Kapitel 34

-Linea, 25. Oktober, 53 nach Gründung-


Als ich die Tür leise hinter mir schließe und mich umdrehe, zucke ich erschrocken zusammen. Jaron steht vor mir und schaut mich überrascht an. Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen, doch ich zwinge mich zu einem Lächeln.

„Hey, was machst du denn hier?", fragt er misstrauisch. Ich winke nur ab.

„Das ist eine lange Geschichte, seit wann bist du denn hier?", frage ich und versuche, seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Er scheint mit meiner Aussage nicht zufrieden zu sein, lässt es aber dabei bleiben. Wahrscheinlich dachte er nicht daran, dass ich zu so etwas fähig sein könnte.

„Ich bin gleich nach der Arbeit hergekommen, ich wollte nur nach ihm sehen", sagt er. Ich beiße mir auf die Lippen. Wäre er nur ein paar Minuten früher hier gewesen, hätte er alles gesehen. Dann hätte ich es nicht leugnen können. Ich wusste nicht, was er dann tun würde. Er lächelt sanft, nimmt meine Hand, zieht mich an sich und küsst mich. Ich habe das Gefühl, dass er jeden Moment merken könnte, dass etwas nicht stimmt, aber er sagt nichts und wirkt ganz normal. Aber ich bin diejenige, die nicht normal ist. Das ist mir bewusst.

Irgendetwas sagt mir, dass ich diesen Tag vergessen sollte. Ich weiß, dass es besser wäre, alles so schnell wie möglich zu vergessen. Ob ich das schaffe, weiß ich noch nicht. Aber ich werde mein Bestes geben. Außerdem war Jaron besser für mich. Schon immer. Er war immer liebevoll zu mir. Außerdem gibt es zwischen uns kein Drama. Diese Anziehung wie zwischen Kian und mir gibt es zwischen uns nicht.das stimmt so. Aber vielelicht war das auch nicht so wichtig. Andererseits ist es ihm gegenüber nicht fair, so zu tun, als wäre nichts passiert. Vielleicht wäre es mir sogar lieber, wenn nichts passiert wäre. Denn dann wüsste ich nicht, wie es ist, jemanden so zu begehren.

Vielleicht musste ich aber auch erst herausfinden, was ich wollte. Vielleicht war es nur in den schlechten Zeiten aufregend, Zeit mit Kian zu verbringen, vielleicht wirkt er nur dann so auf mich, wenn ich sowieso aufgeregt bin. Morgen wird es wahrscheinlich schon wieder anders sein. Aber allein vor meinem Gewissen kann ich es nicht so lassen.

„Hast du vielleicht noch ein paar Minuten Zeit, bevor du Benedikt ablösen musst?", frage ich ihn und versuche ruhig zu klingen, obwohl mein Herz wie verrückt klopft und ich nicht weiß, wie ich es ansprechen soll. Er lächelt.

„Für dich immer", als er mich wieder küssen will, weise ich ihn ab. Obwohl es absurd ist, habe ich Angst, dass er eine Veränderung an mir bemerkt.

„Ist alles in Ordnung?", fragt er. Er tut es so liebevoll, dass mir Tränen in die Augen schießen. Ich schüttle den Kopf.

Ohne eine Sekunde nachzudenken, zieht er mich an sich und legt seine beiden starken Arme um mich. Ich schluchze leise, warum ist er immer noch so nett zu mir, er kann sich doch sicher denken, dass es um uns beide geht. Ich spüre, wie er mich von der Tür weg in die Küche schiebt. Wieder drückt er mich auf einen der Stühle. Doch im Gegensatz zu Josh sitzt er mir gegenüber. Als ich endlich aufblicke, hat er mich fest im Blick. Mein Atem geht stoßweise. Schamesröte steigt mir ins Gesicht, als ich ihn ansehe. Er schaut mich fragend an, aber er drängt mich nicht zu sprechen.

Erst jetzt kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Was ist, wenn es nicht gut für Kian ist, wenn sein behandelnder Arzt sauer auf ihn ist? Schließlich ist er noch nicht stark genug, um sich zu wehren. Ich wusste ja nicht, wie Jaron reagieren würde. Und plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Sollte ich ihm verschweigen, wer der Mann war? Aber er würde mich bestimmt fragen, und er ist nicht dumm, er würde früher oder später auf Kian kommen. Oder ich könnte es ihm erst sagen, wenn Kian wieder gesund ist. Das war nicht fair, aber ich konnte ihn nicht so in Gefahr bringen. Er hat mir geschworen, mich zu beschützen und ich wollte ihn schutzlos ausliefern. Das konnte ich nicht. Ich musste es für ihn tun. Auch wenn es vielleicht anders war. Aber nein, im Grunde hatten wir beide Angst um das Leben des anderen.

Ich wusste nicht, was passieren würde. Ich stimme mir selbst zu, auch wenn ich Jaron nicht so einschätzen würde, dass er jemandem ernsthaft Schaden zufügen würde, um Rache zu nehmen. Jedenfalls nicht aus solchen Gründen. Aber ich frage mich, wie ich das noch wochenlang aushalten soll. Aber ich muss es tun, das sagt mir mein Bauch. Auch wenn ich keine Ahnung habe, ob er nur meinetwegen jemandem etwas antun würde. Schließlich kennt er mich noch nicht lange, wir haben in den letzten Tagen nicht einmal viel Zeit miteinander verbracht.


„Ich... ich weiß auch nicht, aber die letzten Stunden haben mich so fertig gemacht", sage ich leise und traue mich nicht, ihn anzusehen, während ich ihm erzähle, was alles passiert ist. Wobei ich logischerweise einiges auslasse. Immer wieder fragt er nach, ansonsten hört er sich alles in Ruhe an.

„Es tut mir sehr leid, was du durchmachen musstest, ich wünschte, ich hätte bei dir sein können", sagt er bedauernd und greift nach meiner Hand. „Aber du hast das wirklich gut gemacht, andere hätten das nicht geschafft. Das war sehr mutig", fügt er noch hinzu, was mir wieder Tränen in die Augen treibt. Ich versuche zu lächeln, was mir nur mäßig gelingt. Warum muss er so verdammt nett sein? Warum kann er nicht einfach ein schrecklicher Mensch sein, dann würde es mir wenigstens nicht so schwer fallen. Obwohl es wahrscheinlich gut ist, dass es mir nicht leicht fällt. Dann kann ich mir wenigstens einbilden, ein guter Mensch zu sein.

„Danke", sage ich mit zitternder Stimme. Als er seine Arme ausbreitet, lasse ich mich in sie fallen.„Du bist so ein guter Mensch", flüstere ich leise.

„Ich hoffe, du hast recht", antwortet er und drückt seine Lippen an meine Schläfe. Ich schließe die Augen.

„Das weiß ich", sage ich und bleibe einen Moment in seinen Armen. „Benedikt sagt, ich kann Kian Blut spenden, das würde ich gerne tun. Am besten gleich", sage ich. Das schlechte Gewissen trifft jetzt nicht nur Jaron, sondern auch Kian. Deshalb habe ich das Gefühl, etwas für ihn tun zu müssen. Jaron verzieht das Gesicht.

„Das willst du wirklich tun?"

Ich nicke fast zu euphorisch. „Natürlich will ich das. Ich meine, warum nicht, das würde ich doch für jeden Rebellen tun", erkläre ich mich unbeholfen. Jaron zuckt mit den Schultern.

„Bei ihm würde ich eine Ausnahme machen", gibt er seufzend zu. Ich lächle gequält.

„Warum hat er dir dann nicht gleich Blut abgenommen?", fragt Jaron plötzlich. Ich zögere und senke kurz den Blick.

„Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Aber jetzt glaube ich, dass ich es tun muss", antworte ich. Jaron schüttelt den Kopf.

„Niemand erwartet das von dir", widerspricht er.

„Das stimmt, aber ich will es tun, wirklich", sage ich. Jaron seufzt.

„Gut, dann komm."

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