Kapitel 42

-Linea, 31. Dezember, 53 nach Gründung-


Ich lehne mich an die Wand und bereite mich innerlich darauf vor, was sie mir an den Kopf werfen wird, aber sie tut es mir gleich und starrt auf die gegenüberliegende Wand. Nur ab und zu wandert ihr Blick zu mir, als hoffe sie, dass ich zu sprechen beginne. Aber dazu bin ich zu stur. Und das weiß sie auch.

„Also, seit wann läuft das zwischen euch?", fragt sie schließlich. Ich zögere, schließlich ist sie auch mit Jaron befreundet. Aber ich will sie nicht anlügen, also antworte ich wahrheitsgemäß: „Seit er mich geschlagen hat, also nicht ständig, aber... keine Ahnung". Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippen und konzentriere mich auf meine Füße. Wieder schweigt sie.

„Ich verurteile dich nicht, ich will nur, dass du... aufpasst", sagt sie schließlich und ihre Stimme klingt so sanft, dass ich ihr alles glaube. Auch wenn ich mich selbst verurteile. Ich runzle die Stirn und schaue sie an.

„Was genau meinst du damit?", frage ich. Natürlich weiß ich, dass das vielleicht nicht die beste Art ist, mit ihr zu reden, aber ihre Stimmung lässt vermuten, dass sie sich um etwas anderes Sorgen macht. Sie weicht meinem Blick aus und zuckt mit den Schultern.

,,Es ist... keine Ahnung. Ganz ehrlich, ich traue ihm nicht, aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, schließlich kennt Isabella ihn schon ihr ganzes Leben lang. Aber, na ja, er hat seinen Ruf", sagt sie ruhig und schaut mir endlich wieder in die Augen. Ich denke über ihre Worte nach, am Anfang habe ich auch gedacht, dass man ihm nicht trauen kann, aber das hat sich geändert, als ich ihn halb tot dort liegen sah. Oder mehr als halb tot. Ich vertraue ihm. Jedoch verursachen ihre anderen Worte ein schlechtes Gefühl in mir.

„Was meinst du mit Ruf?", frage ich, ohne zu wissen, ob ich das wirklich hören will. Meine Stimme ist so leise, dass Anisa tröstend meine Hand nimmt und sie sanft mit dem Daumen streichelt.

„Na ja, ich habe gehört, dass er mit einigen der Rebellinnen ... etwas gehabt haben soll. Und wenn mit denen was war, dann bestimmt auch mit Frauen draußen, also..." Ich unterbreche sie mit einem Kopfschütteln und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich schockiert bin, er hatte nicht wie jemand gewirkt, der überhaupt Zeit für so etwas hatte. Und auch nicht wie jemand, der sich dafür interessieren könnte. Andererseits hatte er nicht wirklich gezögert. Eigentlich zu keinem Zeitpunkt. Streng genommen hatte ich den ersten Schritt gemacht, aber er hätte mich auch einfach ignorieren können, bis ich gestorben wäre.

„Es interessiert mich nicht, was er vorher gemacht hat", ich konnte ja nicht einmal sagen, was da zwischen uns war. Und ob da überhaupt was war. Wobei es mittlerweile schon ein paar Mal zu oft passiert war, um noch sagen zu können, dass da nichts war. Andererseits war ich vielleicht auch leicht zu erreichen. Jedenfalls für ihn. Dass ich ihn irgendwie ein wenig mag, kann ich mittlerweile kaum noch leugnen. Noch immer spüre ich ihren Blick auf mir ruhen und als ich in ihre tiefblauen Augen schaue, spüre ich, dass sie mir noch mehr zu sagen hat.

„Zwischen Tyra und ihm ist auch etwas, Linea", sagt sie schließlich und ich kann den Ekel in ihrer Stimme förmlich spüren. Etwas in mir zerbricht, als sie ihren Satz ausspricht. Mein Herz zieht sich zusammen vor Enttäuschung, denn sie hat nicht gesagt, dass zwischen den beiden etwas war, sondern dass zwischen ihnen etwas ist. Und das ändert alles. Er hatte mich angelogen. Er hätte sich nicht geopfert, weil er nicht daran gedacht hätte, sondern weil sie ihm etwas bedeutete oder zumindest wichtiger war als andere. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass er sie vielleicht kurz zuvor mit denselben Fingern berührt hat, dass seine Lippen ihre berührt haben, dass er sie genauso angelächelt hat wie mich.

„Alles in Ordnung?", reißt mich Anisa aus meinen Gedanken. Zögernd nicke ich. Nichts ist gut, andererseits kenne ich wenigstens die Wahrheit, er hätte sie mir wahrscheinlich nicht gesagt. Trotzdem habe ich leise Zweifel. Vielleicht hoffe ich einfach, dass es so ist. Auch wenn ich mich schon gefragt habe, ob er und Tyra sich näher stehen, als ich dachte.

„Ja, alles in Ordnung. Ich gehe jetzt in den Trainingsraum", sage ich leise und drehe mich schon um. Sie hält mich an der Schulter fest.

„Soll ich mitkommen?", fragt sie leise.

„Nein, ich... möchte in Ruhe trainieren", antworte ich und schenke ihr ein kleines Lächeln. Bevor ich weitergehen kann, zieht sie mich an sich und küsst mich auf die Wange.

„Es tut mir so leid", ich lächle falsch und wende mich endgültig ab.



Erst im Trainingsraum erlaube ich mir zu weinen, aber erst, nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich allein bin. Aber nur eine Minute, es ist sowieso nicht genug passiert, um deswegen Tränen zu vergießen. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt weine. Mehrmals habe ich mir vorgenommen, es einfach sein zu lassen, hätte ich mich daran gehalten, hätte ich keinen Grund gehabt, traurig zu sein. Es ist meine eigene Schuld. Obwohl er ehrlich schien, hätte ich daran denken sollen, dass nicht jeder ein guter Mensch sein kann.

Und dann nutze ich die Wut, die sich in mir aufgestaut hat, und kämpfe mit den Trainingspuppen, die die Rebellen gestohlen haben. Natürlich sitzt nicht jeder Schlag, die Wut rauscht so in mir, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Trotzdem kann ich ein paar gute Treffer landen. Ich bin so in das Zerstören der wenigen Übungspuppen vertieft, dass ich erschrecke, als meine Energie endlich am Ende ist und ich aus dem Fenster schaue. Es ist stockdunkel, Stunden müssen vergangen sein. Obwohl ich völlig außer Atem bin, bin ich froh, dass ich es geschafft habe. Ich fühle mich deutlich besser und das Training hat mir gut getan. Ich konnte meine Gedanken abschalten, musste mal nichts fühlen oder denken.
Doch das ändert sich schlagartig, als ich mich umdrehe und er an der Tür lehnt. Erschrocken trete ich einen Schritt zurück, als er auf mich zukommt.

„Das war gut", sagt er so leise, dass die Wut in mir wieder hochkommt. Ich balle meine Hände zu Fäusten und starre ihn wütend an. Er bleibt gut einen Meter vor mir stehen. Aber ich verringere den Abstand zwischen uns und bleibe kurz vor ihm stehen, aber nur, um ihm mit der Hand ins Gesicht zu schlagen. Er scheint nicht überrascht zu sein, versucht aber auch nicht, mich wegzustoßen, obwohl ich nicht schnell genug bin. Wahrscheinlich weiß er selbst, dass er es verdient hat. Er verzieht das Gesicht vor Schmerz und flucht leise, sehr zu meiner Freude. Wortlos gehe ich an ihm vorbei, doch er folgt mir und hält mich fest. Wütend winde ich mich aus seinem Griff.

„Bleib doch einmal hier, versuch nicht immer zu verschwinden und lass uns reden. Bitte, Linea", sagt er mit ruhiger Stimme. Ich schaue ihn so gleichgültig wie möglich an. Auch wenn der Klang meines Namens aus seinem Mund mich immer wieder schwach werden lässt.

„Ich habe dir nichts zu sagen", sage ich mit ruhiger Stimme, obwohl Wut durch meine Adern rauscht.

„Aber ich habe dir eine Menge zu sagen", erwidert er, und seine Stimme wird unruhig. Ich zucke mit den Schultern.

„Das ist mir eigentlich egal", erwidere ich. Er seufzt und greift wieder nach meiner Hand, lässt seine aber sinken, bevor er mich berührt.

„Bitte." Seine Stimme und sein Blick sind so flehentlich, dass ich notgedrungen schwach werde. Wofür ich mich verfluche. Er sollte nicht so eine Wirkung auf mich haben, das ist absolut unfair. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es ihn kalt lassen würde, wenn ich das Gleiche mit ihm versuchen würde.

„Also, was ist deine Ausrede?", zum ersten Mal frage ich mich, woher er überhaupt zu wissen scheint, dass ich von dem ganzen weiß. Eigentlich kann es ihm nur Anisa erzählt haben. Wann das wohl passiert ist?

„Ich habe keine Ausrede", sagt er schließlich.

„Du hattest lange genug Zeit, dir eine zu überlegen", antworte ich ihm verächtlich. Er zuckt leicht zusammen, aber sein Blick bleibt ruhig.

„Ich habe nicht vor, dich anzulügen", erwidert er gereizt. Ich lache leise und starre ihn ungläubig an.

„Jetzt auf einmal?"

„Ich habe dich noch nie angelogen", antwortet er. Ich kann nichts erwidern, denn er hat nicht Unrecht. Jedenfalls weiß ich nicht, ob er mich jemals angelogen hat.

„Es tut mir leid, aber ich... Du bist nicht zurückgekommen und hast mich verwirrt. Das wollte ich nicht." Ich sehe ihn mürrisch an und schüttle den Kopf.

„Dann ist es also meine Schuld, habe ich dich dazu gezwungen?", Er stöhnt auf.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe auf dich gewartet und du... naja und sie war immer da und dann ist es passiert. Ich bin nicht stolz darauf", die Verzweiflung in seiner Stimme ist nicht zu überhören, aber sie stimmt mich nicht milder.

„Dann ist es also ihre Schuld?", frage ich vor Wut schäumend. Meine Hände zittern davon so sehr, dass ich sie in meiner Jackentasche verstecken muss.

„Verdreh mir nicht die Worte. Nein, natürlich nicht. Wir haben uns eben gut verstanden" Ich schnaube. So kann man es auch ausdrücken.

„Das freut mich, es tut mir leid, dass ich überhaupt wieder gekommen bin, ich wollte euch bestimmt nicht im Weg stehen", fauche ich wütend. Verlegen schaut er mich an und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Ich spüre, dass er verwirrt ist, aber es ist mir egal.Aber als er eine ganze Minute nichts sagt, drehe ich mich wieder um und will gehen. Endlich erwacht er zu neuem Leben und stellt sich mir in den Weg.

„So habe ich das nicht gemeint. Ich... du machst mich nervös", gibt er zu.

„Denk dir schnell was Dummes aus, ich habe nicht ewig Zeit", knurre ich.

„Ich habe...mir mit vielen Frauen die Zeit vertrieben, aber es hat nie etwas bedeutet und es war okay. Aber du ... das ist etwas anderes. Ich würde jede einzelne von ihnen und alle zusammen für dich eintauschen. Du bist mir sehr wichtig. Auch wenn ich für dich alle meine Prinzipien aufgebe." Mein verdammtes Herz verrät mich, setzt einen Schlag aus und scheint dann nur noch zu rasen. Ungläubig schaue ich ihn an. Das hatte fast wie eine Liebeserklärung geklungen, wenn er so etwas überhaupt empfinden konnte. Mein Mund ist so trocken, dass ich kaum sprechen kann.

„Triffst du dich noch mit ihr, seit... wir uns wiedergesehen haben?", frage ich leise und senke den Blick. Eigentlich hat es keinen großen Unterschied gemacht, aber irgendwie hoffe ich, dass unser Wiedersehen etwas verändert hat. Als ich wieder aufblicke, sieht er mich mit einem festen Blick an.

„Nein, Linea", sagt er.

„Oh", sage ich leise und sehe ihn prüfend an, da ich sehen will ob er die Wahrheit sagt. Aber ich hätte seine Lüge sowieso nicht erkennen können. „Wirklich nicht?", frage ich zweifelnd.

„Nein, wirklich nicht", antwortet er und berührt meine Hand sanft mit seinen Fingerspitzen. Ich will sie ihm entziehen, aber ich tue es nicht. Wahrscheinlich bin ich zu dumm dafür. Und seine Macht über mich zu groß.

„Du kannst es ruhig weiterhin tun...ich...es macht mir nichts aus", lüge ich, will meine Worte am liebsten zurücknehmen. Er sieht mich finster an.

„Ich brauche deine Erlaubnis nicht, Linea."

„Ich weiß, ich dachte nur. Du musst keine Rücksicht auf mich nehmen oder so", sage ich. Er lacht frustriert.

„Linea, ich werde keine Rücksicht auf dich nehmen, du hast schließlich auch keine Sekunde daran gedacht, auf mich Rücksicht zu nehmen", seine Stimme ist so kühl, dass ich zurückweiche. Er wirkt verletzt, aber das bin ich auch. Obwohl er vollkommen recht hat. Ich habe darüber nachgedacht, dass es Jaron gegenüber unfair war, aber dass es auch ihm gegenüber unfair war, darüber habe ich nie nachgedacht. Jedenfalls nicht so oft, wie ich über Jaron nachgedacht habe. Ich senke den Blick und beiße mir auf die Lippen.

„Du hast recht, es tut mir leid", sage ich und trete noch ein Stück näher. Er legt seine Arme um mich, sein Kinn an meinen Kopf, ich lege meine Wange an seine Brust. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, dir nicht nahe sein zu können", sage ich seufzend.

„Du gibst dir auch genauso wenig Mühe wie ich mir", spottet er und küsst mich auf die Stirn. Ich schließe meine Augen und nicke leicht. Ich sauge seinen Geruch in mich auf, auch wenn er vom Training leicht verschwitzt ist, riecht er beinahe betörend.

„Vielleicht wird es einfacher, wenn wir erst einmal Abstand halten", sage ich vorsichtig. Er nickt langsam, doch dann blitzen seine Augen auf.

„Wir haben morgen Abend Training, ich ... wir. Ich kann es nicht ändern, aber danach wird jemand anderes das Training leiten", sagt er leise. Ich nicke, es sollte nicht so schwer sein, während des Trainings die Finger voneinander zu lassen. Aber heute hat es auch nicht geklappt. Ich seufze und sehe ihn durchdringend an.

„Es tut mir leid, dass es anscheinend nötig ist, so weit zu gehen", sage ich leise. Seine Arme liegen immer noch auf mir. Er nickt und streicht mir die Haare hinters Ohr.

„Ich würde jeden Schritt für dich gehen", flüstert er leise. Ich lächle, auch wenn mir genau das schwerfällt. Wir würden beide für den anderen über unsere Grenzen gehen, und das macht es so gefährlich für uns, Zeit miteinander zu verbringen.

„Ich weiß", sage ich leise und schaue zu ihm auf. Sein Blick ist gequält, aber ich halte ihm stand. 

„Küss mich, bitte. Ein letztes Mal", sage ich leise. Ohne zu zögern kommt er meiner Bitte nach. Ich lege all meine Gefühle in diesen Kuss, und er tut es mir gleich, als wollten wir uns gegenseitig beweisen, dass keiner von uns dem anderen etwas vorgemacht hat. Obwohl es unser Ende besiegelt, ist es überwältigend. Es ist, als würde ich erwachen. Es lässt mich nicht kalt, im Gegenteil. Vielleicht habe ich gedacht, dass ich für ihn leicht zu erreichen bin, aber dieser Kuss ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe. Ich habe Kian noch nie so zärtlich erlebt, aber gleichzeitig ist er verletzlich. Seine Hand zittert kaum merklich, als er mir die Tränen aus dem Gesicht wischt. Sein Atem ist ruhig, aber seine Augen glühen vor Wut. Ich muss lächeln, weil ich genauso wütend bin. Dann löst er sich so abrupt von mir, dass ich kurz taumle, aber er greift nach meinem Ellenbogen. Erst als ich wieder sicher stehe, löst er auch seine Hand von mir.

„Danke, Linea", sagt er leise, aber bevor ich ihn fragen kann, was er damit meint, lässt er mich allein.

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