Kapitel 49

-Kian, 23. Januar 54 nach Gründung-


Ich hatte überhaupt keine Worte für das, was passiert war. Einerseits total bescheuert. Andererseits genau richtig. Es war richtig. Ich hatte es schon vorher geahnt, aber jetzt hatte ich die Bestätigung. Sie schläft immer noch, und so notwendig es ist, dass sie jetzt endlich aufsteht, ich bringe es nicht übers Herz, sie zu wecken. Ich bin wirklich ein Vollidiot. Zum Glück tut sie mir einen Gefallen und wacht von selbst auf. Noch bevor sie die Augen öffnet, huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Unwillkürlich muss ich es erwidern.

,,Guten Morgen", murmelt sie und hält sich die Hand vor die Augen, denn die Sonne steht direkt über uns.

,,Steh auf", sage ich und muss grinsen, denn ihr Anblick ist einfach amüsant. Aus einer kleinen Lücke, die sich zwischen ihren Fingern gebildet hat, starren mich ihre braunen Augen an. Ihr Haar ist zerzaust und ihr Hemd zerknittert.

,,Kommandier mich nicht herum", brummt sie und macht keine Anstalten, sich zu bewegen. Endlich lache ich und beuge mich zu ihr hinunter, ihre Augen beobachten mich. Flüchtig presse ich meine Lippen auf ihre Stirn, ohne selbst zu wissen, was ich tue. Ihr Blick fixiert mich kurz, sie lächelt leicht, aber fast schüchtern wendet sie den Blick ab. Endlich bewegt sie sich, setzt sich auf, wobei wir fast zusammenstoßen. ,,Pass auf", sagt sie und schaut mich herausfordernd an. Sie hat die Hände vor der Brust verschränkt.

,,Ich soll aufpassen?", frage ich spöttisch. Sie nickt nur, ihr Blick verdunkelt sich. Dabei sieht sie nicht einmal halb so furchterregend aus, wie sie vermutlich denkt. Eher wie ein Kleinkind, das todmüde ist, aber nicht schlafen will.

,,Wer sonst, Arsch?"

,,Wag es nicht, mich Arsch zu nennen", sage ich nur halb ernst. Sie ringt sich ein Lächeln ab, nur um dann noch finsterer zu werden. Ihr Oberkörper beugt sich weiter nach vorne, ich rücke mit meinem ein Stück näher, bis unsere Köpfe keine fünf Zentimeter voneinander entfernt sind.

,,Du bist aber einer", sagt sie und lächelt verschmitzt.

,,Und was bist du dann?"

,,Ich bin perfekt", flüstert sie und hebt einen Finger, um ihn an meine Brust zu pressen. Lachend schüttle ich den Kopf und versuche, ihr näher zu kommen, was sie mit der flachen Hand verhindert.

,,Du bist nicht perfekt."

,,Das klang gestern noch ganz anders", sagt sie verärgert.

,,Ich habe nur gesagt, dass du schön bist", necke ich sie.

,,Kian, du bist wirklich ein Arsch, oder?", seufzt sie, nimmt ihre Hand von meiner Brust und kann nicht mehr verhindern, dass ich sie an mich ziehe und endlich küsse. Sie gibt ihren Widerstand auf, schlingt die Arme um mich und drückt sich an mich. Es kostet mich viel Selbstbeherrschung, nicht weiter zu gehen, als wir es jemals dürfen. Sie ist in jeder Hinsicht berauschend. Auch wenn sie es nicht so gemeint hat, ist sie der Vollkommenheit wahrscheinlich näher als jeder andere Mensch es je sein könnte. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass sie im Schlaf keine Sekunde ruhig liegen bleiben kann und ich deshalb ziemlich wenig geschlafen habe. Sicherlich hat sie noch andere Fehler, aber die nehme ich kaum wahr. Weil ich ein Idiot bin.

,,Und was bist du, wenn du dich mit einem Arsch abgibst?", unterbreche ich unseren Kuss. Sie sieht mich mit strahlenden Augen an. Ihre Wangen sind leicht gerötet und ihre Lippen geschwollen von den vielen Küssen gestern. Ihr Haar ist immer noch zerzaust, aber am liebsten würde ich sie jeden Morgen so sehen.

,,Ich habe nur Mitleid", sagt sie spöttisch. Lachend ziehe ich sie so fest an mich, dass sich unsere Oberkörper berühren.

,,Hm, du bist ein guter Mensch."

,,Bist du auch einer?", fragt sie. Ich verkrampfe mich leicht, denn wenn ich ehrlich bin, kann ich ihr nicht die Antwort geben, die ich ihr so gerne geben würde. Denn die Wahrheit ist: Ich bin kein guter Mensch. Ich habe Fehler gemacht, die ich nicht hätte machen dürfen. Mir war, nein mir ist Erfolg wichtiger als alles andere. Ich lüge und ich betrüge. Jeden. Immer. Selbst Isabella oder Linea, die mehr Wahrheiten kennen als alle anderen, wissen nur das, was ich ihnen zu sagen bereit bin. Und das ist wahrscheinlich nur ein Bruchteil von allem.

Aber irgendetwas hält mich davon ab, sie auch diesmal anzulügen. Also schaue ich ihr in die Augen und schüttle leicht den Kopf. ,,Nein, bin ich nicht", sage ich ernst. Sie erwidert meinen Blick und scheint nachzudenken. Gedankenverloren schaut sie mich an, bis sie schließlich nickt.

,,Das ist schon in Ordnung. Ich halte dich trotzdem für einen guten Menschen. Und ich mag dich sehr. Auch wenn du dich für einen schlechten Menschen hältst. Ich kann damit umgehen", sagt sie leise und küsst mich auf die Wange.

,,Ich wünschte, du würdest das nicht sagen", flüstere ich in ihr Ohr, dann lasse ich sie los, schiebe sie von mir und stehe auf, reiche ihr aber meine Hand. ,,Komm, lass uns gehen", sage ich etwas sanfter.

Sie schaut mich verwirrt an, dann steht sie auf, natürlich ohne meine Hand zu nehmen, und wartet. Ich tue ihr nicht den Gefallen, mich zu erklären, sondern laufe los. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und wir dürfen die Arbeit nicht verpassen.

,,Kian, verdammt", schnaubt sie, ich höre ihre Schritte im Rascheln des Laubes nur zu deutlich. Als nächstes üben wir bestimmt unauffälliges Verhalten, das kann sie gut gebrauchen. Ich drehe mich zu ihr um und warte, bis sie mich eingeholt hat. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, ist sie ziemlich sauer, dass ich nicht darüber reden kann. Aber das werde ich beim besten Willen nicht tun. Niemals am besten. Obwohl ich mir sicher bin, dass es nicht ewig so weitergehen kann.

,,Beeil dich, wir haben nicht ewig Zeit."

,,Du meinst, du hast keine Lust zu sagen, warum du angeblich ein schlechter Mensch bist", spricht sie die Wahrheit aus.

,,Du hast recht, ich will und werde nicht darüber reden und jetzt komm. Du hast Spätschicht, die fängt in sechs Stunden an und ich muss in fünf bei der Arbeit sein."

,,Das ist mir jetzt völlig egal, Kian."

,,Aber ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Du kannst das nicht erklären."

,,Du auch nicht", entgegnet sie.

,,Aber ich kann besser lügen als du", sage ich spöttisch. Sie zuckt nur mit den Schultern, ihr Blick hat sich verdunkelt. Ich weiß, wie wenig sie es erträgt, auf ihre Schwächen angesprochen zu werden.

,,Warum lügst du mich dann nicht einfach an, wenn ich eine Antwort von dir will?"

,,Ich will dich nicht ständig anlügen", ärgere ich mich über ihre Hartnäckigkeit und trete den nächstbesten Stein weg, der ein paar Meter weit fliegt, bis er unten im Tal verschwunden ist.

Sie schaut ihm angestrengt hinterher und wendet ihren Blick nicht von ihm ab, um mir zu antworten: ,,Wenn du es sowieso machst kannst du es auch jetzt tun, das würde auch nichts mehr ausmachen, oder?", ihre Stimme klingt so traurig, dass ich sie am liebsten in den Arm nehmen würde, aber das würde wohl nicht viel nützen. Schließlich bin ich der Grund für ihre Traurigkeit. Das schlechte Gewissen überkommt mich, aber jetzt ist nicht der Moment, um ehrlich zu sein. Vielleicht kommt dieser Moment nie. Obwohl ich es mir so sehr wünsche. Aber ich weiß nicht, wie ich es jemals sagen soll.

,,Du hast Recht", sage ich wieder. Sie hebt den Kopf und schaut mich an. Für einen Moment schließt sie die Augen, dann kommt sie auf mich zu, bleibt einen halben Meter vor mir stehen.

,,Vertraust du mir nicht?"

,,Nein, natürlich nicht. Ich kenne dich nicht", sage ich unbedacht und bereue es sofort. Aber ich kann es auch nicht zurücknehmen. Meine Worte waren schließlich nicht die Unwahrheit. Wenigstens dieses Mal. Sie zieht eine Augenbraue hoch und nickt. Ihr Blick verfinstert sich.

,,Gut zu wissen."

,,Es tut mir leid, ich ...", fange ich an, unterbreche mich aber selbst, weil ich gar nicht weiß, was ich sagen soll.

,,Schon gut", als sie an mir vorbeiläuft, stößt sie mir absichtlich gegen die Schulter und gibt ein verächtliches Schnauben von sich.

,,Linea", versuche ich es noch einmal, aber sie ignoriert mich. So geht es noch einige Minuten weiter, bis ich sie schließlich an der Schulter festhalte. Sie versucht sich zu befreien, scheitert aber kläglich.

,,Lass mich los, Arschloch", faucht sie und tritt mir überraschend heftig auf den Fuß. Ich lockere den Griff so weit, dass sie sich befreien kann.

,,Bist du verrückt? Du kommst nie wieder zurück, wenn du mich bewegungsunfähig machst."

,,Ich brauche deine Hilfe nicht, oder hast du vergessen, dass bisher ich dich geführt habe? Also, was willst du, Arschloch?"

,,Hör auf mich zu provozieren", seufze ich.

,,Ich mache das so lange, bis ich mit deiner Antwort zufrieden bin", sagt sie. Je nach Interpretation ihrerseits könnte das also ewig so weitergehen. Toll. ,,Ich weiß nicht mal mehr, wie du heißt, Arschloch", fuchtelt sie mit der Hand vor meinem Gesicht herum, was unglaublich amüsant aussieht. Doch ich verkneife mir ein Lächeln, denn das würde mir nicht gut tun. ,,Dann mach dich auch darauf gefasst, dass ich dich jederzeit mit deinem neuen Namen anrede."

,,Jederzeit?"

,,Ja und du kannst es nicht verhindern, Arschloch."

Ich lache frustriert und drücke sie an mich. Sie schaut mich unter dichten Wimpern misstrauisch an, wehrt sich aber nicht, als ich ihr die Haare hinters Ohr streiche und sie hart küsse. Sie erwidert den Kuss, hält aber ansonsten Abstand. ,,Wirst du meinen neuen Namen auch heute Nacht schreien?", meine Worte haben genau die Wirkung, die ich mir erhofft hatte: Sie dreht verlegen den Kopf weg und rückt ein Stück von mir ab. Ihr Kopf ist immer noch hochrot, als sie mich schließlich wieder ansieht.

,,Ich glaube, das musst du selbst herausfinden", sagt sie und geht weiter, während sie mir über die Schulter ein fast schüchternes Lächeln schenkt. Aber ich bin mir sicher, dass sie nur so tut. Diese Frau wird mir noch zum Verhängnis werden. Schnell renne ich ihr hinterher.

,,Also, kommst du heute Abend zu mir?"

,,Lass dich überraschen", sagt sie, ohne mich anzusehen.

,,Aber ich muss es jetzt wissen."

,,Warum? Musst du dann der anderen Frau absagen?", fragt sie und bleibt stehen, zwingt mich auch stehen zu bleiben.

,,Denkst du, du bist mir lieber als die andere Frau?"

,,Arsch."

,,Du hast damit angefangen", erinnere ich sie und blicke an ihr vorbei. Das Zentrum von Zone 1 ist noch ziemlich weit entfernt, wir werden sicher einige Stunden unterwegs sein. Eigentlich sollten wir nicht trödeln, aber ich weiß genau, dass die Zeit mit ihr zu kurz sein wird.

,,Hab ich nicht, Arsch", sagt sie genervt und setzt sich wieder in Bewegung. Ich seufze genervt und nicke.

,,Komm einfach, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.", erinnere ich sie und gebe ihr einen leichten Klaps auf den Po. Sie funkelt mich an, setzt sich dann aber endlich in Bewegung. 




Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top