Kapitel 52

-Linea, 24. Januar, 54 nach Gründung-


Ich werde von einem schweren Gegenstand geweckt, der neben mir ins Bett fällt. Erschrocken richte ich mich auf und brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ich nicht in meinem eigenen Bett liege. Damit erübrigt sich auch die Frage, wer das neben mir ist. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach ihm aus und berühre sein vermeintliches Gesicht. Er stöhnt leise und dreht sich von mir weg. Ich lächle und setze mich auf.

,,Kian, wo hast du so lange gesteckt?", frage ich. Inzwischen ist es draußen viel dunkler geworden, man kann noch den schwachen Schein der Laternen erkennen, aber von hier aus bringen sie nicht viel, sodass ich nur seine Umrisse erkennen kann. Aber auch so kann ich erkennen, dass hier jemand ist. Er stinkt fürchterlich. Ich muss kurz überlegen, woher ich diesen Geruch kenne, aber er muss eindeutig Alkohol getrunken haben. Viel davon. Ich erkenne den Geruch, weil viele der Wachsoldaten am Morgen so gerochen haben. Aber noch ein anderer Geruch umgibt ihn. Irgendwie verbrannt, rauchig. Ein bisschen so, wie wenn meine Mutter Essensreste im Topf angebrannt hat. Angewidert rümpfe ich die Nase und frage noch einmal, diesmal energischer.

,,Nirgends", seufzt er und greift nach mir, aber ich weiche aus.

,,Geh dir wenigstens die Zähne putzen", sage ich sanft, auch wenn ich ihn am liebsten anschreien würde. Immerhin hatte er mich hier stundenlang alleine gelassen und ihm viel nichts besseres ein als sich zu betrinken. Wer weiß, wo er überhaupt gewesen war. Widerwillig schüttelt er den Kopf, aber steht immerhin langsam auf.

,,Du bist verdammt anstrengend", stöhnt er, stützt den Kopf auf die Knie und verharrt einen Moment so, bevor er sich schließlich, für seine Verhältnisse sehr unelegant, erhebt und zur Tür geht. Ich schaue ihm kopfschüttelnd nach und folge ihm schließlich, um zu sehen, ob er auch wirklich tut, was ich ihm gesagt habe.

Tatsächlich steht er brav am Waschbecken und wäscht sich erst das Gesicht und putzt sich dann die Zähne. Ich lächle und stelle mich neben ihn. Er spuckt aus, wäscht sich den Mund und zieht mich an sich. Er küsst mich sanft, und obwohl ich noch den Alkohol rieche, ist es fast angenehm. Aber das liegt wohl eher daran, dass er es trotz allem ist. Ich lege meine Arme in seinen Nacken und ziehe seinen Kopf zu mir. Er lächelt an meine Lippen und lässt seine Hände über meinen halbnackten Körper wandern, schiebt sein Shirt über meine Brüste. Meine innere Unruhe meldet sich wieder, er ist nicht ganz er und das macht mir Angst.

,,Hm, du machst es mir viel zu leicht, Süße", flüstert er und lässt seinen Finger unerwartet über meine intimste Stelle gleiten. Überrascht keuche ich auf und sehe ihn an. Er scheint nicht wirklich anwesend zu sein und was mich am meisten daran stört ist, dass er nicht ganz er selbst zu sein scheint. Ich greife nach seiner Hand und schiebe sie von mir weg.

,,Kian, lass uns reden. Wenn du dazu in der Lage bist", sage ich sanft und nehme sein Gesicht zwischen meine Hände. Er schüttelt missbilligend den Kopf und zieht mich wieder an sich.

,,Ich will nicht reden, ich will dich endlich".

,,Ich will das so nicht", widerspreche ich. Als wolle er meine Aussage bekräftigen, muss er sich am Waschbecken festhalten, um nicht umzufallen. Ich seufze genervt und schiebe ihn ins Schlafzimmer.

,,Hast du es dir anders überlegt?"

,,Nein, ich will nur, dass du weich landest, wenn du fällst."

,,Du bist so fürsorglich, Schatz", lallt er, und wenn ich nicht diejenige wäre, die sich um ihn kümmern müsste, würde ich sogar über die Situation lachen. So außer Kontrolle hatte ich ihn noch nie erlebt. Nicht extrem unangenehm, jedenfalls nicht so schlimm wie die Wächter in Zone 12, aber doch so untypisch für ihn. Allein die Tatsache, dass er mich nicht mit meinem Namen anspricht, spricht für den Kontrollverlust. ,,Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte", fügt er ernst hinzu. Ich lächle, denn auch wenn er vielleicht Dinge tut und sagt, die er nicht so meint, wirkt er bei diesem Satz ehrlich. Sanft streichle ich seine Wange und schaue ihm tief in die Augen. Er hält meinen Blick fest. ,,Hat dir schon mal jemand gesagt, wie schön du bist?", fährt er ernst fort und lässt mein Herz hüpfen. Seinen Charme hat er auf jeden Fall nicht verloren. Naja, zumindest bei einem Teil von dem, was er sagt nicht.

,,Ja, das hast du gesagt", flüstere ich lächelnd und schiebe ihn weiter.

,,Ich habe nicht gelogen", sagt er stolz. Ich lache.

,,Das ist gut zu wissen."

,,Bleib bei mir, ich will dich nicht verlieren", brabbelt er weiter und macht sich leicht schwankend auf den Weg zu seinem Bett, auf das er sich wieder fallen lässt. Kopfschüttelnd stehe ich davor und versuche, ihn zur Seite zu schieben, um selbst etwas Platz zu gewinnen.

,,Ich gehe nicht."

,,Versprich es", murmelt er mit geschlossenen Augen. Ich mache das Licht an und lege mich neben ihn. Sofort zieht er mich an sich. Sanft streichle ich sein Haar und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.

,,Ich verspreche es dir."

,,Gut. Du bist die Letzte, die ich verlieren möchte", sagt er und öffnet wieder die Augen. Wir schauen uns tief in die Augen und ich versuche herauszufinden, ob er mich wirklich sieht oder nur vor sich hin starrt. Statt mir eine Antwort darauf zu liefern macht er das Licht wieder aus.

,,Ich will dich auch nicht verlieren. Kannst du mir sagen, warum du weggegangen bist?"

,,Ich brauchte einen klaren Kopf."

,,Und dann hast du dich betrunken?", frage ich spöttisch.

,,Hm", er dreht sich auf den Rücken, hält sich den Arm vor das Gesicht, gähnt und dreht sich schließlich von mir weg. Ich bleibe noch ein paar Minuten liegen, dann stehe ich schnell auf, um etwas zu trinken. Es ist ein bisschen schwierig, den Weg in die Küche zu finden, weil ich kein Licht anmachen will. Erst in der Küche drücke ich auf den Lichtschalter und bleibe einen Moment in der Mitte des Raumes stehen. Ich habe keine Ahnung, ob es nicht besser wäre zu gehen, aber er wirkt im Moment nicht wirklich gefährlich, und auch wenn er Dinge gesagt und getan hat, die mich unruhig gemacht haben, hat er es gelassen. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl. Als ich zurückkomme, liegt er immer noch so da, wie ich ihn zurückgelassen habe.

,,Kian?", frage ich, da ich mir nicht sicher bin, ob er schon eingeschlafen ist.

,,Hm?", ist die verschlafene Antwort. Ich lächle und beuge mich über ihn, um ihn ansehen zu können. Er hält die Augen geschlossen. Wieder mache ich das Licht an, um ihn wach zu bekommen, ich weiß, dass er jetzt ehrlicher sein wird als morgen früh. Genervt sieht er mich an und legt sich den Arm auf die Augen.

,,Warum musstest du den Kopf frei bekommen? Habe ich etwas falsch gemacht?"

,,Nein, ich will dich nur nicht umbringen.", seufzt er quasi beiläufig, während seine Augen noch immer unter seinem Arm verborgen liegen.

,,Was meinst du damit?", frage ich erschrocken. Er hatte mich verletzt, und auch wenn er es nicht absichtlich getan hatte, fühlte es sich schlimm an, aber würde er wirklich in der Lage sein, weiterzumachen? Am liebsten würde ich jetzt wirklich gehen, aber ich habe das Gefühl, dass mehr dahinter steckt und jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um mehr zu erfahren. Außerdem kann er mir im Moment nicht weh tun, dafür ist er zu langsam.

,,Du weißt schon", brummt er. Ich schüttle den Kopf, bis mir wieder einfällt, dass er mich nicht sehen kann.

,,Nein, ehrlich gesagt nicht."

,,Ich wollte wirklich unbedingt Sex mit dir haben."

,,Und das hätte mich umgebracht?", frage ich amüsiert. Er nickt langsam. ,,Ist dir klar, dass ich nicht zerbrechlich bin?"

,,Du bist zerbrechlich", flüstert er und schlägt die Augen wieder auf. Ich verdrehe diese und schüttle den Kopf.

,,Bin ich nicht, du Idiot", schnaube ich. Er lächelt schwach und streckt mir die Hand entgegen. Ich zögere, dann rutsche ich näher an ihn heran, und als ich sicher bin, dass ihm nicht schlecht ist, klettere ich schließlich auf ihn.

,,Ich erinnere mich, dass du mich so genannt hast", flüstert er und streicht mit seiner Hand über meinen Körper. Sofort fängt mein Körper Feuer.

,,Und ich erinnere mich, dass ich auch wirklich Sex mit dir haben wollte", flüstere ich an seine Lippen und küsse ihn. Er erwidert den Kuss so gierig, als wäre der letzte eine Ewigkeit her. Ich knöpfe ihm langsam sein Hemd auf, erst jetzt fällt mir auf, dass er ohne Jacke nach Hause gekommen ist. Doch sicherlich mache ich mir um seine Jacke jetzt keinen Gedanken. Vorsichtig fange ich an, seinen Körper zu berühren, er macht es mir nach. Bis er es nicht mehr tut. Stattdessen sieht er plötzlich wieder hellwach aus, denn noch vor wenigen Sekunden hätte ich ihm diese Berührung nicht zugetraut. Ich spüre etwas Hartes zwischen seinen Beinen, direkt zwischen meinen eigenen Beinen, und als ich erkenne, was es ist, werde ich noch erregter. Ich drücke meinen Körper fester an seinen und entlocke ihm ein Stöhnen. Die Panik ist weg, ich habe keine Angst mehr vor dem, was kommt. Ich bin bereit. Mehr als das. Aber er scheint es plötzlich nicht mehr zu sein.

,,Verdammt. Scheiße", flucht er und setzt sich auf. Verwirrt folge ich ihm, doch er schiebt mich ein Stück von sich weg, legt sein Gesicht in seine Hand und atmet so tief ein und aus, dass ich ihn gut hören kann.

,,Alles in Ordnung?", frage ich verletzt. Er schüttelt den Kopf und hält mich mit der freien Hand weiter auf Abstand. ,,Was habe ich getan?"

,,Denk nicht immer, dass alles deine Schuld ist", knurrt er. Ich nicke, auch wenn ich ihm nicht recht glauben kann. ,,Ich will dich nur beschützen, aber ich ... ich versage. Du machst es mir verdammt schwer."

,,Verdammt, dann sag mir endlich, wovor du mich beschützen willst. Ich habe nämlich keine Ahnung wovon du redest. Und langsam habe ich das Gefühl, dass du nach Ausreden suchst."

Endlich richtet er seinen Blick wieder auf mich. "Ausreden?"

,,Um nicht mit mir schlafen zu müssen", sage ich leise. Er lacht frustriert und schüttelt den Kopf.

,,Das ist doch lächerlich. Ich wünsche mir wirklich, dass ich das einfach nur nicht wollen würde.", seufzt er und sieht mich nachdenklich an. ,,Es wäre einfacher, wenn du einfach das Buch lesen würdest. Ich komme mir blöd vor, mit dir darüber zu reden."

,,Ich weiß immer noch nicht, was du meinst", erinnere ich ihn.

,,Ich... wenn wir das machen würden, dann... dann könnte es passieren, dass du schwanger wirst und dann weißt du, was passiert."Obwohl ich es mir irgendwie hätte denken können, reiße ich überrascht die Augen auf.

,,So funktioniert das?", frage ich. Eigentlich leuchtete es mir sogar ein, aber ich hatte mich bisher noch nie mit so etwas beschäftigt. Um ehrlich zu sein, gab es für mich immer nur die Art und Weise, wie die Frauen in den Zonen schwanger wurden. Natürlich habe ich das durch die Rebellen mitbekommen, aber es war für mich nie real. Wie dumm ich doch bin. Langsam nicke ich und beiße mir auf die Lippe. Ich traue mich nicht, ihn anzusehen, zu sehr schäme ich mich für meine Dummheit.

,,Du hast mich nur beschützt", sage ich überrascht.

,,Ja, ich ... es war zu viel. Es tut mir leid, dass ich einfach gegangen bin", flüstert er. Ich schaue ihn an, lächle, nehme ihn in den Arm.

,,Es hätte dir egal sein können", flüstere ich und schmiege meine Wange an seine Brust. Ich spüre, wie er den Kopf schüttelt.

,,Niemals."

,,Dein Vater hat deine Mutter nicht beschützt", sage ich leise. Es war eher eine Erkenntnis meinerseits, die ich lieber nicht ausgesprochen hätte. Schließlich sprach er nicht gern über seinen Vater. Oder über seine Mutter. Nicht, dass er einen von ihnen gekannt hätte. Sein Atem stockt kurz, dann schüttelt er wieder den Kopf.

,,Nein, hat er nicht", bestätigt er und nimmt schließlich mein Gesicht in seine Hände. ,,Aber ich werde es tun, das verspreche ich dir."

,,Das weiß ich", sage ich leise und senke den Blick. Kurz drückt er seine Lippen auf meine Stirn, dann lässt er sich langsam nach hinten fallen, zieht mich mit sich, legt seine Arme um mich. Zufrieden schmiege ich mich an ihn und schließe die Augen. ,,Danke", flüstere ich, doch er murmelt nur etwas Unverständliches.

,,Linea, ab morgen...", ich lasse ihn nicht ausreden, denn ich weiß schon, was er sagen will. Und ich weiß genau, dass es mir nicht gefällt, auch wenn es das einzig Vernünftige ist, trotzdem macht es mich traurig.

,,Ich weiß", flüstere ich und sehe ihn endlich wieder an. Die meiste Zeit, seit wir uns kennen, habe ich ihn nicht gemocht. Vielleicht kann ein Teil von mir ihn immer noch nicht leiden. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, auf Distanz zu ihm zu gehen. Er erwidert meinen Blick und lächelt aufmunternd.

,,Ich finde dich sowieso nervig", spottet er. Ich lache und schlage ihm leicht auf die Schulter, doch das Lachen geht schnell in ein Weinen über. Er richtet sich auf und umarmt mich. ,,Es tut mir leid, ich..."

,,Das ist es nicht", schniefe ich und vergrabe mein Gesicht wieder an seiner Brust. Auch wenn er immer noch nach kaltem Rauch und Alkohol riecht, ist es tröstlich.

,,Was dann?"

,,Es ist so ungerecht."

,,Vielleicht hätte es sich sowieso nicht gelohnt", meint er ernst. Ich verziehe die Lippen zu einem Lächeln und nicke langsam.

,,Ganz bestimmt ist es schrecklich."

,,Dann ist es ja gut, dass es sowieso keine Option ist", sagt er spöttisch und lehnt sich an die Wand. ,,Lass uns schlafen, okay?"

,,Hier? Zusammen?"

Er zuckt mit den Schultern und nickt. ,,Ich kann auch auf dem Sofa schlafen, wenn du willst."

,,Nein, ich hab dir versprochen zu bleiben", widerspreche ich schnell.

,,Dann frag nicht", seufzt er und legt sich wieder hin, streckt seinen Arm nach mir aus und zieht mich schließlich an sich, als ich auf ihn zukomme. Ich klammere mich an ihn und er hält mich so fest, dass ich kaum atmen kann, aber wenn es das letzte Mal ist, dass wir uns so nahe sind, dann ist es das wert.

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