Kapitel 39


-Linea, 30. Dezember, 53 nach Gründung- 


Es war eine Katastrophe, Jaron anzulügen. Nicht, dass es nicht funktioniert hätte, aber es war das Schlimmste, was ich je getan habe. Aber jetzt spiele ich meine Rolle viel zu gut, niemand hat auch nur daran gezweifelt, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Vorallem weil niemand mitbekommen hatte, dass wir für ein paar Tage nicht mehr zusammen gewesen sind. Ich hatte ihn förmlich angefleht, hatte ihm so viele Lügen aufgetischt, bis er scheinbar so verwirrt gewesen war, dass er mich zurück genommen hatte. Das schlimmste war gewesen, dass ich ihm gesagt habe, dass ich diejenige gewesen bin die verwirrt war und nur Unsinn geredet hatte. Es ist schrecklich. Ich fühle mich schrecklich. Ich will das alles nicht, aber je länger ich ihn anlüge, desto mehr Angst habe ich, es ihm zu sagen. Ich fange an zu zweifeln, ob ich mich wirklich irgendwann von ihm trennen werde und dabei dann auch bleibe. Denn er ist nicht nur ein guter Mensch, sondern auch ein guter Freund.

Ich kann mit ihm über alles reden, außer über eine Sache natürlich. Und wir verstehen uns super. Nur die Gefühle für ihn wollen sich nicht entwickeln. Ich habe gehofft, dass das noch kommt, bis ich Kian wieder gegenübertreten muss. Aber da war nichts. Wenn er mich küsst, denke ich eher daran, wann es endlich aufhört. Oder ich denke an Kian. Ich weiß0 nicht, was davon schlimmer ist. 

Während wir zu Josh laufen und er natürlich wie jedes Mal meine Hand hält, überlege ich fieberhaft, wie ich den heutigen Abend überstehen soll. Ich hatte Kian, seit ich die Medikamente besorgt hatte, nicht mehr gesehen. Ich hatte beschlossen, dass es besser wäre. Für alle. Vor allem Jaron gegenüber wäre es unfair gewesen. Und Kian einfach so zu sehen, funktionierte offensichtlich auch nicht. Einerseits hätte ich alles getan, um ihn wiederzusehen. Andererseits dachte ich, dass es besser wäre, wenn wir beide Zeit hätten, über alles nachzudenken. Ich weiß ja nicht, wie er dazu steht. Es war jedes Mal eine Ausnahmesituation in der wir uns geküsst haben, wahrscheinlich hat er genauso wie ich gemerkt, dass das alles war. Sicherlich hat er es längst bereut und ist froh, dass ich ihn in Ruhe gelassen habe. Auch wenn ich die leise Hoffnung habe, dass ich ihm nicht egal war. Aber das würde nichts ändern, ich wusste sowieso, dass es so nicht funktionieren würde.

Ich schüttle den Kopf, was mir einen verwunderten Blick von Jaron einbringt. Ich lächle nur entschuldigend und gehe nicht weiter darauf ein. Und er fragt nicht. Eigentlich fragt er nie, wenn ich mich merkwürdig verhalte. Er hat es aufgegeben, weil ich ihm sowieso keine Antwort gebe. Was habe ich nur für Gedanken? Es sollte zweitrangig sein, was Kian denkt. Zuerst muss ich das in Ordnung bringen, was zwischen Jaron und mir schief gelaufen ist, denn obwohl er scheinbar erleichtert ist, dass ich ihn angebettelt habe mich zurückzunehmen, ist er ganz klar verletzt. Und ich muss ihm Zeit geben. Wahrscheinlich viel Zeit. Ihn ein zweites Mal zu verlassen ist etwas, wovon ich nicht weiß, ob ich es schaffen kann. Ich drücke seine Hand fester. Auf keinen Fall will ich ihn verlieren. Aber jetzt ist Kian in Sicherheit und es gibt keinen Grund für mich, noch länger an etwas festzuhalten, was ich eigentlich gar nicht will.

„Bist du aufgeregt? Wenn er wieder fit ist, kannst du bald zu deinem nächsten Einsatz aufbrechen", fragt Jaron ruhig. Ich nicke. Natürlich bin ich aufgeregt. Ich habe die letzten Wochen darauf gewartet. Die letzten Wochen haben mir gezeigt, dass ich genau das machen will. Egal wie gefährlich der kleine Einsatz vorher war. Ich will genau das. Ich will mit den Rebellen kämpfen, eine von ihnen sein. Und mit jedem weiteren Einsatz würde ich mich noch mehr mit ihnen verbunden fühlen. Ich habe das Gefühl, eine wirkliche Aufgabe gefunden zu haben. Denn wenn ich ehrlich bin, erfüllt mich die Arbeit als Kindermädchen nicht. Ich liebe die Kinder, aber wenn ich es nicht müsste, würde ich es nicht tun.

Auch so habe ich das Gefühl, schon immer ein Teil von ihnen gewesen zu sein. Kaum zu glauben, dass ich Adriana immer nur belächelt habe. Gut, ich fand schon damals manches schlüssig, aber so richtig interessiert hatte ich mich nie dafür. In den letzten Tagen habe ich oft an sie gedacht. Ich bin sicher, sie wäre jetzt hier bei mir. Sie hätte keine Sekunde gezögert. Sie wäre begeistert gewesen. Aber sie ist nicht mehr hier. Aber ich versuche nicht mehr an sie zu denken, jetzt zählt das Treffen. Das erste seit zwei Monaten, an dem alle drei Anführer teilnehmen würden. Selten in meinem Leben war ich so aufgeregt.

Es dauerte viel länger, bis er wieder fit war. Ich wusste nicht genau, was los war, immerhin hat er noch fast einen Monat gebraucht, trotz der Medikamente. Meistens hatte ich das Thema gewechselt, wenn Jaron von ihm sprach. Aber ich weiß, dass es sehr schlimm gewesen sein muss, sowohl vor als auch nach den Medikamenten. An manchen Tagen muss er mehr tot als lebendig gewesen sein. An diesen Tagen war selbst Jaron stiller, in sich gekehrt. An diesen Tagen blieb er länger bei ihm. Als wäre er es ihm schuldig. An diesen Tagen wäre ich am liebsten zu ihm gegangen, aber ich konnte nichts tun. Ich konnte ihm nur mein Blut geben. Und das tat ich so oft, wie Benedikt und Jaron es für richtig hielten.

Ich hatte Glück, dass die beiden sich nicht abgesprochen hatten, sonst hätte einer von ihnen merken müssen, dass es mehr war, als sie jeweils vereinbart hatten.

Ich sitze wie immer neben Jaron und starre auf meine eigenen Füße. Ich traue mich nicht, ihn anzusehen. Auch Kian gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen, obwohl ich mir einrede, dass ich keinen Grund dazu habe. Aber so gut kann ich mich nicht belügen. Ich hätte da sein müssen. Auch wenn ich nur dumm dagesessen hätte. Wieder stehen mir Tränen in den Augen. Doch dann bricht Jubel aus. Ich will nicht aufblicken, aber es wäre sinnlos, es nicht zu tun. Irgendwann würde ich ihn sowieso wiedersehen. Ich zwinge mich aufzublicken, endlich sehe ich ihn wieder.Ich muss schlucken. Ich hatte gehofft, er wäre wieder der Alte. Aber die Zeit hat ihre Spuren an ihm hinterlassen.

Er war dünner geworden, dünner als früher. Seine Arme stecken in einem weiten Pullover, aber auch der kann nicht verbergen, dass seine Muskeln weniger geworden sind. Seine Haare sind länger geworden, was zugegebenermaßen gut aussieht. Nur eben ungewohnt. Ein grimmiger Ausdruck liegt auf seinem Gesicht, wahrscheinlich wegen der Aufmerksamkeit, die er auf sich gezogen hat. Sein Bart ist viel voller als beim letzten Mal, als ich Kian gesehen habe, aber er muss dennoch vor kurzem rasiert worden sein. Vielleicht hatte er es auch selbst gemacht, wobei ich mich dann frage, warum er es nicht nochmal getan hatte, denn ich bin mir sicher, dass er so eigentlich nicht rumlaufen würde. Gut, vielleicht hat er auch mittlerweile gemerkt, dass es wichtigeres gibt. 

Sein Blick schweift durch die Menge, erst als er mich findet, hält er kurz inne. War sein Blick vorher eher genervt, ist er jetzt wütend und voller Abneigung. Benedikt hat sich wohl geirrt, was mich im Nachhinein nicht mehr wundert. Nur wenige Sekunden halte ich seinem Blick stand, angestrengt schaue ich schließlich wieder auf meine Schuhe. Doch noch immer spüre ich seinen Blick auf mir. Ob er sich eingebrannt hat oder ob er mich wirklich noch ansieht, kann ich nicht sagen. Jedenfalls bin ich froh, als Eleonora das Wort ergreift. Sie sagt nichts zu Kians Rückkehr, es haben ja sowieso alle mitbekommen, was passiert ist. Und sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass er das sicher nicht weiter thematisieren will.

Erst als er anfängt zu reden, hebe ich den Kopf. Ich bin zu neugierig, um weiterhin nicht wirklich darauf zu achten, was um mich herum passiert. Aber er sagt, wie vermutet, nicht wie es ihm geht oder so. Sein einziges Thema ist der nächste Angriff auf das System, der bei dem ich dabei sein wollte. Seine Stimme lässt mich frösteln, kalt und irgendwie verändert. Ich weiß nicht genau, was sich verändert hat. Vielleicht habe ich sie nur anders in Erinnerung. Aber als er sagt, dass es in zwei Wochen sein wird, reiße ich erschrocken die Augen auf und schnaube ungläubig. Zu spät merke ich, dass man mich sehr wohl gehört hat. Ich versinke förmlich in meinem Stuhl.

„Du kannst gerne gehen, wenn du nicht mehr mitmachen willst, Linea", sagt Kian und spricht meinen Namen wie eine Beleidigung aus. Ich schüttle den Kopf.

„Natürlich mache ich weiter. Es ist nur...", ich spreche es nicht aus, ich will ihn nicht noch wütender auf mich machen. Aber er sieht mich weiter mit seinem Todesblick an. Er macht mich wütend. Ich verstehe, dass es scheiße war, wie ich mich verhalten habe. Aber genau das hat er gewollt. Er wollte nicht, dass so etwas noch einmal passiert. Er war derjenige, der Distanz wollte. Ich kann genauso wütend auf ihn sein wie er auf mich. Ich hoffe, dass mein Blick genauso hasserfüllt ist wie seiner.

„Ich dachte nur, du siehst nicht aus, als könntest du uns führen", sage ich. Ich merke, wie er kurz stutzt. Überrascht zieht er eine Augenbraue hoch. Sein Blick wirkt fast verletzt. Jaron neben mir flucht leise, er drückt meine Hand fest. Aber Kians Gesicht hat sich schon wieder entspannt.

„Ich wusste nicht, dass du etwas über meinen Gesundheitszustand sagen kannst. Aber wenn du meinst, dass du das besser kannst als ich, dann tu es", erwidert er scharf. Ich beiße mir auf die Lippe und schweige. Er scheint zufrieden zu sein, dass ich nichts mehr zu sagen habe. „Hat noch jemand Einwände?". Dass sich niemand traut, etwas zu sagen, macht mich wütend. Ich kann doch nicht die Einzige sein, die Zweifel hat, ob das so eine gute Idee ist. Auch wenn ich jetzt vielleicht sauer auf ihn bin, will ich mit allen Mitteln verhindern, dass er sich verletzt, weil er noch nicht wieder fit ist. Und weil ich ihn nie wieder so sehen möchte. Die Bilder, wie er im Bett saß und Blut erbrach oder wie unruhig er schlief, bereiten mir immer noch Albträume. Außerdem habe ich zu viel riskiert, nur damit er sich wieder in Gefahr bringt.

Er redet weiter, aber diesmal höre ich ihm nicht mehr zu. Ich kann mich erst aus meinen Gedanken befreien, als Jaron mich anstupst. Erst vorsichtig, dann kräftiger. Ich zucke zusammen und sehe ihn fragend an.

„Passt du nicht auf? Eleonora hat gerade gesagt, dass er möchte, dass die neuen Mitglieder mit Clark und Ethan trainieren. Du gehörst auch dazu", sagt er. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass Eleonora gesprochen hat. Aber dass Kian dabei ist, gefällt mir auf jeden Fall nicht.

„Wann?", frage ich mürrisch. Jaron verdreht grinsend die Augen, dann beugt er sich zu mir und drückt seine Lippen kurz auf meine. Ich schrecke zurück und schaue Kian an. Sein Blick ist überrascht, fängt sich aber schnell wieder. Er wendet den Blick von uns ab. Aber ich kann nicht anders, als ihn weiter anzuschauen. Ich habe ihn so sehr vermisst, dass ich keine Sekunde seines Anblicks missen möchte.

„Jeden Abend ab jetzt. Vielleicht kann Isabella für dich einspringen oder du tauschst die Schichten" Ich schlucke. Natürlich freue ich mich, das Training kann ich gut vertragen, aber nicht mit Kian. Entweder wir streiten uns oder wir finden andere Wege, es zu ruinieren. Ich will gar nicht daran denken, was alles schief gehen könnte.

„Wenn niemand mehr etwas zu sagen hat, können wir die Versammlung beenden", sagt Eleonora freundlich und lässt ihren Blick durch die Reihen gleiten. Als ihr Blick spürbar meinen trifft, wende ich mich von Kian ab und sie zieht warnend die Augenbraue hoch. Wieder graben sich meine Zähne in meine Unterlippe. Sie nickt zufrieden und lässt ihren Blick weiter schweifen. Doch wie bei den meisten Gesprächen gibt es nichts mehr zu sagen. Ich für meinen Teil will so schnell wie möglich nach Hause. Auch wenn ich bald wiederkommen muss. Am liebsten würde ich das Training schwänzen, aber das würde auffallen. Er würde es merken. Aber ich frage mich, ob es ihm nicht sogar gefallen würde. Aber wie bei den meisten Dingen, die ich tue, würde er mir nicht zustimmen.

„Ich möchte noch mit Linea sprechen", kommt es zu meinem Unglück von ihm. Wieder ist der Klang meines Namens wie ein Schlag ins Gesicht. Jetzt sind ausnahmslos alle Blicke auf mich gerichtet. Ich höre, wie die Leute mich bemitleiden oder sagen, ich sei selbst schuld. Wenn sie nur eine Ahnung hätten. Aber wahrscheinlich möchte niemand mit mir tauschen. Ich atme tief durch, bleibe aber sitzen. Er wird sowieso erst mit mir reden, wenn alle weg sind.

„Clark, benimm dich", sagt Tyra mit ruhiger Stimme, aber es schwingt Belustigung in ihrer Stimme mit. Doch sie sieht ihn durchdringend an. Er nickt nur, beachtet sie aber nicht weiter, woraufhin sie sich enttäuscht abwendet, um ebenfalls zu gehen. Wie die anderen, die schon gegangen sind. Ich wundere mich über ihre Reaktion. Ich hatte die beiden nie als besonders eng empfunden. Andererseits hätte er sich fast für sie geopfert, sie konnte ihm nicht gleichgültig sein. Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darüber? Es kann mir doch völlig egal sein.Bevor ich mir noch einmal auf die Lippen beißen kann, trete ich vor. 

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