Kapitel 33


-Linea, 26. Oktober, 53 nach Gründung-


Nur wenige Minuten später kann ich die Infusion entfernen, ich frage mich, ob er noch mehr Blut braucht, aber er sieht schon viel weniger blass aus. Seine Lippen, die völlig blutleer aussahen, nehmen Farbe an, ebenso seine Wangen. Ich bilde mir auch ein, dass sein Herzschlag gleichmäßiger wird, aber vielleicht hoffe ich das auch nur. Auf jeden Fall bin ich fasziniert, wie hilfreich das bisschen Blut gewesen sein muss. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass er immer noch tief und fest schläft, beginne ich, ihm mit einem Tuch, das auf dem Tisch gegenüber dem Bett liegt, die schweißnasse Stirn abzutupfen. Ich weiß nicht, was ich sonst tun sollte.

Als ich ihm die Haare aus dem Gesicht streichen will, packt mich unerwartet eine Hand. Ich keuche auf, aber natürlich ist es nur Kian selbst. Im ersten Moment bin ich nur überwältigt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so schnell wieder aufwacht. Vielleicht habe ich überhaupt nicht damit gerechnet, dass er es heute tut. Wieder kullern mir die Tränen übers Gesicht und ich muss eine Hand an die Stelle seines Halses legen, an der ich seinen schwachen Puls fühlen kann. Er stöhnt leise.

„Hast du dir etwas anderes erhofft?", fragt er und streckt eine Hand an meine Wange, um mir mit dem Daumen die Tränen wegzuwischen, wie er es vor ein paar Tagen getan hat, welche mir plötzlich weiter entfernt vorkommen als sie es waren.

„Nein, ich bin nur... ich bin froh, dass du nicht...", ich traue mich nicht, meine Befürchtungen auszusprechen. Er schließt für einen Moment die Augen.

„Schon gut, es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe", sagt er. Ich lache leise und lehne meine Stirn an seine. Endlich kann ich seinen Atem richtig wahrnehmen, auch wenn er leicht nach Blut riecht.

„Idiot, ich bin nur froh, dass ich Isabella nicht sagen muss, dass du tot bist" 

Er verzieht das Gesicht zu einem Lächeln. „Ich dachte, es wäre dein größter Wunsch gewesen mich zu töten" Ich schüttle missbilligend den Kopf und lege eine Hand an seine Wange.

„Dich zu töten, wenn du schon halb tot bist, kommt mir nicht wie ein Sieg vor."

„Das wäre selbst für dich erbärmlich", stimmt er mir grinsend zu. Seine Worte lösen ein leichtes Kribbeln in mir aus. Auch wenn sie nicht gerade schmeichelhaft sind. Aber dass es ihm anscheinend wieder gut genug geht, um mich zu beleidigen, beruhigt mich ungemein. Ich schaue ihm in die Augen, zum ersten Mal seit einer Woche treffen sich unsere Blicke länger als ein paar Sekunden. Es ist, als würden wir es beide nicht wagen, den Blick voneinander abzuwenden.

„Danke, dass du bei mir bist", haucht er.

„Danke, dass du nicht gestorben bist", antworte ich und entlocke ihm ein weiteres Lächeln. Langsam legt er seine Hand auf meine, die immer noch an seiner Wange liegt. Er verschränkt unsere Finger. Gleichzeitig beginnt mein Herzschlag zu rasen. Leidenschaft liegt in seinem Blick, so hatte er mich auch in meinem Zimmer damals angesehen. Und dann scheint mein Körper auch ohne Gehirn ganz gut zu funktionieren.

Seine Lippen sind viel weicher, als ich sie in Erinnerung habe. Ein bisschen kühl, aber das stört mich nicht. Auch meine andere Hand lege ich an seine Wange. Wieder verschränkt er seine Finger mit meinen. Sein Körper scheint wie ein Magnet auf meinen zu wirken, denn es fällt mir schwer, meine Lippen von ihm zu lösen. Meine Gedanken rasen. Was passiert hier? Das hätten wir nicht tun dürfen. Aber ich verdränge sie, denn ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Er löst seine Hand von meiner und zieht meinen Kopf wieder an sich. Als sich unsere Lippen wieder treffen, kann ich nicht anders, als von meinem Stuhl zu ihm ins Bett zu klettern, wobei ich darauf achte, seine Brust nicht zu berühren. Er dreht sich auf die Seite und legt eine Hand um meine Taille, ohne seine Lippen von meinen zu lösen.

Ohne nachzudenken drücke ich meinen Körper gegen seinen, was ein Stöhnen in ihm auslöst. Erschrocken weiche ich zurück und betrachte den frischen Verband. Es hat sich keine erneute Verfärbung gebildet.

„Alles in Ordnung", flüstert er gegen meine Lippen. Wir küssen uns nicht mehr, aber er lässt seine Fingerspitzen sanft über meinen Körper gleiten. Ich traue mich nicht, ihn zu berühren, zu groß ist die Angst, ihn zu verletzen. Obwohl ich es so gerne täte, als bräuchte ich die Versicherung, dass er wirklich lebt. Noch immer liegt meine Stirn an seiner. Noch immer liegt meine Hand auf seiner Wange. Noch immer lösen seine Berührungen elektrische Schläge aus. Doch irgendwann wird sein Atem flacher, die Berührungen hören auf, seine Augen sind längst geschlossen.

Endlich wage ich zu denken. Was ist da gerade passiert? Habe ich es mir nur eingebildet oder ist es wirklich wieder passiert? Er hat den Kuss eindeutig erwidert, obwohl er derjenige war der oft genug erwähnt hatte, dass absolut nichts passiert war. Ich schiebe es auf die Aufregung des Tages. Aber ich will auch nicht gehen, eigentlich wäre es das Letzte, was ich jetzt tun will. Auch wenn es das einzig Vernünftige ist. Langsam lasse ich meine Finger über seine Brust gleiten, mit genügend Abstand zu der Wunde. Seine Haut fühlt sich genau so an, wie ich es mir vorgestellt habe. Wobei mir erst jetzt bewusst wird wie oft ich an solche Dinge gedacht habe. Glatt und nicht so weich wie meine. Ich drücke ihm noch einen Kuss auf die Lippen, dann stehe ich auf. Ich sollte ihn schlafen lassen, es war ein anstrengender Tag. Aber ich will ihn nicht allein lassen. Stattdessen setze ich mich wieder auf den Stuhl und nehme seine Hand in meine. Sie ist noch kühl, aber das wird sich sicher bald legen. Müde lege ich meinen Kopf wieder auf das Bett und vergrabe ihn an seiner Schulter.

Plötzlich muss ich an Jaron denken und das schlechte Gewissen überkommt mich. Es war falsch, aber ich hatte es wirklich nicht geplant. Es war eine dumme Ausrede, aber es ist einfach passiert.

„Denk nicht so viel nach", murmelt Kian, seine Augen sind wieder geschlossen. Jede Bewegung muss anstrengend für ihn sein. Ich nicke, trotzdem laufen mir Tränen über die Wangen. Er bemerkt sie nicht, drückt mir aber einen Kuss auf die Stirn. Ich schließe meine Arme um ihn, seine Nähe hat etwas Beruhigendes. Auch wenn es genau das ist, was mich erschüttert. Kurz darauf höre ich wieder seinen gleichmäßigen, flachen Atem. Ich lächle leicht und schaue in sein Gesicht.

Ich hatte mich geirrt, als ich dachte, er sehe aus wie viele andere. Seine Wangen sind markant und seine Nase ein wenig schief, als wäre sie schon einmal gebrochen worden. Aber seine Lippen waren schöner als bei jedem anderen Mann, den ich je gesehen hatte. Und sein Haar, das er seit Wochen nicht mehr rasiert zu haben schien, war weich und hatte einen leichten Goldton. Bald würde es ihm ins Gesicht fallen. Die Augenbrauen und der leichte Bartansatz gaben ihm etwas Wildes. Er war schön, aber nicht so schön, dass er unnahbar wirkte. Und so hatte ich noch nie über Jaron gedacht, der auch gut aussah, aber plötzlich konnte er mit Kian Clark nicht mehr mithalten.

Es erschreckt mich, wie schnell ich meine Meinung geändert habe. Was sagt das über mich aus? Aber Selbstmitleid bringt mir nichts, ich hatte mich entschieden, Kian zu küssen, er hatte meinen Kuss nur erwidert. Im Gegensatz zu mir hatte er nichts Schlimmes getan. Er hatte mich nicht gezwungen. Es war allein meine Entscheidung gewesen. Seufzend stehe ich auf und lege die Decke über ihn. Er zuckt kurz im Schlaf, dann dreht er sich auf den Rücken. Ich lächle und streichle ihm noch einmal sanft über das Gesicht.

„Ruh dich aus", sage ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Nur meine Hand berührt seine.

Er schläft nicht lange, höchstens zwei Stunden. Ich hatte einen längeren Schlaf erwartet. Ein schwaches Lächeln umgibt ihn, aber er öffnet die Augen erst, als ich meine Hand zurückziehe.

„Du siehst besser aus", sage ich erleichtert. Durch die Vorhänge scheint die Sonne inzwischen so stark, dass sie mich blendet. Trotzdem wende ich meinen Blick nicht von seinem erleuchteten Gesicht. Er zieht eine Augenbraue hoch.

„Du siehst überrascht aus." Ich lache leise und streiche mit den Fingerspitzen über sein Handgelenk. In seinen Augen blitzt ein hungriger Ausdruck auf. „Komm zu mir", sagt er, seine Stimme klingt fast flehend.

„Ist das eine gute Idee?", frage ich zweifelnd. Er setzt sich ein wenig auf.

„Es wird dich vielleicht überraschen, aber ich bin im Moment nicht in der Verfassung, um über dich herzufallen. Du bist in Sicherheit" Ich lache. Es tut so gut, ihn scherzen zu hören.

„Das habe ich nicht so gemeint", widerspreche ich. Aber eigentlich will ich das gar nicht. Ich will zu ihm. Nichts lieber als das. Genau deshalb krieche ich wieder in sein Bett.

Seine Nähe ist berauschend. Sein Blick auch. Unsere Lippen treffen sich gierig, aber keiner wagt es, den anderen zu berühren. Wir liegen auf der Seite und halten so viel Abstand wie möglich in dem engen Bett. Er hält inne und legt auch die Decke über mich. Er schaut mich an, so wie ich ihn anschaue. Er zögert, sichtlich hin und her gerissen, dann lässt er seine Hand über meinen Körper wandern. Mein Atem rast, als seine Finger über den Bund meiner Hose streichen. Er muss mich nicht auffordern, näher zu kommen. Ich tue es von selbst.Seine Lippen lassen die meinen nicht los, während er mich so heftig an sich zieht, dass ich mich kurz erschrecke. Doch es scheint ihn nicht weiter zu verletzen. Für einen Moment schließt er die Augen. Unruhe macht sich in mir breit, aber er hat keine Anzeichen von Schmerz.

„Ich habe dich vermisst", sage ich leise. Er öffnet die Augen.

„Das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken", sagt er ernst. In dieser Situation klingt es lächerlich. Aber er meint es so ernst, dass ich mir ein Lächeln verkneife.

„Es tut mir leid", sage ich.

„Es muss dir nicht leid tun", antwortet er. Ich verdrehe die Augen.

„Sag mir nicht immer, was ich tun oder lassen soll", er streicht mir die Haare aus dem Gesicht.

„Ich versuche dich zu beschützen", sagt er.

„Dazu bist du im Moment nicht in der Lage", erinnere ich ihn barsch. Er presst die Lippen zusammen.

„Ich kann dich scheinbar nicht einmal vor dir selbst beschützen."

„Ich will nicht vor dir beschützt werden." Frustriert knurrt er.

„Darüber haben wir doch schon gesprochen." Ich richte mich auf.

„Nein, du hast darüber gesprochen", ich kann meine Stimme gerade noch zurückhalten. Er funkelt mich wütend an.

„Was willst du machen? Mich zwingen, dich wieder anzufassen?".

„Das scheint nicht nötig zu sein." Er verdreht die Augen.

„Das war eine Ausnahme, versprochen.", flüstert er ernst. 

„Das habe ich schon mal gehört", erinnere ich ihn.

Er nickt. „Ja, das weiß ich auch", sagt er kraftlos und lässt sich zurück ins Kissen fallen.

Einige Minuten herrscht Stille. „Es tut mir leid", sage ich schließlich.

„Es muss...", unterbricht er und stöhnt frustriert. Bevor ich reagieren kann, zieht er mich an sich. Überrascht blinzle ich ihn an.

„Kian, ich glaube nicht, dass das gut für die Wunde ist."

„Ist mir scheißegal", murmelt er, greift in mein Haar, zieht meinen Kopf mit einem Ruck zu seinem und küsst mich. „Du bringst uns noch beide um", seufzt er an meinen Lippen. Ich lächle.

„Das könnte ich auch von dir behaupten."

„Ich wünschte, ich könnte es ändern", sagt er.

„Uns oder die Situation?", frage ich.

„Das System", sagt er.

„Aber das tust du doch", sage ich.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass es sinnlos ist", gibt er zu. Ich schaue ihn überrascht an.

„Ist es nicht", versichere ich ihm. Er nickt, ist aber nicht überzeugt. „Kian, ich glaube, du hast Recht", sage ich schließlich und die Erkenntnis, dass er wirklich Recht hat, macht mich fast wahnsinnig. Er sieht mich an.

„Womit?"

„Es ist nicht gut dir so nahe zu sein" Ich glaube, so etwas wie Erleichterung in ihm zu erkennen.

„Dann solltest du jetzt gehen", sagt er leise. Ich stehe auf und klettere vom Bett. Ich fühle mich schlecht, aber ich weiß, dass ich das Richtige tue. „Ich bin froh, dass du es verstanden hast", sagt er, als ich in der Tür stehe. Ich drehe mich zu ihm um.

„Ich wünschte, ich müsste es nicht", sage ich.

„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir das auch wünschen würde", höre ich ihn sagen, als ich hinausgehe.

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