Kapitel 47

-Kian 22. Januar, 54 nach Gründung-


Es muss eine halbe Ewigkeit her sein, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Jedenfalls kommt es mir so vor, nicht dass es mich groß gestört hätte. Schweigend betrachten wir die schwere, schwarze Rauchwolke, die noch eine ganze Weile aufsteigt. Erst jetzt bemerke ich, dass sie immer noch mein Handgelenk umklammert hält, als würde sie sonst umfallen. Doch als sie meinen Blick bemerkt, scheint sie es zu begreifen und lässt los. Auch wenn ich eigentlich nicht vorhabe, darüber zu reden, ist es doch ein wenig unlogisch, dass wir in einem Moment fast übereinander herfallen und im nächsten Moment schweigen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass sie darüber reden wollte, schließlich konnte sie sonst auch nicht den Mund halten. Wobei das eines der Dinge war, welche ich an ihr besonders mochte.

„Du hast gesagt, du hättest fast dein Bein verloren. Was hast du damit gemeint?", fragt sie. Obwohl es sicher nur ein Versuch ist, ein Gespräch in Gang zu bringen, scheint sie wirklich interessiert zu sein. Ich schaue sie an und überlege, wie ich aus der Sache wieder herauskommen kann, aber sie würde sowieso nicht locker lassen. Wieder etwas, dass ich an ihr besonders mochte.

„Das Feuer hat es verbrannt und die herumfliegenden Teile haben ihr Übriges getan", sage ich. Die Erinnerung daran lässt mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

„Und wie kommt es, dass es wieder funktioniert?", fragt sie neugierig wie immer.

„Ein Mitglied war Arzt, du kennst ihn nicht. Er ist kurz danach gestorben. Er hat das gemacht. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Aber mein Gehör hat er nicht wieder hinbekommen, jedenfalls mein linkes Ohr nicht. Aber wenigstens geht mein Bein wieder", erzähle ich abwesend.

„Was ist denn damit passiert?", fragt sie und zeigt auf das noch verletzte Ohr.

„Keine Ahnung, ich höre einfach nichts mehr. Immerhin habe ich zwei Ohren", antworte ich spöttisch. Ich muss zugeben, dass ich es selbst nicht mehr so richtig merke.

„Und was ist mit Eleonora?", fragt sie schließlich. Die hat sie natürlich nicht vergessen.

„Du bist verdammt neugierig", seufze ich, woraufhin sie mich schief anlächelt.

„Oh ja. Ich habe nur nachgedacht. Ob, na ja. Ob du der Vater ihres Kindes bist", sagt sie und wird so rot, dass sie den Kopf abwendet. Ich lache leise und schüttle den Kopf.

„Du bist ziemlich aufdringlich."

„Du hast mich und Jaron belauscht", ich beiße mir auf die Lippen, als sie wieder Jaron erwähnt. Konnte sie nicht endlich aufhören, diesen dämlichen Typen zu erwähnen, als wäre es das Normalste der Welt. Aber es macht mich wütend. Warum dachte sie überhaupt noch an ihn?

„Glaub mir, ich wünschte, ich hätte es nicht getan", sage ich grimmig und verdrehe die Augen. Sie lächelt verlegen, doch ihr Lächeln ist das schönste, das ich je bei einem Menschen gesehen habe. „Nein, ich bin definitiv nicht der Vater ihres Kindes und im Gegensatz zu Jaron habe ich ihr auch nicht die Zunge in den Hals gesteckt, falls du das meinst", ihr Blick ist fast angewidert, aber auch Verwirrung schwingt darin mit.

„Warum sollte man jemandem die Zunge in den Hals stecken?", fragt sie mich.

„Wow, du bist ja wirklich komplett unschuldig. Aber egal. Ich wollte nur sagen, dass Eleonora und ich nur befreundet sind, wenn es dich beruhigt", sage ich spöttisch und lehne mich ein wenig zurück. Ich bin ziemlich müde, es war ein anstrengender Tag.

„Warum sollte mich das beruhigen? Ich dachte nur... Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Vielleicht bin ich einfach zu neugierig." Mein Gesichtsausdruck wird ernster, mein Blick ist starr auf meine Schuhe gerichtet. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, nicht einmal mit Isabella oder Eleonora. Obwohl Isabella immer gerne über sie gesprochen hat.

„Das ist wegen meiner Mutter. Sie und Eleonora haben eine ähnliche Geschichte, also was mich und Eleonoras Kind betrifft", gebe ich schließlich zähneknirschend zu. Erstaunen liegt in ihrem Blick, mit so einer Antwort hat sie sicher nicht gerechnet, wie auch?

„Du meinst, deine Mutter hat auch ohne Erlaubnis ein Kind bekommen, dich?", ich muss nicht antworten, sie weiß es sowieso. Trotzdem tue ich es.

„Ja, sie war eine Kinderfrau. Sie war mit meinem Vater zusammen, wer auch immer das war, und sie wurde schwanger. Sie konnte es nicht verheimlichen und, na ja, du weißt schon. Es war wie bei Eleonora. Aber sie konnte fliehen", ich weiche ihrem Blick aus. Ich wusste selbst nicht genau, warum es mich so störte. Vielleicht, weil man mich als Kind damit geärgert hatte. Obwohl ich am wenigsten dafür konnte, hatte ich es mir bestimmt nicht ausgesucht, so geboren zu werden.

„Und was ist damals mit dir passiert?", fragt sie neugierig.

„Sie hat mich zu Isabella gebracht, sie hat sich immer um mich gekümmert, egal wie viel Ärger sie bekommen hat, und irgendwann haben sie es ihr erlaubt, auch wenn sie es sowieso getan hätte."

„Und woher weißt du das alles? Hat Isabella dir alles erzählt?"

„Es wurde immer über mich geredet, irgendeine Kinderfrau hat sich wohl verplappert und das habe ich natürlich mitbekommen. Also habe ich mit Isabella gesprochen und sie hat mir schließlich alles erzählt. Meine Mutter hatte ihr gesagt, dass sie es verheimlichen soll, damit es für mich leichter ist".

„Das muss eher schwer für dich gewesen sein", sagt sie mitfühlend. Ich lächle verkniffen. Sie hatte keine Ahnung, wie anstrengend es war, mir irgendwie diesen Platz zu verschaffen. Meine Herkunft war einer der Gründe für meine Narben, auch wenn ich ihr das beim letzten Mal nicht erzählt hatte. Die Kinderfrauen hatten meine Mutter gekannt und gehasst. Egal wie sehr Isabella versucht hatte, mich zu beschützen, sie hatte es nicht geschafft. Aber ich würde ihr das nie übel nehmen, ich war froh, dass sie das Schlimmste verhindert hatte.

„Warum? Ich war nicht derjenige, der das durchmachen musste. Ich war also nie wirklich benachteiligt. Aber für meine Mutter tut es mir natürlich leid", sage ich mit ruhiger Stimme, obwohl ich innerlich angespannt bin.

,,Ich glaube dir nicht, dass du das nicht durchmachen musstest", flüstert sie vorsichtig. Ich zucke mit den Schultern und presse meinen Kiefer aufeinander.

,,Du kannst glauben, was du willst, Linea", sage ich scharf, um die Diskussion zu beenden. Sie sieht mich durchdringend an, dann nickt sie.

„Danke, dass du mir das erzählt hast, das war bestimmt nicht leicht."

„Dafür musst du mir jetzt von dir erzählen, damit es fair bleibt", sie legt den Kopf schief und scheint nachzudenken.

„Was willst du denn wissen?"

„Ich weiß nicht, wie es war, eine Mutter zu haben. Das kann ich mir nur schwer vorstellen", antworte ich. Eigentlich war mir diese Frage noch nie in den Sinn gekommen, aber Lineas Vergangenheit interessierte mich auch mehr als die der anderen.

„Es war wirklich schön, aber sie hat fast jedes Jahr entweder eine Tochter für immer verloren und ihre Söhne sofort. Ich glaube, sie hat es irgendwann aufgegeben, eine emotionale Bindung aufzubauen", sagt sie bedauernd. Ich kann es mir nicht genau vorstellen, schließlich war es für mich nicht greifbar, ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach war. Aber immerhin hatte sie das Glück, in einer Familie aufzuwachsen. Sie war sicher anders geprägt als ich. Ich war selbstständiger. Sie emphatischer. Hilfsbereiter. Sozialer. Eigenschaften, die mir eher gefehlt haben.

„Das klingt anstrengend", bemerke ich.

„Ja, das ist es auch", sagt sie nur, und ich merke, dass sie viel mehr darüber nachdenkt, als sie nach außen zeigt. Was ich ihr nicht verübeln konnte, immerhin tat ich dasselbe. Sie starrt mich an, ohne mich wirklich zu sehen. Es tut mir sogar ein bisschen leid, sie gefragt zu haben, denn ich sehe die Tränen in ihren Augen. Doch sie zwingt sich zu einem Lächeln und wirft einen Blick auf den immer noch rauchenden Transporter. „Passiert das oft? Ich meine, dass eine Frau, die keine Mutter ist, ein Kind bekommt?", fragt sie mich schließlich. Ich wende meinen Blick von ihr ab.

„Ich glaube nicht. Das wird natürlich geheim gehalten, so gut es geht. Aber so viele Möglichkeiten gibt es wohl nicht. Außerdem wissen die meisten inzwischen, dass sie es nicht riskieren sollten", antworte ich nachdenklich.

„Hast du das in der Schule gelernt? So etwas haben wir jedenfalls noch nie gehört", fragt sie unbedarft. Ich lache wieder, bin froh über die Ablenkung. Dann sehe ich sie an und schüttle den Kopf.

„Nein, warum sollte man uns das beibringen? Das lernt man doch auch von alleine. Manchmal auch aus Büchern", sage ich grinsend und zwinkere ihr zu. Sie verdreht die Augen. Ich frage mich, ob sie auch mit Jaron darüber gesprochen hat. Ich hoffe nicht.

„Das habe ich mir schon gedacht", sagt sie.

„Du kannst ja deinen Lehrling fragen, der scheint sich damit auszukennen", ärgere ich sie. Aber nur, um herauszufinden, ob sie überhaupt etwas weiß. Aber ihre Antwort überrascht mich.

„Weißt du, ihr solltet euch anfreunden oder wenigstens netter zueinander sein. Immerhin arbeitet ihr zusammen an einer Aufgabe."

„Vielleicht, aber ich glaube, ich habe keine Lust dazu."

„Du bist so verdammt stur. Oder weißt du, dass ich Recht habe und willst es nur nicht zugeben?", fragt sie aufgebracht und stemmt die Hände in die Hüften.

„Vielleicht sollten wir gehen", antworte ich etwas schroffer als beabsichtigt, anstatt auf ihre Frage einzugehen. Langsam erhebe ich mich und reiche ihr die Hand, doch sie nimmt sie nicht. Natürlich nicht.

„Warum willst du meine Frage nicht beantworten?", fragt sie stattdessen. Ich lege den Kopf schief.

„Du hast nicht recht, zufrieden? Und ich will deine Frage beantworten, aber es wird schon dunkel. Ich dachte, du willst nach Hause oder dein Lehrling macht sich Sorgen, was auch immer." Es war tatsächlich schon dunkel geworden und ich wollte nicht im Dunkeln diesen Berg hinunterlaufen

„Ich... wenn es dir nichts ausmacht, würde ich noch bleiben, wenn du noch willst", sagt sie zu meiner Überraschung. Gleichzeitig bin ich erleichtert, denn trotz allem verbringe ich gerne Zeit mit ihr. Vielleicht ein bisschen zu gerne.

„Du willst hier bleiben, obwohl ich hier bin?", in meiner Überraschung schwingt auch Spott mit.

„Na ja, du bist ja sowieso schon hier, da kann ich wohl nichts machen", sagt sie, lächelt aber sanft.

„Ich kann auch deinen Arzt holen, wenn dir das lieber ist", ich meine es offensichtlich nicht ernst, aber sie schüttelt schnell den Kopf. Was mich mit Genugtuung erfüllt.

„Nein, ich... ich glaube nicht, dass das heute nötig ist." Nervös zupft sie an ein paar Grashalmen, weicht meinem Blick aus. „Es ist irgendwie schwierig. Er ist immer da und er engt mich ein, ich habe das Gefühl, ich kann nicht atmen und es nervt, dass er die ganze Zeit so nah bei mir ist", sie scheint ihre Worte gleich wieder zu bereuen, denn sie beißt sich so fest auf die Lippe, dass sie zu bluten beginnt. Kurz hebe ich die Hand, um das Blut abzuwischen, doch dann zögere ich. Ich schaue in ihre Augen, die jetzt riesengroß sind, dann lasse ich einen Finger über ihre Lippe streichen. Sie hält den Atem ein paar Sekunden zu lange an, denn als sie sich fängt, zieht sie scharf die Luft ein. „Entschuldige, ich weiß nicht, warum ich dir das gesagt habe", sagt sie und beißt sich wieder auf die Unterlippe. Ich lächle und weiß in diesem Moment, dass ich eine Chance hätte, wenn ich mich nicht zu dumm anstellen würde. Oder wenn ich das ganze nicht absichtlich sabotieren würde, um uns beide vor den Konsequenzen zu beschützen.

„Soll ich dir einen Tipp geben oder was erwartest du? Ich habe keine Ahnung von Beziehungen."

„Ich will keinen Tipp von dir."

„Okay. Aber warum sagst du es mir und nicht einfach ihm?" Sie zuckt mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, er ist so ...", ich unterbreche sie, denn sie würde sicher nettere Umschreibungen finden als ich.

„Anhänglich? Hilfsbedürftig? Erbärmlich?", schlage ich vor. Böse funkelt sie mich an. Das war's wohl mit meiner Chance. Idiot.

„Er ist sicher ein besserer Mensch als die meisten Männer, die ich kenne", knurrt sie und schaut mich dabei etwas zu ernst an. Ich nicke und rücke ein Stück von ihr ab. In ihrem Blick liegt Bedauern, aber sie sagt nichts.

„Ich... will nicht über ihn reden", sage ich schließlich leise. Eigentlich stört es mich mehr, dass sie ihn verteidigt, als mir lieb ist. Eigentlich sollte mich das alles kalt lassen.

,,Tut mir leid, erzähl mir lieber von deiner Ausbildung, wie war das?", Das schlechte Gewissen ist ihr anzumerken.

„Anstrengend", antworte ich, wieder mit diesem arroganten Lächeln auf den Lippen, das ich in den letzten Jahren perfektioniert habe. Sie verdreht trotzdem die Augen und steht auf, aber ich halte sie zurück.

„Okay, dann lass uns gehen", sagt sie genervt.

„Warum? Willst du jetzt keine Zeit mehr mit mir verbringen?", frage ich spöttisch.

„Aber du bist fast genauso anstrengend. Dann kann ich ja gleich nach Hause gehen", wirft sie mir vor.

„Du brauchst jetzt nicht beleidigend zu werden", antworte ich gespielt entsetzt, woraufhin sie lächelt, aber die Augen verdreht. Irgendwann wird es ihnen noch schaden, wenn ich weiter in ihrer Nähe bleibe und sie nerve.

„Ich bin beleidigend? Hörst du dir auch nur eine Sekunde am Tag zu?", fragt sie spöttisch.

„Warum ich? Was mache ich denn?", antworte ich.

„Du hast mir zum Beispiel gedroht, dass ich diese Mission nicht bestehe", sagt sie und klingt ziemlich verletzt. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mich so hart ausgedrückt habe.

„Das war nicht beleidigend gemeint. Ich habe nur an deine Fähigkeiten gedacht."

„Woher willst du wissen, was meine Fähigkeiten sind?", protestiert sie und verschränkt wieder ihre dünnen Arme vor der Brust.

„Du hast vor dem Training noch nie eine Waffe in der Hand gehalten. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass du dich so gut anstellst", versuche ich es freundlicher. Erstaunt blinzelt sie. Ihre Arme lösen sich und ein Lächeln huscht über ihre Lippen.

„Du kannst also doch nett sein", sagt sie mit gespielt schockiertem Blick. Ich lache und verschränke schließlich meine Finger mit ihren, immer noch ihre Hand festhaltend, von ihrem Versuch mir zu entkommen. Aber sie wehrt sich nicht. Tatsächlich fühlt es sich ziemlich normal an, als würden wir das ständig tun. „Weil ich nicht sage, dass du dabei aussiehst, als hättest du Angst, dich zu erschießen", flüstere ich.

„Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht", sagt sie mürrisch.

„Nein, ich finde, du machst deine Sache gut. Vor allem, wenn man bedenkt, wie kurz du schon dabei bist. Es tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe", sage ich ehrlich und sie lächelt wieder.

„Danke. Mir tut es auch leid."

„Du hast mich nie beleidigt, glaube ich", bemerke ich.

„Ich meinte, was ich über dich gedacht habe", antwortet sie.

„Und was hast du über mich gedacht?", frage ich vorsichtig und leise. Sie zögert, aber dann sieht sie mich wieder an. Ich lehne mich ein wenig vor, beobachte sie genau. Ich weiß genau, dass ich sie nervös mache, denn mit der freien Hand zupft sie wieder im Gras und ihr Blick löst sich von meinem.

„Ich dachte, du wärst ein Arsch mit übertriebenem Selbstbewusstsein", sagt sie ernst, was mich wieder zum Lachen bringt. Wahrscheinlich habe ich in den letzten Jahren nicht so viel gelacht, wie in ihrer Gegenwart.

„Und das glaubst du jetzt nicht mehr?", sie schüttelt den Kopf. Ihr Gesicht hat die Farbe einer Tomate angenommen.

„Nicht mehr so oft", lächelt sie, ihr Blick flattert kurz.

„Wie nett. Vielen Dank. Das schreibe ich mir in mein Tagebuch", sage ich spöttisch und sehe ihr tief in die Augen. Für eine winzige Sekunde frage ich mich, wie es wäre, sie noch einmal zu küssen, aber ich schiebe den Gedanken schnell beiseite, es ist dumm. Ich sollte das nicht wollen. Sie scheint genauso zu denken. Ihr Blick fällt wieder auf mein Bein, das immer noch ausgestreckt da liegt.

„Darf ich es sehen?", fragt sie zögernd und deutet mit dem Kinn darauf. Es ärgert mich ein wenig, dass sie es wieder zum Thema macht, aber eigentlich bin ich froh über den Themenwechsel.

„Du willst mein Bein sehen? Das hättest du doch vorhin beim Umziehen machen können", erinnere ich sie.

„Ja, aber da habe ich dich nicht angeschaut und außerdem wusste ich noch nichts von dem Bein." Ich zögere, nicke aber schließlich ergeben. Wahrscheinlich könnte ich ihr sowieso nichts abschlagen. Und ich wusste genau, dass sie nicht locker lassen würde.

„Na gut, wenn du das willst. Du hast übrigens etwas verpasst", sage ich augenzwinkernd. Sie verdreht die Augen und klopft mir leicht auf die Schulter. Aber sie kann ihr Grinsen nicht verbergen.

„Da bin ich mir sicher. Aber falls du dich erinnern kannst habe ich dich bereits halbnackt gesehen", sagt sie ungeduldig.

Noch einmal schaue ich sie an, dann ziehe ich mit einem übertriebenen Seufzer das linke Hosenbein bis knapp über das Knie hoch. Das schwache Licht einer Straßenlaterne verrät zum Glück nicht alles. Denn ich weiß, wie scheußlich es bei Tageslicht aussieht. Ich kenne jede Narbe, jede Brandwunde. Ich erinnere mich an all die mitleidigen Blicke, an all die Fragen, ob es schon besser geworden sei. Ich erinnere mich an meine Schreie und die vielen Versuche, möglichst irgendetwas zu retten.

Die Haut ist ungewöhnlich rosa, fast am ganzen Bein. An manchen Stellen ist sie so dunkel wie der ausgebrannte Lieferwagen unten. In der Haut befinden sich auch unzählige kleinere und größere Narben, die von den herumfliegenden Teilen verursacht wurden. Der Anblick schockiert sie sichtlich. Zu meinem Bedauern sehe ich schon, wie ihr die Tränen in die Augen schießen. Ich wollte sie nicht erschrecken.

„Es tut mir wirklich leid", sagt sie und schaut mich genauso mitleidig an wie die anderen. Ich hatte gehofft, es würde aufhören, aber es schien, als würde es nie aufhören.

„Ja, sieht scheiße aus, passt nicht zum Rest meines fast perfekten Aussehens", spotte ich, um uns aus der schlechten Stimmung zu befreien. Auch wenn es ein blöder Witz war.

Wütend fährt sie mich an: „Kannst du nicht einmal ernst bleiben?" Erschrocken über den Klang ihrer Stimme sehe ich sie wieder an. Schnell wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht, die ihr inzwischen über die Wangen gekullert sind.

„Es tut mir leid, ich mache das immer so, schätze ich." Sie nickt nur, funkelt mich aber immer noch wütend an.

„Nein, es tut mir leid", sagt sie schließlich. „Darf ich es anfassen?", fügt sie zögernd hinzu. Ich schaue sie zweifelnd an, so etwas hat bestimmt noch nie jemand gefragt. Die anderen ekelten sich zu sehr davor und die Ärzte taten es einfach.

„Wenn es dich glücklich macht", sie verdreht die Augen, tut es aber trotzdem. Ich hätte wetten können, dass sie es nicht tut. Vorsichtig streicht sie an einer sehr langen, waagerechten Narbe entlang, die sich fast um die Hälfte meines Oberschenkels zieht. Ich zucke leicht zusammen. Sofort stoppt sie und nimmt ihre Hand von mir. Es ist nicht der Schmerz, der mich zusammenzucken lässt, ich spüre sowieso wenig, da die Nerven verletzt sind. Es ist aber einfach ungewohnt, vorallem weil ich gehofft hatte, dass sie es niemals sehen würde. 

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