Kapitel 50

-Kian, 23. Januar, 54 nach Gründung-


Ich merke sofort, dass etwas anders ist, als ich endlich bei der Arbeit ankomme. Es liegt nicht daran, dass ich zu spät bin, denn ich habe es gerade noch rechtzeitig geschafft. Und das, obwohl ich ungefähr 100 Mal mit Linea aneinandergeraten war und auch noch unter der Dusche gestanden habe. Eigentlich hätte ich zu spät kommen müssen, aber sonst waren wir wohl schnell gewesen. Was einem Wunder gleichte, denn so weit, wie wir redend gekommen waren, hätte ein Baby schneller geschafft. Doch irgendwann hatten wir einfach aufgehört zu reden, was nicht unangenehm gewesen war.

Ein paar andere Soldaten heben den Kopf, als ich an ihnen vorbeilaufe, aber anstatt mich zu grüßen, schauen sie nur so schnell wie möglich weg, als würde ein Blick ausreichen, um den Kopf zu verlieren. Obwohl ich ein ungutes Gefühl habe, gehe ich zu meinem Platz in der Kommandozentrale. Ich lasse mich in den gemütlichen Sitz fallen und strecke meine schmerzenden Beine aus.

Meine Aufgabe der letzten Wochen und Monate ist immer die gleiche: nützliche Informationen herausfiltern. Doch noch bevor ich auf die Daten zugreifen kann, erlischt der Bildschirm. Stirnrunzelnd versuche ich ihn neu zu starten, doch nichts passiert. Stattdessen nickt mir ein älterer Soldat zu, welcher plötzlich neben mir auftaucht. Seine rubinrote Uniform zeigt mir, dass ich entweder in großen Schwierigkeiten stecke oder dass etwas passiert ist, bei dem ich helfen kann. Obwohl ich eher Ersteres vermute, hoffe ich inständig auf Letzteres. Wobei ich keine Ahnung habe, was ich hätte tun können. Ich habe fast alle Anweisungen befolgt. Und ich glaube nicht, dass sie wissen, was ich falsch gemacht habe.

,,Lass uns gehen", sagte der hochrangige Soldat und läuft los, ohne zu warten. Aber niemand wird sich ihm widersetzen. Ich bemerke die verstohlenen Blicke der anderen, aber ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was passiert sein könnte, um sie zu beachten. Schnell hole ich den Soldaten ein. Ich versuche gar nicht erst herauszufinden, was er von mir will, denn er würde es mir nicht einmal sagen, wenn ich ihm drohen würde, ihn zu töten. Und ich würde meine Antworten sowieso noch früh genug bekommen. Nur bin ich mir absolut sicher, dass ich keine Antwort will.

Den Weg, den wir gehen, kenne ich nur zu gut, ich bin ihn schon oft genug gegangen. Ich bleibe abrupt stehen, obwohl ich hätte wissen müssen, dass ich zum Regierungsgebäude gebracht werde. Natürlich bemerkt der Soldat mein Zögern, doch ein Heben der Augenbraue genügt, um mich zum Weitergehen aufzufordern.

Erst als wir das Gebäude betreten haben und sich die schweren Türen hinter uns schließen, öffnet er wieder den Mund, um mit mir zu sprechen: ,,Da hast du aber ganz schön Mist gebaut", sagt er und sein verschmitztes Grinsen gibt den Blick auf drei fehlende Zähne in seinem Unterkiefer frei. Am liebsten würde ich ihm noch ein paar Zähne mehr ausschlagen, aber ich beschließe, dass das nicht sehr hilfreich wäre. Stattdessen zwinge ich mich zu einem neutralen Gesichtsausdruck und zucke nur mit den Schultern.

,,Ich weiß nicht was."Er schnaubt nur und schiebt mich etwas zu heftig weiter, so dass mein Bein nachgibt und ich alle Mühe habe, nicht umzukippen. Er lacht leise. Ich bin froh, dass ich gute Lehrer hatte, sonst wäre ich wohl meiner inneren Stimme gefolgt und hätte mich gewehrt. Aber ich weiß genau, dass er mich absichtlich provoziert, vielleicht ist das sogar seine Aufgabe. Aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Stattdessen nicke ich ihm nur zu.

,,Wohin?", frage ich, das Funkeln in seinen Augen verrät mir, dass meine Gleichgültigkeit ihn nur noch wütender macht. Ich lächle leicht, denn ich hatte wohl recht mit meiner Vermutung, dass er mich provozieren wollte.

,,Ich bringe dich", knurrt er und übernimmt wieder die Führung. Eilig folge ich ihm, bis er vor der Tür stehen bleibt, hinter der sich die des Oberbefehlshabers befindet. Bevor ich eintreten kann, nimmt er die Handschellen von seinem Holster und wedelt mir damit vor dem gesicht herum. Für einen winzigen Moment zögere ich, ich habe noch nie Handschellen getragen. Und es war nun offensichtlich, dass ich nicht aus einem guten Grund hier bin. Ich schließe kurz die Augen und nicke, nicht dass ich eine Wahl hätte. Dann strecke ich die Arme aus. Kaltes Metall schließt sich um meine Handgelenke. Kaum lasse ich die Arme sinken, öffnet der Soldat die Tür und bleibt stehen. Ich bin wohl mit dem Oberbefehlshaber allein, denn auch im Inneren des Büros ist kein weiterer Soldat zu sehen.

Der alte Mann sitzt fast entspannt auf seinem Stuhl und nickt mir langsam zu, als ich eintrete. Hinter mir schließt sich die Tür. Ohne Aufforderung setze ich mich ihm gegenüber auf den Stuhl und verberge meine gefesselten Arme unter dem Tisch. Nicht, dass er es nicht wüsste, aber so ist es wenigstens etwas weniger demütigend. Es herrscht Stille, aber meine Gedanken rasen. Was wird aus den Rebellen? Was wird aus Linea? Natürlich hatte ich mir für solche Fälle einen Plan zurechtgelegt. Aber ich musste erst wissen, was sie überhaupt wussten. Und ich konnte nicht sicher sein, ob er mir überhaupt sagen würde, was er wusste.

,,Du weißt doch, warum deine Gene defekt sind, oder? Schließlich hat man dich oft genug daran erinnert", fragt er schließlich so ruhig, dass die Situation nur noch merkwürdiger wird. Langsam nicke ich.

,,Ich war mir immer unsicher, ob man einem so defekten Menschen eine solche Arbeit zutrauen kann, und heute weiß ich, dass das wohl eine Fehlentscheidung war", sagt er. Ich balle die Hände zu Fäusten, ich hasste es so sehr an etwas erinnnert zu werden, was nicht in meiner Verantwortung lag. Aber ich wollte so wenig wie möglich mit ihm reden, denn ich befürchte, dass er jedes Wort besser analysierte als ich ihm zutrauen konnte.

,,Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden", sage ich genauso ruhig wie er. Er lacht leise und greift nach einer Mappe vor sich, die ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Er zieht ein paar Fotos heraus. Ein Chip, auf dem höchstwahrscheinlich Tonaufnahmen waren. Ich konnte mir ziemlich gut vorstellen, was das für Tonaufnahmen waren. Die einzigen Momente, in denen ich in der Öffentlichkeit unvorsichtig war, waren, wenn Linea dabei war. Auch wenn ich gedacht hatte, dass ich allles gelöscht hatte. Und er braucht mir die Bilder nicht zu zeigen, ich weiß auch so, dass sie sie zeigen. Ich schlucke trocken und schaue ihm direkt in die Augen.

,,Sie hatten gesagt, ich kann tun, was ich tun muss, um in das Innere der Verschwörer einzudringen."

,,Und du willst mir weismachen, dass dieses Mädchen das Innere der Verschwörer ist?"Ich schüttle schnell den Kopf, vielleicht etwas zu schnell. ,,Nein, aber die Anführer scheinen etwas in ihr zu sehen. Sie haben in ihr eine Chance gesehen und sie genutzt. Sie scheinen ihr zu vertrauen."

Er lacht leise. ,,Linea Walker, nicht wahr? Sie ist seit zwei Monaten in Zone 1, sie kann noch nicht lange bei ihnen sein. Und außerdem solltest du uns alle neuen Rebellen melden."

,,Ich dachte nicht, dass sie wichtig sind".

,,Ich sagte alle".

,,Tut mir leid, kommt nicht wieder vor", sage ich ernst.

,, Ja, das stimmt allerdings",er lacht leise, als er mir endlich eines der Bilder vor die Nase hält. Es zeigt sie. Ihr Zimmer. Ihr Blut. Ihre leblosen, weit aufgerissenen Augen. Und ich spüre all die Gefühle, die plötzlich in mir aufsteigen. Ich spüre die Panik. Das Entsetzen. Die unkontrollierbare Wut. Ich spüre sogar, wie meine Augen brennen. Und den Schrei, der meinen Mund verlässt. 

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