Kapitel 30
-Kian, 11. Oktober, 53 nach Gründung-
Ich hatte wirklich versucht ihr aus dem Weg zu gehen, doch ausgerechnet dann meinte Eleonora, dass wir endlich diese verdammte Zeremonie abhalten sollten. Als ob sie es absichtlich zu einem möglichst ungünstigen Zeitpunkt machen wollte. Ich wollte Linea nicht sehen, und ja, es war wahrscheinlich ziemlich kindisch und dumm, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Sie schaffte es scheinbar ohne große Anstrengung, Dinge aus mir herauszubekommen, über die ich eigentlich gar nicht reden wollte. Und einerseits ist es irgendwie ein gutes Gefühl, mit ihr zu reden, aber andererseits ist die Stimmung zwischen uns immer so extrem wechselhaft. In einem Moment albern wir herum, wie ich es sonst nie tue, und im nächsten Moment stacheln wir uns gegenseitig an, beschimpfen und bedrohen uns. Es ist verwirrend. Und ein Tag hat nicht annähernd gereicht, um mir klar zu machen, was das war. Denn eines ist klar: Es war Nicht nichts. Egal, wie oft ich mir das einzureden versuchte. Eigentlich war mir das schon auf dem Dach klar gewesen, weswegen ich das Training an den nächsten Tagen geschmissen hatte. Auch wenn das ziemlich kurzfristig gedacht war, immerhin war klar gewesen, dass wir uns bald wiedersehen würden.
Sie betritt mit Jaron in den Keller. Er hält ihre Hand so fest, als fürchte er, sie würde weglaufen, sobald sie sich befreit. Ihr Blick ist ausdruckslos auf den Boden gerichtet. Ihre Schultern hängen, die Adern an ihrem Arm treten hervor. Ich werfe einen Blick auf ihre Hände, sie sind so verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortreten. Langsam gehen sie die Treppe hinunter, unten angekommen beugt er sich zu ihr hinunter und flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie lacht und ihn anstrahlt. Verärgert verdrehe ich die Augen und schnalze mit der Zunge. Eleonora neben mir schaut mich an. Ich kann meinen Blick nicht schnell genug von ihr abwenden, damit sie den Grund für meine Gereiztheit erkennt. Überraschend stößt sie mir den Ellenbogen in die Seite und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
,,Kannst du deine Abneigung gegen Jaron nicht so offensichtlich zeigen? Außerdem ist es schon so lange her", sagt sie und geht automatisch davon aus, dass Jaron das Problem ist. Und irgendwie ist er das auch. Nur nicht so, wie sie denkt, was mir aber ganz recht ist. Sicherlich werde ich nicht zugeben, dass ich der Meinung bin, dass Linea sich den falschen Typen gesucht hatte.
Ich versuche es", sage ich, auch wenn ich es nicht einmal ansatzweise schaffen werde. Sie schaut mich skeptisch an und schüttelt den Kopf. ,,Du wirst uns noch alle in den Abgrund reißen", sagt sie genervt. Ich grinse leicht.
,,Ich dachte, du hättest dich darauf vorbereitet", antworte ich mit deutlich besserer Laune als noch vor wenigen Sekunden. Vielleicht auch, weil ich sie aus meinen Gedanken verdrängt habe.
,,Ich hoffe du machst es wenigstens kurz und schmerzlos"
,,Hm, für dich mache ich das", sage ich und sehe sie an. Sie sieht heute wieder ziemlich müde aus, ich frage mich ob sie wieder von Albträumen geplagt die ganze Nacht wach gelegen hat. Sie setzt ein schwaches Lächeln auf, als sie meinen Blick bemerkt, doch sie kann mich nicht täuschen. Dafür kenne ich sie mittlerweile zu gut.
,,Wir können das hier auch verschieben, es ist sowieso unnötig", sage ich und klinge dabei fast schon hoffnungsvoll. Sie lacht auf und schüttelt den Kopf.
,,Sehr selbstlos Clark", meint sie spöttisch, doch ihre Stimme versagt, als sie noch etwas hinzufügen will. Stattdessen lehnt sie sich plötzlich an mich. Ihre Augen flackernleicht und ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst. ,,Kian", flüstert sie kraftlos, doch sie hätte nichts sagen müssen. Schnell schlinge ich meine Arme um sie, um sie vor einem Sturz zu bewahren. Stattdessen drehe ich sie von den anderen weg und lege eine Hand an ihren Hals. Ihr Puls ist schwach, aber oft ist er noch schwächer.
,,Es wird schon wieder", sagt sie, wenn auch nicht sehr überzeugend. Doch tatsächlich schiebt sie meine Arme von sich weg und steht wieder allein. Und wirkt dabei relativ sicher. Sie lächelt sanft und gibt mir einen Kuss auf die Wange. ,,Danke."
,,Immer wieder gerne. Hat es jemand mitbekommen?", frage ich, doch sie schüttelt nur den Kopf.
,,Ich glaube nicht, du hast schnell reagiert."
,,Ich finde trotzdem du solltest es ihnen sagen, es wäre...", sie unterbricht mich sofort und schüttelt heftig den Kopf.
,,Nein, das werde ich nicht. Ich bin einfach nur müde und erschöpft. Ich muss mehr schlafen", meint sie seufzend und dreht sich zu den anderen um. Ich zucke mit den Schultern. Sie muss selbst wissen was sie tut, sie ist erwachsen. Auch wenn sie mir das bereits seit einem halben Jahr sagt und statt besser zu werden wird es immer nur noch schlimmer.
,,Das sage ich dir schon seit Monaten", murmle ich vor mich her. Falls sie hört, was ich sage ignoriert sie es gekonnt. Sie lässt sich eigentlich von niemandem etwas sagen, fast so wie Linea. Ich stöhne auf, ich habe es so gut geschafft nicht mehr an sie zu denken und natürlich bringe ich mich selbst wieder in diese Lage. Ich werfe ihr einen verstohlenen Blick zu, doch werde damit überrascht, dass sie mich direkt anschaut. Sie versucht noch schnell genug wegzuschauen, aber auch sie ist zu langsam. Als sie es bemerkt, schaut sie zögernd zurück. Unsere Blicke treffen sich und für einen Moment schauen wir uns nur an, als würden wir ein stummes Duell austragen. Ich kann ihren Blick nicht genau deuten, wahrscheinlich wäre es einfacher, wenn sie nicht in der letzten Reihe sitzen würde. Doch auch von hier aus erkenne ich, was ich ihrem Gesicht angetan hatte. Ihre eine Gesichtshälfte ist eine Mischung aus blauen, grünen und lilanen Flecken. ihr Auge ist noch weiter angeschwollen, als ich es in Erinnerung habe und ihre Lippe ist an einer Stelle leicht eingerissen. Ich beiße mir auf die Lippe. Das war ich ganz alleine gewesen, diesmal konnte ich niemandem die Schuld dafür geben. Niemand anderes war in irgendeiner Weise daran beteiligt gewesen.
,,Was ist heute mit dir los?", entscheidet Eleonora unser Spiel mit einer Niederlage meinerseits. Schnell sehe ich sie verwirrt an, in der Hoffnung, dass sie nicht gemerkt hat, wen ich so angestarrt hatte.
,,Was?", frage ich dumm und sehe sie an. Sie schüttelt den Kopf und tritt, ohne etwas weiteres zu mir zu sagen, nach vorne. Sie lässt es sich bei jedoch nicht nehmen mich unsanft anzurempeln.
,,Wir haben uns heute nicht nur für eine weitere Versammlung eingefunden, sondern auch um unser neuestes festes Mitglied zu begrüßen. Linea, ich weiß, dass du lange auf diesen Tag warten musstest, aber das liegt sicher nicht an mangelndem Vertrauen in dich. Ich bin mir sicher, dass du ein wertvolles Mitglied sein wirst", sagt sie und schaut mich an.
Ich sollte auch etwas sagen, aber mir fehlen die Worte. Um ehrlich zu sein, habe ich mir vorher nie Gedanken gemacht und einfach alles gesagt, was mir in den Sinn kam, weil ich das Ganze für Blödsinn hielt. Und das hat bei mir immer ganz gut funktioniert. Aber jetzt fällt mir absolut nichts ein. Beim besten Willen nicht. Man könnte einen Seufzer hören, so still ist es geworden und ich stehe da und bringe keinen Ton heraus. Obwohl mir tausend Gedanken durch den Kopf gehen. Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen, als wollte ich erst einmal ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, denn genau wie Tyra und Eleonora bekomme ich immer sofort Aufmerksamkeit, wenn ich nach vorne gehe.
Mein Blick bleibt an Linea hängen und für einen Moment befürchte ich, dass sie genauso wütend schauen wird wie Jaron, doch stattdessen lächelt sie mich an. Erleichterung durchströmt mich, denn sicher weiß sie genauso wie die anderen, dass mir einfach die Worte fehlen. Andere wären an ihrer Stelle sicher sauer, aber sie lächelt mich aufmunternd an. Ich konzentriere mich darauf ihre gesunde Gesichtshälfte anzusehen. Das braune Auge, welches mich anstarrt. Das Haar, welches ihr Gesicht umrahmt. Die Hälfte ihrer Lippe, welches noch immer zu einem Lächeln geformt ist. Ich würde ihr gerne ganz andere Dinge sagen, aber nichts davon wäre angebracht in einem Raum mit 70 anderen Personen.
,,Ich glaube, du hast uns schon in der kurzen Zeit, die du bei uns bist, gezeigt, dass du stark und mutig bist. Ich denke, du kannst ein Vorbild für viele andere sein. Auch wenn ich hoffe, dass du lernst, still zu sein, wenn es nötig ist. Ich bin froh, dass du hier bist, auch wenn du schlechte Entscheidungen triffst", sage ich und sehe, wie sie sich auf die Lippe beißt. Trotzdem lächelt sie mich flüchtig an. Ich bin froh, dass sie das nicht als Beleidigung auffasst. Das wäre bestimmt nicht meine Absicht gewesen. Vielleicht ein bisschen. Mit ziemlicher Sicherheit wäre es sogar eine Lüge zu behaupten, ich hätte es nicht absichtlich getan. Schließlich hat sie mit Sicherheit die schlechteste Entscheidung getroffen. Und diese sitzt genau neben ihr und schaut mich dämlich an.
Während Tyra meinen Platz einnimmt und ebenfalls ein paar Worte an sie richtet, schaue ich mich weiter um. Es sind heute relativ viele Rebellen anwesend, einige müssen sogar hinten stehen, da der Platz nicht ausreicht. Es ist immer wieder seltsam, wie unterschiedlich die Treffen besucht werden. In der einen Woche ist nur die Hälfte der Plätze besetzt, in der anderen ist es so voll, dass man noch auf der Treppe stehen muss. Gut, ich komme selbst nicht so oft zu den Treffen, wie ich es wahrscheinlich sollte. Aber außer Eleonora und Tyra hat sich noch nie jemand beschwert. Wer sollte sich auch beschweren? Ich machte meine Arbeit und mehr konnte man von mir nicht verlangen.
,,Im übrigen haben wir beschlossen, dass das Training für alle erst morgen startet, um uns ein wenig Pause zu gönnen", sagt Eleonora und sieht mich dabei flüchtig an. Ich nicke langsam, als hätte ich von ihrer Planänderung vorher schon gewusst. Doch eigentlich hatte ich mich darauf vorbereitet gehabt heute Abend noch mit den Teilnehmern zu trainieren. Vielleicht war es besser so, denn Lineas Anblick würde mich ablenken. Wobei das morgen nicht anders sein wird.
Wie immer wird es spät. Kein Wunder, Eleonora gehen die Themen nie aus. Sie redet fast ununterbrochen, das kann sie besonders gut. Aber ich bin froh darüber, denn ich kann das ganz bestimmt nicht. Ich hasse es sogar, länger als ein paar Minuten reden zu müssen. Als Soldat musste ich nicht viel reden, außer wenn ich Schüler trainiert habe. Aber auch das war so selten, dass es nicht so dramatisch war. Im Moment war ich sowieso hauptsächlich mit der Übergabe der Auswahlen beschäftigt, was mich verwunderte, da es bei der Überfahrt mit Linea so schief gelaufen war. Aber man hatte sich sicher etwas dabei gedacht.
Langsam schlendere ich zu Isabella, verabschiede mich, vergewissere mich, dass sie mit jemand anderem zurückkommt und sehe mich dann im Raum um. Ich merke erst, dass ich sie gesucht habe, als ich sie mit Jaron entdecke und mein Blick an ihr hängen bleibt. Sie küssen sich, und ich glaube, vielleicht hofft ein winziger Teil meines Verstandes, dass er es ist, der sie küsst. Sie hat die Augen geöffnet und ihre Haltung ist eher abweisend. Trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, sie zu küssen. Und das so schamlos vor allen anderen, wobei ich ihm das eigentlich nicht übel nehmen konnte. Sie lächelt ihn gezwungen an, als er von ihr ablässt und sich an ihn schmiegt. Auch sie schaut sich um, und als ihr Blick auf mich fällt, wendet sie sich fast abrupt von ihm ab. Ich wende den Blick ab, offensichtlich ist es ihr unangenehm, mich so zu sehen. Wobei ich das verstehen kann, schließlich ist sie mit dem nervigsten und schlimmsten Rebellen aller Zeiten zusammen. Mir wäre das auch peinlich. Selbst wenn ich nicht aus Versehen da reingeraten wäre.
Eine Hand berührt meine Schulter und ohne es zu sehen, bin ich mir sicher, dass sie es ist. Denn die anderen wissen, dass ich mich nicht gerne anfassen lasse. Trotzdem setze ich ein freundlicheres Gesicht auf, als ich mich zu ihr umdrehe.
,,Danke, dass du nett warst", sagt sie. Ihr Lächeln ist fast schüchtern. Ihr Blick wandert immer wieder zu ihren Schuhspitzen, aber sie bemüht sich, mir in die Augen zu sehen. Es ist schwer zu sagen, ob ihre plötzliche Schüchternheit etwas mit mir oder mit unserem unglücklichen Morgen in ihrem Zimmer zu tun hat. Ich glaube eher an Letzteres, schließlich war sie sonst nicht gerade auf den Mund gefallen.
,,War ich das?", frage ich spöttisch.
,,Ich glaube schon. Ich bin mir zwar sicher, dass du mich beleidigt hast aber ansonsten war es wirklich sehr lieb von dir"
,,Ich habe nicht dich beleidigt, ich habe lediglich dein Urteilsvermögen in Frage gestellt"
,,Ja, ich habe nach diesem Morgen auch an mir gezweifelt", meint sie und lächelt wieder nervös. Ihre Antwort überrascht mich. Eigentlich hatte ich keine Sekunde daran gedacht, dass sie ihre Entscheidung, mich zu küssen, in Frage stellen würde. Aber offensichtlich hatte sie mehr daran als an Jaron gedacht. Was sich wie die größte Niederlage meines Lebens anfühlt.
,,Gut, auch wenn natürlich nichts passiert ist, weshalb du an dir zweifeln solltest.", sage ich düster und durchbohre sie mit meinem Blick. Sie tritt einen Schritt zurück und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
,,Was hast du sonst damit gemeint?", fragt sie ruhig. Ihr Blick zuckt nervös umher, wahrscheinlich muss sie sich vergewissern, dass uns niemand zuhört. Was ich verstehen kann.
,,Ist das nicht offensichtlich?", frage ich und versuche so leise wie möglich zu sein, um die Aufmerksamkeit der verbliebenen Rebellen nicht auf uns zu lenken und sie nicht noch nervöser zu machen.
,,Sag es mir."
,,Können wir das bitte später ausdiskutieren?", frage ich finster und deute auf die Menge. Sie schüttelt den Kopf.
,,Es gibt nichts, was ich nicht auch vor den anderen mit dir besprechen würde.", antwortet sie ebenso kalt. Ich sehe sie ungläubig an und beuge mich zu ihr herunter. Hatte ich ihren Blick missverstanden? Was wollte sie dann damit bezwecken?
,,Ich habe schon gesehen, dass es dir nichts ausmacht alles von dir preiszugeben.", sage ich und deute mit dem Kinn auf Jaron, welcher uns beobachtet, als wolle er mich gleich verprügeln. Ihre Miene verfinstert sich und sie sieht mich mit einem tödlichen Blick an.
,,Du bist so ein Arschloch.", schimpft sie und schlägt mir auf die Schulter. Ich zucke zusammen, das hatte ich nicht erwartet. Auch wenn es nicht so sehr schmerzt, wie sie gehofft hat.
,,Dann bin ich ja froh, dass alles wieder beim Alten ist.", sage ich so gleichgültig wie möglich. Sie nickt langsam.
,,Ich auch, du warst mein größter Fehler. Ich denke nicht, dass mir noch ein größerer Fehler passieren kann."
,,Tatsächlich? Ich kann mich allerdings gut daran erinnern, dass du mich vor wenigen Minuten noch angestarrt hast als würdest du das ganze noch hier auf der Stelle fortführen wollen."
,,Ich habe dich so angestarrt, als würde ich dich gleich erwürgen wollen.", faucht sie und irgendwie finde ich es amüsant sie zu ärgern, deshalb mache ich gleich weiter damit.
,,Wenn du darauf stehst, warum nicht?", sage ich leise in ihr Ohr, woraufhin sie rot wird, obwohl sie wahrscheinlich keine Ahnung hat, was ich damit meine. Sie schiebt meinen Kopf weg und wieder trifft mich ihr wütender Blick.
,,Wenn ich nicht durch meine Verletzung geschwächt gewesen wäre hätte ich dich sowieso nie geküsst."
,,Diese Theorie könnten wir überprüfen.", sage ich leise und sehe mich kurz um, außer uns sind die meisten schon gegangen. Nur Jaron sitzt weiter hinten und sieht uns böse an. Nun, es gibt absolut keinen Grund sie nicht zu küssen. Langsam gehe ich wieder auf sie zu und schaue ihr tief in die Augen. Sie schluckt trocken und nickt. Auch wenn sie dabei etwas zögerlich wirkt.
,,Wir müssen das gar nicht prüfen, denn ich will dich ganz bestimmt nicht küssen.", flüstert sie mit leiser Stimme. Ich lege eine Hand an ihren Kiefer und lasse meine Finger leicht über ihre Wange streichen. Das es ihre verletzte Seite ist merke ich erst, als ich meinen Finger absichtlich ein Stück weiter über einen bläulichen Fleck lege. Ich bin wirklich ein Idiot.
Als sie es zulässt, dass ich sie berühre, lege ich die andere Hand auf ihren unteren Rücken und ziehe sie langsam näher zu mir heran. Dabei lasse ich sie nicht aus den Augen und auch sie erwidert meinen Blick. Ihre Augen sind groß, ihre Wangen gerötet und sie beißt sich auf die Unterlippe, was mich nur noch mehr dazu bringt, sie küssen zu wollen. Langsam nähere ich mich ihren Lippen, bis sie die Augen schließt. Ihr Herz springt aufgeregt in ihrer Brust auf und ab, jedenfalls hört es sich so an. Triumphierend lächle ich und lasse sie los. Verwirrung liegt in ihrem Blick, als sie mich ansieht.
,,Du hast recht, du wolltest mich offensichtlich nicht küssen.", sage ich spöttisch und drücke meine Lippen kurz an ihre Schläfe, bevor ich mich endgültig zurückziehe und sie stehen lasse. Sie schaut immer noch verwirrt und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber es kommt kein Ton heraus. Ich zwinkere ihr zu und gehe. Auf dem Weg nach draußen grinse ich Jaron kurz an, der mich so ansieht, als würde er mich nicht mehr nur verprügeln, sondern mir gleich den Kopf abreißen wollen. Wobei er mich auch an anderen Tagen so ansieht, also keine große Überraschung. Ich steige die Treppe hinauf und verabschiede mich von Josh, bevor ich nach draußen gehe und ein paar Augenblicke warte.
Es dauert kürzer als erwartet, bis die Tür wieder aufgeht und sie sich wütend umschaut. Als ihr Blick auf mich fällt, verfinstert sich ihre Miene noch mehr, aber in ihrem Blick liegt auch Scham darüber, dass sie genau das getan hat, was ich von ihr erwartet habe. Von Jaron fehlt erwartungsgemäß jede Spur. Er lässt seine Freundin lieber mit einem anderen Mann allein, als sich einem Konflikt zu stellen.
,,Was sollte das? Jaron ist so sauer wegen dir", faucht sie. Ich zucke mit den Schultern und lehne mich gegen die Wand, vergrabe die Hände in den Hosentaschen.
,,Das ist nichts Neues für mich und es ist mir weiterhin vollkommen egal"
,,Mir aber nicht", meint sie und verschränkt die Arme vor der Brust.
,,Warum klärst du es dann nicht mit ihm direkt und läufst lieber mir hinterher?", frage ich provozierend.
,,Ich...ich weiß es nicht", antwortet sie schließlich und lässt die Schultern hängen. Ich bekomme beinahe ein schlechtes Gewissen, doch dann sieht sie mich wieder böse an. ,,Wage es nicht, so etwas noch einmal zu machen"
,,Warum, was tust du dann?", frage ich und grinse leicht. Sie schüttelt den Kopf und tritt näher an mich heran.
,,Ich kann auch Spiele spielen, Kian"
,,Hm, und was für Spiele?"
,,Wissen die anderen eigentlich, dass du mich nicht nur einmal verletzt hast?", fragt sie unschuldig und tritt mit einem süßen Lächeln vor mich.
,,Nein, aber sag es ihnen doch", antworte ich und beobachte, wie ihr Lächeln verblasst, als hätte sie nur einen Triumph. ,,Ich bin sicher, es würde sie alle interessieren, dass du es nicht schaffst, auf einfache Befehle zu hören."
,,Ich lasse mir kein Befehle von dir geben", flüstert sie, ihre Wangen glühen noch immer und in ihren Augen liegt ein Ausdruck, der etwas ganz anderes erzählt als ihre Worte. Sie zittert, doch ich kann nicht genau sagen ob vor Wut oder vor Kälte.
,,Komm zu mir", flüstere ich. Sie schüttelt langsam den Kopf, doch als ich auf sie zutrete weicht sie nicht zurück. Sie hat eindeutig eine Gänsehaut, also ziehe ich meine Jacke aus und reiche sie ihr wortlos. Es ist tatsächlich erstaunlich kalt geworden. Und sie ist so dünn, dass ich mich wundere, dass sie es überhaupt so lange hier draußen ausgehalten hat.
,,Danke", sagt sie erleichtert und schlingt sich die Uniformjacke um den zitternden Körper, entspannt sich augenblicklich.
,,Kein Problem", sage ich und lehne mich zurück an die Wand, strecke die Arme nach ihr aus und nach einigem Zögern lässt sie sich schließlich hineinfallen. Ich schlinge die Arme um sie und versuche mich dann so leise wie möglich zu verhalten, als würde sie mich erst dann bemerken.
,,Ich dachte, dass wir uns nicht mehr berühren sollen", meint sie und sieht mich durchdringend an. Ich nicke langsam, ja das hatte ich gesagt. Vielleicht war das etwas übertrieben gewesen, doch im Grunde hatte ich Recht gehabt mit meiner Aussage.
,,Das ist eine Ausnahme", sage ich ruhig. Sie nickt langsam und lehnt sich dann wieder gegen mich. Ich spüre ihren kalten Atem an meinem Hals und die noch kälteren Finger, welche sich förmlich in meinen Nacken bohren. Ich versuche mich möglichst nicht zu bewegen, damit sie nicht wie ein verängstigtes Kind davon läuft.
Das funktioniert ganz gut, bis sich die Türe leise quietschend öffnet, ich sie augenblicklich loslasse und sie davonschreckt. Sie schafft es gerade noch, ein paar Schritte rückwärts zu gehen, bevor Jaron hinter der Tür auftaucht und sich nach ihr umsieht. Er sieht uns grimmig an und kommt auf uns zu. Ohne ein Wort zu sagen, zieht er sie an sich und küsst sie leidenschaftlich, während sie tatenlos dasteht. Ich schaue weg, obwohl ich spüre, dass ihr Blick auf mir ruht. Ich will das nicht sehen. Ich glaube nicht, dass es mir etwas ausmacht, aber es ist nicht sehr angenehm, dumm daneben zu stehen.
Als ich aus dem Augenwinkel sehe, dass sie sich entfernen, blicke ich zu ihnen zurück. ,,Ist die Show schon zu Ende?", frage ich spöttisch und sehe ihn missmutig an.
,,Tut mir leid, ich habe dich gar nicht bemerkt", lügt er scheinheilig. Ich mache ein abfälliges Geräusch und mein Blick fällt kurz auf Linea, die immer noch fast stocksteif dasteht und sich kaum von der Stelle rührt.
,,Macht nichts, ich muss nur warten, bis deine Freundin hier fertig ist", sage ich abfällig und deute auf meine Jacke, die immer noch um ihren schlanken Körper geschlungen ist. Mit hochrotem Kopf zieht sie sie aus und reicht sie mir, ohne mir in die Augen zu schauen.
,,Danke nochmal", sagt sie leise. Ich nicke nur und wende mich zum Gehen.
,,Habt ihr das jetzt geklärt? Hast du verstanden, dass du ihr nicht zu nahe kommen sollst?", spricht mich Jaron plötzlich an. Ich drehe mich zu ihm um. Linea schaut mich flehend an und ich nicke langsam.
,,Natürlich, sie hätte mich zwar damit fast zum heulen gebracht aber ich werde es überleben", ich höre sie kichern, während Jaron es ernst nimmt:
,,Ist mir eigentlich egal ob du es überlebst oder eben nicht Hauptsache du lässt sie in Ruhe"
Ich sehe Linea in die Augen und nicke, ohne sie aus den Augen zu lassen. ,,Natürlich, es ist sowieso absolut nichts passiert", wiederhole ich mich und ziehe die Jacke, die ich mir über die Schulter geworfen habe, wieder an. ,,Und jetzt muss ich euch leider verlassen, trotz dieses sehr anregenden Gesprächs. Ich möchte so wenig Zeit wie möglich mit euch verbringen. Bitte geh mir in Zukunft aus dem Weg, ich will schließlich nicht dass dein Freund hier verletzt wird.", sage ich kühl und schaue nur zu Linea, die inzwischen so nah an Jaron herangerückt war, als wolle sie mich ärgern.
Verdammt, sie hatte es wirklich geschafft mich für sich zu gewinnen. Sie sollte nicht so viel Macht haben, aber wahrscheinlich war es nur Neugier. Schließlich suchte sie manchmal meine Nähe, nur um mich im nächsten Moment wieder abzuweisen. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie das absichtlich tat, so war sie doch erstaunlich gut darin. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie so etwas noch nie gemacht hat. Wieder beißt sie sich auf die Lippe. Ich wende mich ab und gehe in Richtung meiner Wohnung.
Ich wünschte wirklich, ich hätte mich nicht bei ihr entschuldigt. Dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätte sie nicht so ein Chaos angerichtet. Dann würde ich jetzt nicht ihre Lippen auf meinen spüren.
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