Kapitel 37
- Linea, 30. November, 53 nach Gründung -
Meine Beine zittern nervös, als ich auf dem Stuhl vor dem Zimmer sitze, in das Kian damals gebracht wurde, und mich innerlich darauf vorbereite, ihm gegenüberzutreten. Es ist jetzt ungefähr einen Monat her, dass Kian angeschossen wurde. Ich hatte Isabella seitdem jeden Tag weinen sehen, vielleicht hatte ich deshalb irgendwann aufgehört, nach ihm zu fragen. Ich hatte nicht nur Angst vor der Antwort, ich hatte regelrecht Panik. Die Nerven lagen blank, ohne dass ich wusste, wie es ihm wirklich ging. Ich hatte die leise Hoffnung, dass ich es mir schlimmer vorgestellt hatte, als es letztendlich war, aber ich fürchtete, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wie es wirklich war.
Die Rebellen vermieden es, darüber zu sprechen, selbst Jaron schwieg, obwohl er sonst so gern über alles Mögliche redete. Auch Eleonora war sichtlich unkonzentriert. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich diejenige war, die mir am ehesten etwas erzählen würde, aber ich konnte sie nicht fragen.
,,Du kannst reinkommen, er schläft gerade", sagt Benedikt schließlich und reißt mich damit abrupt aus meinen Gedanken. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich aufstehe und dem großgewachsenen Mann ins Zimmer folge. Schon vor der Tür schlägt mir ein unbekannter, widerlich süßlicher Geruch entgegen. Erschrocken schaue ich den Arzt an, doch er scheint nichts zu bemerken. ,,Seine Wunden sind größtenteils infiziert, aber ich denke, wir bekommen das langsam in den Griff", schlucke ich trocken und nicke tapfer, um nicht weggeschickt zu werden.Langsam trete ich hinter dem Arzt in den Raum und spüre förmlich, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht. Kian liegt schlafend in seinem Bett, aber ehrlich gesagt könnte ich nicht sagen, ob er wirklich schläft oder tot ist, wenn ich nicht seine Vitalfunktionen auf dem Monitor ablesen könnte. Es ist nicht verwunderlich, dass sie eher schlecht sind, aber es versetzt mir einen Stich, es so genau vor Augen zu haben. Fast vergesse ich mein Erstaunen darüber, dass sie es tatsächlich geschafft haben, einen Überwachungsmonitor hierher zu bringen. Aber eigentlich ist es mir in diesem Moment ziemlich egal. Schneller gehe ich auf ihn zu und berühre seine Stirn, die fast glüht. Erschrocken schaue ich zu Benedikt, der im Gegensatz zu mir völlig ruhig wirkt. Schnell fällt mein Blick wieder auf die Anzeige, ich kann nicht viel damit anfangen, aber es macht mich nur noch nervöser.
,,Was ist denn mit ihm los?"
Benedikt schaut mich lange an, dann räuspert er sich. ,,Ich weiß es nicht."Ich schaue ihn fassungslos an. ,,Wie kannst du das nicht wissen?", frage ich aufgebracht und etwas unhöflicher als beabsichtigt, aber er scheint es mir nicht übel zu nehmen.
,,Ich bin nur für das normale Krankenhaus für normale Bewohner ausgebildet", sagt er. Ich schaue ihn fragend an, aber ich muss gar nicht fragen, er merkt von selbst, dass ich keine Ahnung habe, was er meint. ,,Das heißt, ich soll nicht in der Lage sein, jemanden vor dem sicheren Tod zu retten. Ich soll mich nur um Dinge kümmern, die nicht zu viel Zeit, Mühe und Ressourcen in Anspruch nehmen."
Entsetzt blicke ich von ihm zu Kian und wieder zurück. Mein Gehirn kann zunächst nicht begreifen, was er mir damit sagen will. Als ich es endlich begreife, drohen mir die Beine nachzugeben. Ich schaffe es nicht einmal, Tränen zu produzieren. Stattdessen starre ich Benedikt weiterhin sprachlos an und versuche zu verarbeiten, was er mir gerade gesagt hat.Du kannst ihm nicht helfen", bringe ich gerade noch heraus. Er zögert, dann nickt er.
,,Nur wenn noch ein Wunder geschieht", gibt er zu.
„Was ist mit Jaron?", wage ich zu fragen, obwohl ich die Antwort kenne. Er weiß sie auch nicht.Er bekommt die gleiche Ausbildung wie ich.
,,Du hast gesagt, du bist nur für die normalen Bewohner ausgebildet, was ist, wenn wir ihn zu denen bringen, die nicht nur für die normalen Bewohner ausgebildet sind?", frage ich hoffnungsvoll, was er mit einem einfachen Kopfschütteln zerstört.
,,Für die ist er nicht wichtig genug", ich ziehe eine Augenbraue hoch. Erst ab dem nächsten Rang", sagt er. Ich fluche laut und setze mich zu Kian aufs Bett, streiche ihm die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und presse meine Lippen auf seine Schläfe.
,,Bitte, Kian", flüstere ich leise, auch wenn er mich nicht hören kann. ,,Du musst unbedingt leben, ich brauche dich. Ich darf dich nicht verlieren. Ich glaube ... ich bin mir ganz sicher, dass ich das, was ich für dich empfinde, für keinen anderen empfinden könnte. Und ich will es auch nicht, deshalb musst du unbedingt aufwachen", ich weiß, dass Benedikt da ist, aber das ist mir in diesem Moment sicher völlig egal. Wieder küsse ich ihn, diesmal auf den linken Mundwinkel. Kurz habe ich das Gefühl, eine winzige Bewegung wahrzunehmen, doch als ich ihn anschaue, ist er völlig regungslos. Seufzend richte ich mich auf und sehe den Arzt an.
,,Was sagen die anderen dazu?"
,,Ich ... ich dachte, du solltest es als Erster erfahren."
,,Warum ich? Isabella ist wie eine Mutter für ihn, ich kenne ihn doch kaum", protestiere ich. Er zögert, dann schaut er kurz zu Kian.
,,Er hat mich gebeten, falls etwas schief geht, dass du entscheidest, was wir tun. Er vertraut dir.", meint er und lächelt knapp. Auch wenn ein wohliges Gefühl in mir aufsteigt, werde ich panisch bei dem Gedanken zu entscheiden, was zu tun ist.
,,Ich schüttle energisch den Kopf. ,,Das kann ich nicht, Benedikt. Was soll ich denn machen?", er zuckt nur mit den Schultern.
,,Niemand verlangt von dir, dass du die Lösung hast."
Ich schaue auf das Krankenbett und seufze: ,,Doch." Langsam lasse ich mich auf das Bett sinken und lehne meinen Kopf an die Wand, an der das Bett steht. Erst jetzt bemerke ich, dass er gar nicht so reglos daliegt, wie ich dachte. Seine Augen sind geschlossen, aber seine Lider zucken nervös. Seine Hand liegt auf seinem Bauch, hebt und senkt sich gleichzeitig zu seinen Lungen. Aber auch seine Füße sind ständig in Bewegung. Nicht übermäßig, aber als ich hereinkam, war er bis zur Hüfte bedeckt, jetzt nur noch bis zu den Knien. Es ist, als würden seine Füße unermüdlich daran arbeiten, ihn ganz zu entblößen. Der Gedanke lässt mich lächeln und gibt mir aus irgendeinem Grund Hoffnung. Wenn er selbst in seinem Zustand noch so etwas Banales tun kann, dann ist er sicher stark genug, um zu überleben, egal was es kostet. Ich muss dafür sorgen, dass er es bekommt. Egal wie.
,,Ich muss zu meinen anderen Patienten, ich komme erst in ein paar Stunden wieder, aber Jaron sollte bald zurückkommen", ich nicke. Jaron muss mich hier nicht unbedingt sehen. Vor allem nicht, wenn er selbst nicht weiß, wie er Kian helfen kann. Vielleicht kann ich wenigstens aufhören, ihn anzulügen. Ich starre Kian weiter an, in der Hoffnung noch ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen, aber da ist nichts. Jedenfalls nichts, was mich wirklich beruhigen könnte.
,,Was machst du denn hier?", lässt mich Jarons Stimme zusammenzucken. Schnell versuche ich mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, doch ich kann ihn nicht täuschen. Ich habe das Gefühl, dass er mich durchschaut hat, aber er bleibt ruhig.
,,Ich... ich wollte nur sehen, ob ich Blut spenden kann."
,,Du hast doch erst gestern Blut gespendet, das ist zu früh. Das weißt du doch", sagt er und runzelt die Stirn. Nickend beiße ich mir auf die Lippe.
,,Das hatte ich vergessen", sage ich wenig überzeugend, und schon gar nicht kann ich ihn damit manipulieren. Dazu ist er zu klug.
,,Linea, warum willst du nicht ehrlich sein? Habe ich etwas falsch gemacht?", schafft er es mit seiner traurigen Stimme, mir wieder Tränen in die Augen zu treiben. Trotzdem schüttle ich den Kopf. Er zögert sichtlich, dann kommt er auf mich zu und zieht mich an sich. Ich schluchze leise und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. Er hat Ehrlichkeit verdient, das weiß ich. Ich weiß es nur zu gut, aber ich habe Angst vor den Konsequenzen. Kian braucht jede Hilfe, die er bekommen kann, was ist, wenn ich ihm das verderbe? Was, wenn Jaron die Lösung findet? Aber als ich den Kopf hebe, um Jaron anzusehen, weiß ich sofort, dass ich es jetzt tun muss. Er würde mir keine weiteren Lügen mehr abnehmen. Ich habe mich verraten, und wenn ich ehrlich bin, fehlt mir die Kraft, ihn weiter anzulügen. Aber vielleicht bin ich heute einfach nur emotionaler.
,,Jaron, ich... mag Clark", flüstere ich, weil ich es nicht laut aussprechen kann, was unglaublich feige ist. Er schaut mich so verständnislos an, wie ich es wohl tun würde, wenn er mir auf diese Weise sagen würde, dass er heimlich Zeit mit Kian verbringt. Ich atme tief durch und verdränge meine Nervosität. Jetzt muss ich genau sagen, was ich meine, sonst versteht er es nicht. ,,Ich mag ihn mehr als ich sollte, denke ich. Ich bin mir sogar sicher. Ganz sicher. Ich ... es tut mir leid, Jaron." Es dauert ein paar Sekunden, bis er mich loslässt. Sekunden, in denen ich hoffe, dass er mich nicht gehört hat. Aber natürlich hat er das. Sein Gesichtsausdruck ist kalt und wie versteinert. Er nickt leicht und bringt noch mehr Abstand zwischen uns.
,,Meinst du das ernst?", ich zögere. Zu gerne würde ich mich herausreden, um die Verletzung irgendwie zu mildern, aber ich weiß, dass es das Beste ist, ehrlich zu sein. Vielleicht wird es am Anfang schwierig, aber ich weiß, dass es besser ist, er muss ganz klar verstehen, was los ist. Und dass es unumkehrbar ist.
,,Ja, ich habe gemerkt, dass er mir zu wichtig geworden ist, um weiter so zu tun, als ob nichts wäre. Ich kann verstehen, dass du mich jetzt hasst, aber ich will das nicht mehr. Es tut mir wirklich sehr leid", den letzten Satz bringe ich nur im Flüsterton heraus, da mir Tränen über die Wangen laufen und sich ein Schluchzen in meiner Kehle ankündigt. Er sieht mich finster an, senkt dann aber doch den Kopf und nickt langsam.
,,Es ist okay", sagt er leise. Überrascht sehe ich ihn an.
,,Okay?"
,,Ich will, dass du glücklich bist. Das ist das Einzige, was mir wichtig ist", ich schlucke trocken und kämpfe wieder mit den Tränen. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich weiß, dass ich es nicht verdient habe. Niemals, ich könnte mich für ihn opfern und er würde immer noch weit über mir stehen.
,,Danke" ist alles, was ich herausbekomme. Es sagt nicht annähernd so viel, wie es sagen sollte, aber ich habe das Gefühl, dass er keinen großen Dank erwartet.
,,Ich liebe dich", flüstert er mir ins Ohr. Ich nicke, denn es ist mir unmöglich, etwas Ähnliches zu erwidern, schließlich habe ich beschlossen, ihn nicht mehr anzulügen. ,,Ich würde alles für dich tun, das weißt du doch, oder?", ich nicke und schließe die Augen. Seine Worte tun weh, denn wenn ich ehrlich bin, kann ich nichts erwidern, auch wenn ich es gerne würde. Aber an Kians Stelle würde ich nicht so empfinden. Glaube ich jedenfalls.
,,Ich weiß", flüstere ich.
,,Und ich denke, du würdest dann auch alles für ihn tun", das ist keine Frage, er kennt die Antwort. Auch wenn ich nicht sagen kann, worauf er hinaus will. Will er mich testen?
,,Ja, das würde ich", sage ich und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen, um zu erkennen, was er meint. Doch sein Blick ist noch schlimmer als seine Worte. Ich sehe seine Verletzung nur zu deutlich und es bricht mir das Herz, dass ich dafür verantwortlich bin. Ich liebe ihn nicht, aber er ist mir wichtig. Sehr wichtig.
,,Gut, ich glaube, ich weiß, was ihm helfen könnte", sagt er und nickt, als müsse er seinen eigenen Worten zustimmen. ,,Ich weiß nicht, ob es ihm hilft zu überleben, aber es kann ihm nicht mehr schaden."
,,Was ist es Jaron?", frage ich verzweifelt.
,,Medikamente, Antibiotika, die gab es damals, und ich weiß, dass sie immer noch eingesetzt werden, aber nicht hier. Sie werden nur gezielt und sporadisch eingesetzt, weil sie irgendwann aufhören zu wirken. Es ist ... niemand wird sie dir einfach geben."
,,Das heißt ich muss sie stehlen", schließe ich. Er nickt langsam. Ich kann förmlich spüren, wie er sich dagegen wehrt, es mir zu sagen. Sicher ist es gefährlich. Oder er ist sich nicht ganz sicher, ob er Kian helfen will.
,,Genau, das musst du. Und du musst es alleine machen. Das Krankenhaus ist das am besten gesicherte Gebäude, es ist fast unmöglich da reinzukommen und ich habe keinen Zugang. Niemand, den wir kennen, hat Zugang zu dem Teil, wo die Medikamente gelagert werden. Die einzige Möglichkeit ist herauszufinden, welchem Patienten die Medikamente gerade verabreicht werden und sie von ihm zu stehlen", versuche ich die aufkommende Panik herunterzuschlucken, doch es gelingt mir nicht. Nichts von dem, was er sagt, klingt so, als könnte ich es schaffen. Aber ich muss es versuchen. Andererseits könnte ich mehrere Menschen in Gefahr bringen, wenn ich erwischt werde. Ich werfe Kian einen Blick zu, er ist ruhiger als vorher. Seine Brust hebt sich seltener als noch vor ein paar Minuten, aber das ist wahrscheinlich mehr Einbildung als Realität. Schnell wende ich den Blick ab und nicke. Schon spüre ich das Adrenalin durch meine Adern schießen.
,,Ich werde tun, was nötig ist."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top