgesucht hat. Sie hat wirklich zwei Seiten. Meine Seite und die der anderen. Es wird nicht lange dauern und sie wird genau wie Ava sein. Was traurig genug ist, denn wer will schon so sein? Aber Lea ist nicht böse oder so, sie ist nur nicht so intelligent. Sie ist ein netter Mensch, aber der Unterricht hat bei ihr keine großen Spuren hinterlassen. Es ist gemein, so über jemanden zu denken, also verwerfe ich den Gedanken wieder.

„Können wir jetzt endlich zum See gehen?", fragt Ava jetzt und die anderen nicken zustimmend. Da ich nicht einmal mehr gefragt werde, ist es offensichtlich, dass sie mich loswerden wollen. Als ob ich das nicht schon wüsste. Ich umarme Lea noch einmal, dann wende ich mich ab, lasse mir Zeit, will alles in Erinnerung behalten. Morgen wird es so früh sein, dass ich kaum noch etwas erkennen werde. Deshalb ist jetzt die letzte Chance, mir alles einzuprägen. Obwohl ich mir sicher bin, dass es in den anderen Zonen genau so aussieht. Bis auf die Randzonen. Jetzt habe ich plötzlich Angst, dass ich da hin muss. Ich persönlich sehe mich dort überhaupt nicht, aber ich weiß auch nicht, was die anderen in mir sehen. 

Ich seufze und betrachte den riesigen Baum, der mitten auf dem Platz steht. Eigentlich ist der Platz um ihn herum gebaut worden, denn er steht bestimmt schon eine ganze Weile hier. Das ist sicher ein Detail, das unseren Versammlungsplatz von den anderen unterscheidet. Dieser Baum wächst nur hier. Aber vielleicht wächst in Zone 11 ein Baum, der bei uns nicht an der gleichen Stelle wächst. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Es ist doch völlig egal, wo und ob irgendwo ein Baum wächst. Aber es ist meine Heimat, ich lebe hier, seit ich geboren wurde. Und ab morgen werde ich das nicht mehr tun. Ich muss schlucken, obwohl ich eigentlich viel Zeit hatte, mich vorzubereiten. Aber plötzlich scheint die Zeit nicht mehr auszureichen. Ich habe nicht genug Zeit mit meinen Geschwistern verbracht. Zu wenig Zeit mit meiner Mutter, zu wenig Zeit mit Lea und Adriana. Ich jammere ein bisschen, aber das nützt jetzt nichts mehr. Heute Abend machen wir uns noch einen schönen Abend und ab morgen habe ich mein eigenes Leben. Ich habe überhaupt nichts zu bereuen.

Ich gehe weiter, aber ich versinke nicht mehr in Selbstmitleid. Ich gehe nach Hause und freue mich über alles, was mir auf meinem Weg begegnet. Auch die negativen Erinnerungen lösen keine neue Panik aus. Ich schiebe sie einfach beiseite. Daran ändert auch das Haus nichts, in dem Kiera gelebt hat. Auch wenn ich es jeden Tag sehe, irgendwann muss ich mich an den Gedanken gewöhnen. Inzwischen wohnt dort sowieso eine andere Familie. 

Talyssa, eine junge Frau mit ihren beiden Töchtern.Sie fragt meine Mutter manchmal um Rat, so wie es die meisten jungen Mütter mit den älteren machen. Manchmal passt meine Mutter sogar auf ihre Töchter auf, wenn sie sich mit Freunden trifft. Früher hat meine Mutter das auch gemacht, aber jetzt hat sie Töchter, die das übernehmen können. Obwohl es nicht meine Lieblingsbeschäftigung ist, mache ich es gerne, meine Mutter hat immer so viel zu tun, ein freier Abend ist für sie sehr wichtig. Wie könnte ich ihr das abschlagen?

Aber heute sind Talyssa und ihre Töchter nicht zu sehen, vielleicht beobachten sie die Feldarbeiterinnen oder die Tiere, das machen die drei oft. Ich habe gehofft, mich verabschieden zu können, aber vielleicht soll es nicht sein. 

Ich wende mich vom Haus ab und öffne unsere Haustür. Es riecht schon nach Essen und ich höre eine Stimme im Haus. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich werde sie alle so sehr vermissen.

„Ich bin wieder da", rufe ich. Als Älteste habe ich auch die längste Unterrichtsstunde, also müssen alle schon da sein. Liana kommt als Einzige. Sie ist nur zehn Monate jünger als ich, entsprechend nah sind wir uns. Ihr Lächeln ist so warm, dass alle meine Sorgen wie weggeblasen sind. Hastig küsse ich sie auf den Scheitel.

„Wo ist Mama?", frage ich sie. Ihr Blick wird ernst. 

„Sie hat Wehen", sagt sie. Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Unsere Schwester sollte doch erst in ein paar Wochen kommen. Ich muss schlucken. Meine vorherigen Sorgen kommen mir lächerlich vor, es gibt eindeutig Wichtigeres.

„Sind alle da?", frage ich Liana. Sie schüttelt den Kopf.

„Ich habe Talyssa vorhin gebeten, die Zwillinge mitzunehmen, sie schauen sich die Kühe und Schafe an", sagt sie.Ich nicke. 

„Das ist gut, wer ist bei ihr?", frage ich und deute nach oben, erst jetzt höre ich das leise Stöhnen meiner Mutter.

„Sie wollte natürlich niemanden bei sich haben, aber ich habe vor ein paar Minuten nach ihr gesehen", antwortet meine Schwester, die mir heute viel reifer vorkommt als je zuvor. Ich lächle sie an und gehe in die Küche. Am Eingang bleibe ich stehen. Sie hat nicht nur gekocht, sondern auch alles mit frischen Blumen und Gräsern dekoriert. Es sieht wunderschön aus und ich bin gerührt, dass sie sich so viel Mühe gegeben hat. Auch wenn sie dafür bestimmt den Unterricht geschwänzt hat. Aber das war ja auch nicht das erste Mal. Ich umarme sie überwältigt. 

„Danke."


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top