Kapitel 29

-Linea, 10. Oktober, 53 nach Gründung-


Ich spüre, wie sich meine Wangen rot werden, ich will nicht, dass er sich wieder einmal lustig über mich macht. „Du hast das gemalt?", fragt er und schaut mich kurz an, bevor er eine Zeichnung nach der anderen anschaut.

„Woher sollte ich die sonst haben?" Er verdreht die Augen und betrachtet eines der Bilder etwas länger. Ich weiß nicht genau, welches es ist, aber es macht mich nervös. Ist es nur Zufall oder hat er etwas entdeckt, das mich in Verlegenheit bringen könnte? Die Antwort gibt er mir selbst, als er es hochhebt. Er schaut mich beeindruckt an, bevor er sich wieder dem Bild zuwendet.

„Was ist das?", fragt er schließlich interessiert. Ich beiße mir auf die Lippe, daran hatte ich nicht einmal mehr gedacht. Ich hatte das nur aus Langweile gemalt, ohne wirklich ein Motiv vor Augen gehabt zu haben, wie ich es sonst tue. Eine Raute, darin ein Kreis, der aus einer Kette besteht, die an den Gliedern aufgerissen ist. In der Mitte prangt ein Phönix. Ich wusste nicht genau wie so etwas aussieht, immerhin habe ich ihn nur nach Erzählungen gezeichnet. Doch ich persönlich finde, dass es so ganz gut aussieht. Kians Augen leuchten, als er es zur Seite legt.

„Ich weiß nicht genau, es war nur so eine Idee", zögere ich.

„Für was?", fragt er ungeduldig. Genervt trete ich zu ihm und nehme das Blatt in die Hand. Es ist mir mehr als unangenehm mich zu erklären, doch er drängt so sehr darauf, dass ich beschließe es einfach zu sagen. Jedoch sehe ich ihn dabei nicht an.

„Soweit ich weiß, steht der Phönix für Auferstehung, die Kette steht für das System. Das war nur so eine Idee, die ich mal hatte", sage ich und wage es ihn durch mein Haar hindurch anzuschauen. Er nickt, als hätte er es schon gedacht.

„Und was machst du sonst, wenn du nicht arbeitest, zeichnest oder dich mit uns triffst?", fragt er. Ich bin überrascht über seine Wortwahl, doch dann fällt mir wieder ein, dass auch Isabella in den Zimmern nicht offen reden wollte. Ich lache leise.

„Ich glaube, ich schlafe dann, was meinst du, wie viel Zeit ich dazwischen habe?" Er grinst schief.

„Immerhin vernünftig", meint er. Ich betrachte die Schatten unter seinen Augen und frage mich, wann und ob er überhaupt schläft. Außer vorhin, als ich ihn geweckt habe. Als Soldat in Gold hat er einen strengen Tagesablauf. Er hat nicht nur seine Einsätze, er muss auch unterrichten und an Versammlungen teilnehmen. Und dann sind da noch die Pläne der Rebellen und natürlich die Treffen. Er muss unter großem Druck stehen. Vielleicht erklärt das seine Aggressivität, ohne sie zu entschuldigen zu wollen.

„Bist du etwa unvernünftig?", frage ich. Er zuckt mit den Schultern.

„Das solltest du wissen", sagt er. Er presst die Lippen aufeinander und spannt den Kiefer an, als würde er innerlich gegen etwas ankämpfen. Und ich kann mir vorstellen, dass das etwas mit dem zu tun hat, was vor ein paar Stunden passiert ist. Ich gehe auf ihn zu und versuche, meine Wut zu verbergen. Als ich meine Arme auf seine Schultern lege, hält er für ein paar Sekunden inne, dann schlingt er seine Arme um meine Taille. Mein Herz macht einen Sprung, als er mich berührt. Wir verharren eine Weile in dieser Position, dann lege ich eine Hand an seine Augenbraue, besser gesagt an die kleine Wunde darin, welche man nur erkennt, wenn man ganz genau hinsieht. Was ich scheinbar getan habe. Normalerweise wäre es mir peinlich, aber heute nicht. Auch wenn ich sogar mit Sicherheit sagen kann, dass sie vorhin noch nicht da gewesen ist.

„Wer war das?" Er weicht meinem Blick aus, als er leise mit Isabella antwortet. Ich lache auf, denn ich kann es mir weder vorstellen, dass Isabella jemanden schlägt und auch nicht, dass sich Kian von einer alten, blinden Frau schlagen lässt. Erstaunlicherweise stimmt er in mein Lachen ein. Mir wird warm ums Herz, wie beim letzten Mal, als ich ihn lachen hörte, und es tut irgendwie wieder gut, das zu hören. Vielleicht, weil ich gedacht habe, dass er das gar nicht kann. Vielleicht, weil er mich doch mehr interessiert, als ich zugeben will. Vielleicht weil sein Körper dem meinen so nahe ist, dass ich ihn am ganzen Körper spüre. Ich spüre sogar seinen Atem an meinem Ohr.

Als er mir nach einer gefühlten Ewigkeit wieder in die Augen schaut, stockt mir der Atem. Sein Blick ist sanft, fast schon liebevoll. Die Wut und der Hass sind daraus verschwunden. Als er meine Überraschung bemerkt, lässt er mich los und dreht sich zum Fenster um.

„Denkst du, dass sie bei der Arbeit sind?", fragt er leise.

„Was?", frage ich, mein Puls ist noch immer so erhöht, dass mein Gehirn offensichtlich nicht mehr richtig arbeiten kann. Er dreht sich zu mir um und sieht mich belustigt an.

„Ob die Frauen, wegen denen ich hier bin, mittlerweile aus den Gängen verschwunden sind oder ob ich noch bleiben sollte. Ich will ja nicht, dass du schlecht dastehst" Ich schüttle den Kopf, dann nicke ich.

„Ähm...ich denke schon", stammle ich.

„Vielleicht sollte ich noch ein paar Minuten bleiben, vorsichtshalber", meint er vorsichtig. Ich nicke sofort.

„Ja, ich denke, dass das eine gute Idee ist", sage ich ein bisschen zu schnell und auch zu euphorisch. Er grinst leicht und dreht sich wieder zum Fenster um.

Ich sehe an ihm vorbei. Abgesehen von den Soldaten, die dort draußen patrouillieren, scheint nichts los zu sein. Ich zögere, dann trete ich zu ihm, um besser sehen zu können, was genau er dort draußen beobachtet. Doch tatsächlich sehe ich nur den Innenhof des Kinderhauses, abgesehen von den Soldaten. Die Kinder sind natürlich noch nicht draußen, dafür wäre es wohl noch zu früh. Dann kommt mir aber wieder in den Sinn, dass er natürlich dort aufgewachsen war. Ich sehe zu ihm hoch, doch sein Blick ist unergründlich.

„Wie war es dort aufzuwachsen?", frage ich leise. Er zuckt mit den Schultern.

„Ich war nur sechs Jahre dort, das war... okay", sagt er. Offensichtlich will er nicht darüber reden und ich kann das verstehen. Meine Mutter hatte zwar auch viele Kinder zu versorgen, aber so wie hier war es nie. Gerade bei den älteren Kindern, bei denen wir weniger Kinderfrauen waren, gab es Kinder, mit denen ich während einer Schicht nicht einmal reden konnte. Manche bemerke ich noch nicht einmal. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, auch wenn ich mir zuvor nie Gedanken darüber gemacht habe.

„Manche Auswahlen werden nicht nach Kompetenz getroffen, sondern weil die Frauen leichter verfügbar sind als in den anderen Zonen", sagt er schließlich. Überrascht schaue ich ihn an.

„Was?", frage ich nur geschockt. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was er damit meint.

„Hast du dich noch nie gefragt, warum im Kinderhaus überdurchschnittlich viele attraktive Frauen sind?"

„Ähm...nein, habe ich nicht. Ist das auch der Grund, wieso ich hier bin?", frage ich spöttisch. Er schüttelt den Kopf.

„Nein, das ist sicherlich nicht der Grund, du wurdest zugeteilt, weil du...nicht so bist wie man dich haben wollte", meint er nachdenklich. Ich nicke langsam. Das wusste ich bereits. Wobei ich meine Zuteilung nicht als Strafe ansehe.

„Wie waren denn die Frauen, die nicht wegen ihrer Kompetenz ausgewählt wurden", frage ich leise. Er schaut mich immer noch nicht an.

„Die meisten von ihnen haben sich Mühe gegeben, viele von ihnen waren gute Menschen"

„Und die anderen?", frage ich noch bevor ich überlegen kann, ob ich das wirklich wissen möchte.

Er zögert, dann schiebt er sein Hemd ein Stück hoch und zeigt seinen unteren Rücken, der von vielen feinen, silbernen Narben gezeichnet ist. Ich ziehe scharf die Luft ein, ich weiß nicht, wie sie entstanden sind, aber bei dem Gedanken, einem höchstens sechsjährigen Kind so viele Narben zuzufügen, wird mir übel.

„Es tut mir so leid", sage ich und Tränen sammeln sich in meinen Augen. Er zuckt nur mit den Schultern.

„Das ist schon 20 Jahre her, ich kann mich nichtmal mehr daran erinnern", meint er spöttisch. Überrascht hebe ich die Augenbraue.

„Wie alt bist du, Kian?", frage ich sanft.

„22", antwortet er nur. Mir wird schlecht. Einen Sechsjährigen zu schlagen ist hart, einen Zweijährigen zu schlagen ist pervers.

„Du warst 2?", frage ich leise. Er nickt.

„Ich war ein anstrengendes Kind", sagt er abwesend und sieht mich kurz an. Ich sehe noch den Schmerz in seinen Augen, wenn auch nur für einen Moment. Am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen, aber ich traue mich nicht. vorhin hatte ich ihn noch gerne verletzen wollen, doch offensichtlich hatte er genug Schmerzen in seinem jungen Leben erfahren müssen. Und offensichtlich hatte er es auch als anstrengendes, zweijähriges Kind nicht verdient gehabt sowas zu ertragen. 

„Es tut mir so leid", wiederhole ich mich stattdessen, da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.

„Du kannst ja nichts dafür" Ich verdrehe die Augen, warum konnte er es nicht zulassen, dass man sich um ihn sorgte?

„Darum geht es auch nicht", sage ich und trete näher an ihn heran, streiche vorsichtig über eine der Narben. Ich spüre, wie er unter meiner Berührung zusammenzuckt, aber er hält inne und lässt mich weitermachen. Jedoch ist er dabei so angespannt, dass ich mir sicher bin, dass er das nicht oft zugelassen hatte.

„Wovon?", frage ich leise, als ich bemerke, dass die Narben nicht gleichmäßig verteilt sind.

„Von dem, was gerade verfügbar war.", antwortet er und zieht das Hemd entschlossen herunter, als wäre das Thema für ihn damit erledigt. Ich schaue ihm in die Augen, dann nehme ich meinen Mut zusammen und schlinge meine Arme wieder um ihn. Es dauert eine Weile, bis er es mir gleichtut. Ich lege eine Hand auf seine stoppelige Wange und zwinge ihn so, mir in die Augen zu sehen.

„Ich verspreche, dass ich das niemals zulassen werde.", sage ich ernst. Er nickt.

„Ich weiß. Egal welche Absichten bei deiner Auswahl eine Rolle gespielt hatten warst du immer für diesen Job geeignet.", flüstert er. Mein Herz schlägt wie wild, als er seine Lippen senkt und sie flüchtig auf meine Stirn drückt. Sein Kuss hinterlässt ein angenehmes Kribbeln, aber auch ein Brennen tief in meinem Körper. Es ist ein ganz neues Gefühl, das ich nicht genau einordnen kann. Ich lege einen Finger an seine Lippen und zeichne sie nach. Sie sind etwas spröde, aber in diesem Moment kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Er tut mir den Gefallen und drückt sie an meine Schläfen, an meine Wange. Er bleibt an meinem Kiefer hängen. Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust. Kurz löst er seine Lippen von mir und sieht mich an, als wolle er mich um Erlaubnis bitten.

„Küss mich", sage ich mit einem leicht flehenden Unterton. Er verzieht die Lippen zu einem spöttischen Grinsen, doch anstatt etwas zu erwidern, legt er sie wieder genau auf die Stelle, von der er sie eben genommen hat. Quälend langsam lässt er sie über meinen Kiefer gleiten. Sein Körper schiebt meinen gegen die Wand neben dem Fenster. Als sein Körper gegen meinen drückt, keuche ich leise. Seine Lippen haben meinen Mundwinkel erreicht. Doch wieder hält er inne.

„Kian", flüstere ich ungeduldig und nervös zugleich. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, dann küsst er mich endlich und ich explodiere vor Verlangen. Unser Kuss ist bald nicht mehr so zärtlich wie er angefangen hatte, die Emotionen der letzten Stunden liegen darin. Trauer, Enttäuschung, Neugier und auch Wut. Kein Kuss, den ich je bekommen habe, auch wenn es nicht viele waren, kommt an diesen Kuss heran. Er schiebt eine Hand unter meine Hüfte und hebt mich ein wenig hoch. Automatisch schlinge ich meine Beine um seine Hüfte. Obwohl ich das noch nie gemacht habe.

Diesmal bin ich es, die meine Lippen über sein Gesicht wandern lässt, während ich meine Hände über seinen Oberkörper wandern lasse. Ich frage mich, welche Narben er noch an seinem Körper trägt. Er stöhnt leise in mein Ohr, als ich die empfindliche Stelle hinter seinem Ohr küsse. Dann schiebt er mein Oberteil hoch und lässt seine Hand über meine Hüfte gleiten. Panik überfällt mich schlagartig. Jaron hatte sowas noch nie gemacht un auch wenn ich das hier gerade genoss fühlten sich seltsam an. Ich war noch nie in meinem Leben zuvor so verwundbar gewesen, hatte noch selten so eine Unsicherheit gespürt. Abrupt lasse ich ihn los. Sein Blick ist verwirrt, aber er scheint zu verstehen. Dennoch kann er seine Enttäuschung kaum verbergen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue aus dem Fenster, weil ich ihn nicht länger ansehen kann. Irgendwie ist es mir unangenehm.

Langsam legt er seine Hände von hinten auf meine Taille. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung, er vergräbt sein Gesicht kurz in meinem Haar. Langsam legt er seine Hände von hinten auf meine Hüfte. Ich drehe den Kopf in seine Richtung.

„Es tut mir leid, ich hätte das nicht überstürzen dürfen", sagt er, durch mein Haar gedämpft. Ich schüttele leicht den Kopf.

„Das ist es nicht", sage ich sanft. Er hebt den Kopf, ich spüre seinen Blick auf mir ruhen.

„Was ist es dann?", fragt er und dreht mich schließlich zu sich, seine Augen erforschen mein Gesicht, als würde er darin nach dem Grund suchen. Wieder beiße ich mir auf die Lippe. Sein Blick durchbohrt mich förmlich, kurz wende ich den Blick ab, doch dann schaffe ich es, ihm standzuhalten.

„Ich... das ist neu für mich", gebe ich leise zu.

„Sex?" Er schaut nicht überrascht, als ich verlegen nicke. Natürlich hatte ich von Jaron davon gehört, aber es hatte sich nicht nach etwas angehört, das ich wirklich machen wollte. „Ich wollte nicht", sagt er und streicht mir sanft über die Wange.

„Was wolltest du nicht?", hake ich nach.

„Ich wollte dich nicht drängen. Ich will gar nicht mit dir schlafen", ich lege den Kopf schief. Obwohl er wahrscheinlich nur rücksichtsvoll sein will, klingt es wie eine Zurückweisung. Was meine Unsicherheit nicht gerade verbessert. 

„Hast du auch nicht", ich lächle, als ich merke, wie nervös er ist. Irgendwie süß. Ich lege ihm die Arme um den Hals und küsse ihn wieder. Aber dieses Mal ist es anders. Es fühlt sich immer noch gut an, aber es ist anders, als wäre das Feuer erloschen. Vielleicht liegt es aber auch nur an der allgemein angespannten Stimmung zwischen uns. Ich lehne meine Stirn an seine und schließe für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, lächelt er leicht. Aber es sieht mehr als unecht aus. Eigentlich ist sein Lächeln fast immer so. 

„Ich glaube, das war ein Fehler. Bitte lass es nie wieder zu, dass ich dich überhaupt anfasse", flüstert er. Mein Herz zieht sich zusammen. Nickend stimme ich ihm zu, auch wenn ich es nicht so empfinde. Aber es wäre mehr als peinlich, das jetzt zuzugeben.

„Ja, du hast Recht", sage ich leise und spüre, wie meine Augen brennen. Was ist nur los mit mir? Ich bin heute Morgen aufgewacht und habe ihn gehasst. Richtig gehasst. Und jetzt weine ich fast, weil er mich abweist. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, dass er mich abweist, sondern wie sehr es mich verletzt. Und in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass ich ihn auch verletzen muss. Wenn das überhaupt möglich ist.

„Ich und Jaron wir... das fühlt sich richtig an", lüge ich und hoffe inständig, dass es ehrlich klingt. Er schaut mich nachdenklich an und nickt.

„Ja, du hast recht", sagt er nun auch.

„Kann das dann unter uns bleiben?", frage ich mit zitternder Stimme. Er lässt mich los und nickt. Dann schließen sich seine Augen für einen Moment. Als er mich wieder ansieht, ist sein Blick eiskalt. Er lässt mich förmlich frösteln.

„Natürlich, es ist ja sowieso nichts passiert."

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