Kapitel 57




-Kian, 16. Februar, 54 nach Gründung-


Eines muss man Jaron lassen: Er kann erstaunlich gut mit seinen Patienten umgehen. Nicht, dass ich gerne erneut einer von ihnen wäre, aber Nathalia scheint langsam ihre Angst vor den Untersuchungen zu verlieren. Er geht behutsam vor und fragt, ob es ihr gut geht, aber sie ist tapfer. Oder sie hat schon so viel durchgemacht, dass es für sie nicht mehr der Rede wert ist.

,,Kannst du dein Oberteil etwas anheben? Ich muss etwas nachsehen", sagt Jaron schließlich. Sein Blick ist besorgt. Er hebt den Kopf und schaut erst mich, dann Eleonora an. Am liebsten würde ich ihn fragen, was los ist, aber ich will Nathalia nicht beunruhigen, die in diesem Moment fast entspannt wirkt. Sie nickt langsam und nimmt den Blick von mir, den sie die ganze Zeit auf mich gerichtet hat. Sie beißt sich auf die Lippe, als wüsste sie genau, dass etwas nicht stimmt. Sie senkt den Kopf, als schäme sie sich. Trotzdem hebt sie langsam den dicken Pullover an. Zuerst den unteren Rücken, der einige Narben ziert, die aussehen, als hätten sich Fingernägel so tief in die Haut gebohrt, dass sie als Narben zurückblieben.

Als sie ihn weiter anhebt, stockt mir der Atem. Ich nehme Eleonoras Tränen wahr und Jarons wissenden Blick, aber ich nehme ihn nur verschleiert wahr. Als wäre ich gar nicht da. Sprachlos starre ich auf seinen geschwollenen Bauch. Ihre Hand, die ihn fast zärtlich berührt. Mir wird übel. Und Wut packt mich, unbändige Wut. Dieser Mistkerl. Er wird dafür bezahlen. Ich springe auf und stürme aus dem Zimmer, ohne auf Eleonoras Rufe zu achten. Es ist mir egal. Alles ist mir egal, um genau zu sein.

Fast stoße ich mit Linea zusammen, sie kann mir gerade noch ausweichen. Sie hält mich am Hemdkragen fest und schaut zu mir auf.

,,Was zum Teufel ist passiert?", fragt sie besorgt. Ich weiche ihrem Blick aus und vergrabe mein Gesicht an ihrem Hals. Sie streicht mir sanft über die Wange, bis ich es schaffe, sie wieder anzusehen, doch als ich sie anschaue, habe ich Nathalias Gesicht vor Augen. Ihren zarten Körper, der sich nicht so sehr von Lineas unterscheidet, wie ich es mir wünschen würde. Ihr runder Bauch, das Merkmal, das sie deutlich von Linea unterscheidet.

,,Warum bist du so wütend?", fragt sie leise. Statt zu antworten, drücke ich meine Lippen stürmisch auf ihre und ziehe sie so eng an mich, dass kein Blatt Papier mehr zwischen uns passt. Sie verschränkt ihre Arme um meinen Nacken und erwidert meinen Kuss. Sie hat eine beruhigende Wirkung auf mich, aber in diesem Moment wünschte ich, es wäre nicht so. Ich will nicht runterkommen, ich will diese Wut. Natürlich nicht auf Linea. Ich lege meine Hand an ihre Wirbelsäule und fahre langsam bis zu ihrem Nacken.

,,Linea", flüstere ich an ihre Lippen, obwohl ich nichts zu sagen habe. Mein Kopf ist gerade ziemlich leer. Sie löst den Kuss und schaut mich direkt an. Ihre Augen sind voller Angst. Ich hoffe, dass die Angst nicht mir gilt, aber es wäre nicht das erste Mal. Ich muss die Augen schließen, um sie nicht mehr sehen zu müssen. So ähnlich hatte sie mich damals angesehen, als ich in ihr Zimmer kam. Und da hatte ich definitiv Angst bekommen. ,,Ich bin nicht wütend auf dich", sage ich schließlich. Sie schaut mich fragend an und nickt.

,,Warum solltest du mir böse sein?", flüstert sie verwirrt und lächelt sanft. Ich lege eine Hand an ihre Wange und bin wie immer fasziniert, wie gut ihre Wange in meine Hand passt, als wäre sie dafür gemacht.

,,Ich wollte nur sichergehen, dass du das weißt", sage ich und lege wieder meine Lippen auf ihre. Diesmal ist der Kuss weder stürmisch noch wütend. Genau das Gegenteil. Wir sind so ruhig, dass ich ihren unregelmäßigen Atem und ihren Herzschlag hören kann. Ich glaube nicht, dass uns jemals so viel Ruhe umgeben hat wie in diesem Moment. Wir beenden den zärtlichen Kuss und bleiben noch einen Moment ineinander verschlungen stehen. Wäre da nicht ihr Freund und das Mädchen, für dessen Rache ich losgestürmt bin, würde mich wahrscheinlich nichts auf der Welt dazu bringen, sie loszulassen.

,,Ich muss etwas erledigen", flüstere ich schließlich. Sie nickt mit geschlossenen Augen.

,,Kann ich dir dabei helfen?", fragt sie zögernd.

,,Nein, bleib hier und ... bitte kümmere dich um sie, wenn du kannst."

,,Was ist mit ihr?"

,,Ich komme bald wieder", sage ich immer noch an ihren Lippen. Ich verkneife mir einen weiteren Kuss, denn ich kann es mir nicht leisten, dass meine Wut noch weiter verfliegt.

,,Mach keine Dummheiten", sagt sie und schaut mich endlich wieder an. Ich grinse leicht und lege den Kopf schief.

,,Habe ich das schon mal gemacht?", frage ich halb ernst.

Sie schüttelt den Kopf und lacht leise. ,,Geh und tu, was du nicht lassen kannst."

,,Werde ich", sage ich grimmig und lasse sie schließlich los. Sie sieht mich an, als wüsste sie genau, was ich vorhabe, wobei sie das absolut nicht wissen kann, immerhin hatte ihr niemand erzählt, was passiert war. Ihr Blick ist voller Sorge, aber ihr zuversichtliches Lächeln lässt sie nicht los. Ich küsse sie noch schnell auf die Stirn, dann mache ich mich endlich auf den Weg zurück in die Wohnung, in der Nathalia bis vor kurzem noch gefangen war. 

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