Kapitel 27

-Linea, 10. Oktober 53 nach Gründung-


Meine Nerven liegen so blank, dass ich mich kaum noch traue in das Zimmer der Kleinen zu gehen. Ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder warum sie mich in den letzten Tagen so aus der Ruhe bringen. Am Ende ist es auch egal, woran es liegt. Nur so darf es nicht sein. Das weiß ich selbst. Die letzten Wochen haben mich verändert, natürlich hauptsächlich zum Positiven. Ich war schon immer ein ruhiger Mensch, wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich ins Kinderheim gekommen bin. Aber seit ich bei den Rebellen bin, hat sich das geändert. Ich bin unkonzentriert. Ich schlafe schlecht und wenig. Ich hinterfrage mehr. Ich bin schneller genervt.

Wenn ich einem der Jungen in die Augen schaue, sehe ich nicht mehr länger ein unschuldiges, süßes, kleines Kind. Ich muss daran denken, dass manche von ihnen Soldaten werden, die Frauen umbringen, weil diese nicht da machen, was sie sollen. Ich sehe Befehlshaber, die sich weitere Regeln überlegen, die darauf anzielen uns schwach und klein zu halten. Ich sehe Ärzte, die sich ausschließlich um die Gesundheit von Männern kümmern. Ich sehe Männer, die sich gegenseitig bekriegen.

Ich weiß, dass es so nicht sein sollte, weiß, dass sich das alles hoffentlich bald ändern wird. Doch ich frage mich, ob eine Rebellion das System ändern kann. Die Menschen haben das alles Jahrzehntelang mitgemacht, sind so aufgewachsen. Die Menschen haben das System gegründet, warum sollten sie nicht daran festhalten wollen. Oder wieder ein derartiges System aufbauen? Vielleicht sind die Rebellengruppen die einzigen, denen das System nicht gefällt. Wenn ich an meine Familie denke, weiß ich, dass der Großteil meiner Schwestern das System immer unterstützen würden. Genauso wie meine Mutter. Sie haben nie etwas anderes gekannt. Ich weiß nicht, ob sie mich unterstützen würden. Ich bezweifle es sogar. Ich merke, wie ich zittere.

Der Gedanke an meine Familie bricht mir das Herz, ich werde sie wahrscheinlich nie wiedersehen, selbst wenn die Rebellen gewinnen. Es gibt Tausende, vielleicht Millionen von Menschen in diesem System, es ist absurd zu glauben, dass ich sie jemals wiedersehen werde. Und selbst wenn ich sie finde, gehören sie vielleicht zu der Gruppe, die gegen uns, gegen mich kämpft. Ich hasse den Gedanken, wie meine Familie auf der anderen Seite zu stehen. Obwohl wir das vielleicht schon längst sind. Ohne dass sie es überhaupt wissen. Ich denke daran, wie meine Mutter immer über die Rebellen geschimpft hat. Auch Adriana konnte sie nie leiden. Ich hasse den Gedanken, dass sie genauso über mich denken könnte, wenn sie wüsste, was ich tue.

Ich seufze leise, dann ziehe ich mich an. Schwarze Kleidung, so wie Isabella es mir empfohlen hatte. Die wöchentlichen Treffen tun mir gut, auch wenn sie mich jedes Mal runterziehen. Jede Woche erfahre ich die Lebensgeschichte eines anderen Mitgliedes, mittlerweile vertrauen die Leute mir dort. Sie reden ganz von sich aus, als würden wir uns alle schon ewig kennen. Ich vertraue ihnen, auch wenn ich natürlich dem einen oder anderen weniger traue. Jede Woche kommen neue hinzu, unsere Gruppe wächst. Was mich natürlich freut, immerhin können wir so mehr Missionen planen. Kian ist schon dabei, wie ich von Isabella erfahren habe. Ich habe ihm gegenüber noch immer gemischte Gefühlen. Auch wenn mir die täglichen Trainingseinheiten absolut gut taten. Ich fühlte mich jetzt schon um einiges besser, auch wenn ich noch immer viel zu lernen habe. 

Einerseits wird er für mich immer der Mann bleiben, der meine beste Freundin umgebracht hat, andererseits ist er interessant. Vielleicht nur, weil er absolut undurchschaubar für mich ist. ich erinnere mich viel zu intensiv an eine unserer letzten Begegnungen. An den Streit und daran, wie verletzt er gewirkt hatte. Wie wütend er gewesen war. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie er mir den Rücken zugekehrt hatte und einfach gegangen. Aber auch an unsere Letzte, wie er sein Leben riskiert hatte um den Jungen etwas mehr Milch zu verschaffen. Ich weiß, dass er humorvoll sein kann und ich habe das Gefühl, dass er noch viel mehr zu sagen hat als er wirklich tut. Außerdem liebt Isabella ihn vom ganzen Herzen. Sie hat mir gesagt, dass ich meine Abneigung ihm gegenüber ablegen sollte. Doch ich kann das einfach nicht. Adriana wird immer zwischen uns stehen. Auch wenn ich selbst merke, dass sie immer weiter in den Hintergrund gerät. 

Langsam laufe ich in Richtung des Versammlungsortes. Zu Josh nach Hause. Mittlerweile kenne ich den Weg, ohne wirklich darüber nachdenken zu müssen. Ohne mich auch nur einmal umschauen zu müssen. Ich gehe ihn ganz automatisch. Obwohl ich mir viel Zeit für den Weg lasse, komme ich zu früh an. Kurz überlege ich, ob ich nicht draußen warten sollte, so wie ich Jaron kenne, ist er bestimmt schon da. Aber nein, ich will mich nicht vor ihm verstecken. Das ist unsinnig. Josh wundert sich nicht einmal, dass ich wieder einmal einer der Ersten bin. Als hätte ich schon mein ganzes Leben lang an seine Tür geklopft, lässt er mich wortlos eintreten. Seit Wochen fiebere ich dem Tag entgegen, an dem ich endlich ein vollwertiges Mitglied der Rebellen sein werde, denn bis jetzt hat die Zeremonie noch nicht stattgefunden und ich bin nervös deswegen. Die anderen versichern mir, dass es normal ist, dass es so lange dauert, aber ich bin nicht überzeugt. Ich habe das Gefühl, dass man mich absichtlich zappeln lässt.

Der Raum ist schwächer beleuchtet als er es sonst ist, dennoch gewöhnen sich meine Augen schnell daran. Mittlerweile kann ich sogar schon von weitem erkennen, wer hier ist. Rosalie. Mike. Ethan. Jaron und Eleonora. Ich zögere, dann gehe ich auf Jaron zu. Er hebt den Blick und schenkt mir ein leichtes, zögerndes Lächeln. Erleichterung durchfährt mich. Immerhin ignoriert er mich nicht.

„Ich...", beginne ich, werde aber unterbrochen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich alle Köpfe heben. Hinter Kian kommen ein paar andere Rebellen die Treppe herunter. Sie reden aufgeregt durcheinander. Nur Kian schweigt, obwohl die anderen offensichtlich mit ihm reden. Oder es zumindest versuchen. Was mich nicht wundert: Er ist still. Als wäre er die ganze Zeit mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Wobei ich keine Ahnung habe, worüber er nachdenkt. Sein Blick trifft meinen, dass erste Mal seit zwei Tagen, dann schaut er zu Jaron neben mir und ich könnte schwören, dass sein Blick noch ein bisschen grimmiger wird, als er ohnehin schon ist. Ich vermeide es, meinen Blick von ihm abzuwenden, er tut es mir gleich. Selbst als er vor mir steht, schaut er mich noch an. Ich glaube sogar noch etwas von der Wunde sehen zu können, die ich ihm zugefügt habe, als mir beim Waffentraining das Messer abgerutscht war. Wieder kommt dieses Schuldgefühl in mir hoch, aber ich wende meinen Blick dennoch nicht ab, zudem die Wunde nie wirklich dramatisch gewesen ist. Sein Blick hält mich gefangen. Ich frage mich, was er in den letzten Tagen getan hat. 

Nachdem wir erfolgreich die Milch abgeliefert hatten war er schnell verschwunden, als hätte er plötzlich gemerkt, dass er es eilig hatte. Ich war am nächsten Abend wie immer zum Training gekommen, doch er war nicht da gewesen. Lediglich Josh, welcher mir erzählte, dass Kian sich heute nicht fit fühlte. Ziemlich sicher, dass es eine Lüge gewesen war, aber er hätte es mir doch auch einfach sagen können. Wenn er auf das Training keine Lust mehr hatte, hätte ich mich doch nicht beschwert. Also irgendwie schon, aber nicht öffentlich jedenfalls. 

„Wie wir beim letzten Treffen besprochen haben, werden wir heute trainieren, vielleicht sterben dann nicht alle Neuen gleich bei ihrem ersten Einsatz", sagt er ohne einen Funken Spott in der Stimme. Und ich bin mir sicher, dass seine Worte mir gelten, nicht nur, weil er mich dabei anschaut. Ein kleines Lächeln huscht über seine Lippen. Ich lächle zurück, denn ich weiß, dass er es nicht böse meint. Wahrscheinlich kann er gar nicht anders als so zu reden. Am Anfang dachte ich, dass er einfach nur unglaublich unfähig ist, anderen etwas beizubringen, doch ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass das einfach nur seine Art war. Er zeigt mir anderweitig, dass er zufrieden mit meinen Fortschritten ist. Indem er knapp lächelt, wenn ich etwas richtig mache. Oder ein knappes nicken, wobei er mich nichtmal ansieht. Oder daran, dass er meinen Namen anders ausspricht, wenn ich etwas gut gemacht habe. Am Anfang war das ziemlich frustrierend gewesen, doch mittlerweile erkenne ich die Kleinigkeiten ganz gut. 

Ich sinke tiefer in den Stuhl, als Eleonora zu mir herüberblickt. Keine Ahnung warum, aber ich kann ihren Blick nicht standhalten. Obwohl Kian viel furchteinflößender wirkt als sie. Eigentlich sieht sie eher zerbrechlich aus. Verärgert über mich selbst , kann ich erst wieder aufblicken, als ich spüre, dass ihr Blick nicht mehr auf mir ruht. Ich straffe die Schultern und hebe das Kinn ein wenig, was sinnlos ist, mir aber ein Gefühl von Selbstsicherheit gibt.

Eleonoras Rede dauert nur wenige Minuten, dann tritt Ethan nach vorne. Wie Kian ist er eigentlich Soldat, wenn auch in einem niedrigeren Rang, aber nach seinen Erzählungen mindestens genauso kampferfahren wie Kian. Trotzdem wundert es mich, dass er das Training leitet und nicht der Anführer ist, wäre das nicht eigentlich seine Aufgabe? Oder ist ihm diese Aufgabe zu untergeordnet? Aber ich beschwere mich nicht, im Gegenteil. Ich bin froh, dass Ethan das machen wird, denn ich mag ihn deutlich lieber als Kian, auch wenn ich bisher nicht viel mit ihm zu tun hatte. Aber das würde sich wahrscheinlich auch nicht ändern, wenn ich ihn besser kennen würde.

Er ist mindestens einen Kopf kleiner als Kian, hat dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und warme, braune Augen. Sein Gesicht ist rundlich, er hat wenig Kontur, aber dafür wirkt er um einiges freundlicher als die meisten anderen Soldaten. Er ist aber auch einfach freundlich, seine Witze gehen vielleicht manchmal etwas zu weit, doch ich bin mir sicher, dass das nicht böse gemeint ist. Man merkt ihm einfach an, dass er den Großteil seines Lebens mit Jungen und Männern verbracht hat, die alle gleich aufgewachsen sind. Mit denselben Sprüchen, Witzen und Umgangsweisen. Kian ist da anders, ich weiß nicht warum, immerhin sollten sie ja gleich aufgewachsen sein. Doch er ist definitiv anders.

Ethan ist überraschenderweise ziemlich geduldig, auch wenn ich mich mehr als schlecht anstelle. Mein Gesicht brennt vor Scham, als ich die Waffe mit der Übungsmunition abfeuere und die Kugel mindestens einen halben Meter von ihrem Ziel trifft. Fassungslos starre ich an die Wand. Wie kann das sein? Ich mache es doch genauso, wie es mir gezeigt wurde. Vielleicht hätte Kian mir lieber das hier beibringen sollen. Ich beobachte die anderen. Viele von ihnen treffen die Ziele, die meisten von ihnen sind aber auch schon länger dabei als ich es bin. Nur ein paar wenige verfehlen die Ziele. Allerdings niemand von ihnen so weit wie ich es getan habe.

Ich frage mich, ob ich sie jemals erreichen werde. Oder ob ich einfach immer schlechter sein werde als sie, egal wie sehr ich mich verbessere. Seufzend lasse ich die Waffe fallen und sehe resigniert zu, wie Jaron genau in die Mitte der Zielscheibe trifft. Wie soll ich bei dieser Mission helfen, wenn ich nicht einmal meinen Gegner treffen kann? Ich bin für diese Mission völlig nutzlos, am besten ich gehe gar nicht erst mit, mehr als ein Köder wäre ich sowieso nicht. Vielleicht sind sie sogar froh, wenn sie mich schneller loswerden als erhofft. Wie Kian schon sagte, ich werde die Mission nicht überleben.

„Weniger Selbstmitleid mehr Übung", herrscht mich eine Stimme an. Sofort verkrampfe ich mich. Kian tritt von hinten an mich heran. Ich wirble zu ihm herum und sehe ihn finster an. Wie kann er es wagen mich so dumm anzumachen?

„Woher willst du wissen...", er unterbricht mich und nimmt mir die Waffe aus der Hand. Ich will protestieren, doch sein Blick bringt mich dazu es nicht zu tun. Es würde sowieso nichts bringen.

„Man sieht es dir aus 100 Metern Entfernung an und im übrigen siehst du die Hälfte unseres Trainings genau so aus", übertreibt er maßlos und überprüft die Waffe. Kurz keimt in mir die Hoffnung auf, dass es vielleicht nicht an mir, sondern an der Waffe liegt, doch er zerstreut sie sofort. Er lädt und feuert einen Schuss ab, der, wie von einem Soldaten nicht anders zu erwarten, genau in die Mitte trifft. Gut, ich hoffe nicht darauf, dass ich an seine jahrelange Übung anknüpfen kann, aber dass er das ohne wirkliche Anstrengung schafft, nagt an meinem Selbstvertrauen. Enttäuscht lasse ich die Schultern hängen und beiße mir auf die Lippe. Ich erwarte einen gehässigen Kommentar, aber er überrascht mich. Wieder einmal.

„Komm her, ich helfe dir", meint er sanft und greift nach meinem Arm, zieht mich zu sich. Dass er genauso angespannt wie ich es bin, spüre ich bereits,  als er seinen Arm auf meinen legt. Normalerweise war er eher der Typ, welcher einen solange fertig machte, bis man es hinbekam. Ich fühle seinen Körper in meinem Rücken. Er legt mir die Waffe in die Hand und plaziert meine Finger an den Abzug. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie er leicht in die Hocke geht, damit wir uns auf gleicher Höhe befinden. Ich muss grinsen, da er schon deutlich größer ist als ich muss es bestimmt total bescheuert aussehen, was er da tut. Egal, wenigstens bin ausnahmsweise nicht ich diejenige, die sich lächerlich macht. Er bemerkt mein Grinsen und kneift mir leicht in die Unterlippe. Sein Gesichtsausdruck ist aber ausnahmsweise freundlich. Kurz korrigiert er meine Hand.

„Jetzt drück ab", flüstert er, seine Lippen sind so nahe an meinem Ohr, dass ich seinen Atem spüre. Meine Haut prickelt und ich könnte schwören, dass sich jedes einzelne Härchen an meinem Ohr aufstellt. Erst jetzt bemerke ich die Hand an meiner Hüfte. Und zu meiner eigenen Überraschung will ich sie nicht wegstoßen. Er mag zwar ein Arschloch sein, doch ich kann nicht verhindern, dass mir bei seinen Berührungen nicht warm ums Herz wird, wie ich schon oben auf dem Dach feststellen musste. Was soll das überhaupt? Ich schüttle den Kopf, als würde ich den Gedanken damit loswerden können. Doch dann kommt mir noch ein anderer Gedanke, endlich habe ich Gelegenheit dazu, dass mir jemand meine Frage beantwortet.

,,Wo bist du die letzten Tage gewesen? Ich habe auf dich gewartet", frage ich neugierig und wende den Blick soweit es geht, wobei mein Blick nur auf seinen angespannten Kiefer fällt.

,,Ich hatte Angst, dass du mich zum weinen bringst", flüstert er und bringt mich damit zwar zum lachen, aber weicht meiner Frage weiterhin aus. Seine Nase streift meinen Kiefer kurz, als er seinen Kopf dreht, es reicht bereits um mir eine weitere Gänsehaut zu bescheren.

,,Du weichst meiner Frage aus", erinnere ich ihn. 

,,Hast du mich vermisst?"

,,Nein, natürlich nicht. Aber unser Training", sage ich ein wenig zu schnell. Eigentlich habe ich ihn vermisst. Wobei vermissen ein zu starkes Wort dafür war, ich habe mich lediglich gefragt wo er gewesen war. Und  ob ich ihn in irgendeiner Weise verärgert habe. Auch wenn es gerade nicht danach aussieht. Gut, vielleicht habe ich ihn wirklich vermisst.

,,Gut", meint er knapp.

,,Bist du sauer auf mich?", frage ich leise.

,,Was denkst du denn?", flüstert er mir ins Ohr, kommt mir langsam näher, bis seine Lippen mein Ohr berühren. Seine Berührung löst ein warmes Gefühl in meiner Körpermitte aus. Überrascht mache ich einen Schritt rückwärts, bis ich mit meinem Rücken gegen ihn stoße. Kurz greift er nach meiner Taille, doch lässt seine Hand langsam wieder zu meiner Hüfte wandern. Ich schnappe nach Luft, spüre sein grinsen an meinem Ohr. Während ich mich weiter an ihn lehne schließe ich die Augen. Er lässt seine Hand sanft über meinen Bauch streichen und küsst mich gleichzeitig hinters Ohr. Ohne zu wissen, was ich da tue lege ich meinen Kopf schief, um ihm besseren Zugang zu meinem Hals zu ermöglichen. Er nimmt die Einladung an und lässt seine Lippen über diesen gleiten. Mir läuft ein Schauer über den Körper, aber es ist nicht unangenehm. Was passiert hier gerade?

,,Hast du mich vermisst, Kian?", frage ich, wobei meine Stimme nicht mehr als ein Hauch ist. Seine Hand verkrampft an meinem Bauch, doch dann spüre ich, dass sein Körper meinem näher kommt. Verdammt. Und wie ich ihn vermisst habe. 

,,Wir haben uns nur zwei Tage nicht gesehen."

,,Das stimmt.", sage ich und lehne mich ein wenig nach vorne, um ihm nicht mehr so nahe sein zu müssen, doch er zieht mich augenblicklich zurück und küsst mich flüchtig auf die Schläfe.

,,Ja, habe ich.", flüstert er schließlich und bringt mich damit dümmlich zum lächeln. Glücklicherweise sieht er es nicht. 

,,Auch wenn es nur zwei Tage waren?", frage ich stattdessen ruhig. 

,,Jede Sekunde, Kleine.", seine Stimme ist so neutral, dass ich keine Ahnung habe, ob er das Gesagte ernst meinte oder nicht, doch das Kleine ist sicherlich eine Anspielung auf die Sache im Aufzug. Ich verdrehe die Augen. 

,,Hat dir schonmal jemand gesagt, dass du ziemlich nervig bist?", er lacht leise auf, ich spüre seinen Atem in meinem Nacken dabei.

,,Konzentrier dich", flüstert er, seine Stimme wirkt dunkler als zuvor, doch vielleicht liegt es daran, dass er so leise ist, dass ich ihn kaum verstehe. Jedenfalls muss ich mich verdammt konzentrieren, um überhaupt zu verstehen, was er sagt. Mir schwirren allerdings auch tausend Gedanken durch den Kopf.

,,Ich...", setze ich an, doch spreche nicht zu Ende. Wenn er nicht irgendwann mit diesen Test aufhört werde ich es niemals nur im Ansatz zu etwas bringen. Außerdem nervt es mich, wie leicht er es geschafft hat mich abzulenken. 

,,Schieß endlich", fordert er mich angespannt auf.  Sofort öffne ich die Augen wieder, etwas verwirrt von seinem plötzlichen Stimmungsumschwung. Langsam nicke ich und rücke ein Stück von ihm ab. Seine Hand liegt wieder auf meiner Hüfte. „Komm schon, Linea, ich halte es nicht ewig in dieser Position aus", knurrt er, nichts deutet auf diese seltsame Situation vor wenigen Augenblicken hin, er ist wieder ganz er selbst. Erst jetzt wird mir bewusst, dass die Hand an meiner Hüfte nicht dazu dient mich zu berühren, sondern um sich selbst festzuhalten. Ich bin gefühlt halb so groß wie er es ist, es muss anstrengend sein sich auf meine Höhe begeben zu müssen. Ich nicke leicht und drücke endlich ab.

Mit einer kleinen Staubwolke schlägt die Kugel ein. In das Ziel. Relativ weit außen, aber das reicht mir. Grinsend drehe ich mich um und nehme Kian dadurch seine Stütze. Mit einem dumpfen Schlag fällt er rücklings zu Boden. Er stöhnt leicht auf, doch ich kann nur daran denken, wie unglaublich dämlich er aussieht in diesem Moment. Ich presse mir den Handrücken auf den Mund, um ihn nicht auszulachen. Trotzdem knie ich mich zu ihm hin und beiße mir noch einmal auf die Lippen. Für einen kurzen Moment bleibt er mit geschlossenen Augen liegen. Als ich mich ängstlich zu ihm hinunterbeuge, packt er mein Handgelenk und zieht mich zu sich, seinen Arm um meine Schultern. Ich muss mich mit den Händen abstützen, um nicht auf ihn zu fallen. Überrascht keuche ich auf und hätte um ein Haar geschrien, kann es aber gerade noch verhindern. Er lacht leise. Lächelnd schaue ich ihn an, obwohl er die Augen noch geschlossen hält. Für einen Moment ertappe ich mich dabei, wie ich sein Gesicht eingehend studiere, doch schnell wende ich den Blick ab und befreie mich aus seinem Griff, richte mich auf. Endlich öffnet er die Augen. Sie finden meine und für einen Moment schauen wir uns nur stumm an, bis ich es nicht mehr aushalte und das Schweigen breche.

„Es tut mir so leid", sage ich und kann mir ein kleines Lachen nicht verkneifen. Zum Glück scheint er sich nicht wehgetan zu haben, denn er lächelt nur und richtet sich mit Hilfe meiner Hand auf.

„Ich wusste nicht, dass du es so eilig hast, mich zu töten", schnaubt er und sieht mich mit seinen goldblauen Augen an. Ich lächle zaghaft.

„Aber du scheinst es nicht mehr zu wollen", frage ich. Erstaunt sieht er mich an.

„Wie kommst du darauf?", fragt er.

„Du hast mir geholfen, wenn ich es nicht könnte, wäre ich sicherlich bei der erstbesten Gelegenheit tot". Er scheint zu überlegen, dann schiebt er eine Haarsträhne hinter mein Ohr und lässt auch seine Hand dort liegen, was meine Haut erneut prickeln lässt. Dann beugt er sich vor. Mein Gehirn muss ein Idiot sein, denn kurz denke ich, er will mich küssen, doch dann öffnet er die Lippen. Natürlich will er das nicht tun, nur weil wir uns mal einen Moment lang nicht streiten.

„Ich bin, wie du bereits wissen solltest, jederzeit bereit, dir Nachhilfe zu geben, egal in welcher Lektion", flüstert er, lässt seine Fingerspitzen kurz zu meinem Hals gleiten, lehnt sich zurück, zwinkert mir zu und steht dann endgültig auf. Und er lässt mich einfach so stehen. Mein Gesicht muss inzwischen tiefrot sein. Ich schaue mich kurz um, aber die anderen sind so in die Übung vertieft, dass sie unseren Zwischenfall gar nicht mitbekommen haben. Das hoffe ich jedenfalls.


Die nächsten Schüsse werden immer besser, ich treffe nun immer öfters auch ohne Unterstützung das Ziel. Kian bleibt im Hintergrund, aber Ethan läuft hin und wieder an mir vorbei, einmal lobt er mich sogar dafür, wie sehr ich mich verbessert habe. Es ist ein wirklich gutes Gefühl zu wissen, dass man nicht mehr ganz so wehrlos ist, jedenfalls wenn der Gegner ruhig stehen bleibt. Dennoch frage ich mich, wie ich mich einfach so melden konnte. Mir hätte klar sein sollen, dass ich das nicht einfach so kann. Ich treffe wahrlich nicht immer die klügsten Entscheidungen.

„Das Training ist für heute beendet, diejenigen, die zur Mission mitgehen werden ab jetzt jeden Abend zusammen trainieren. Natürlich solltet ihr deshalb dafür sorgen möglichst jeden Abend kommen zu können. Bei der letzten Mission gab es zu viele Opfer, deshalb müssen wir ein intensiveres Training abhalten, damit jeder die bestmögliche Verteidigungschance erhält", meint Ethan und lässt seinen Blick zu denjenigen gleiten, die bei der nächsten Mission dabei sein werden. Jaron gesellt sich zu mir und lächelt mich sanft an. Ich erwidere sein Lächeln und er drückt mir für einen kurzen Moment seine Lippen auf die Schläfen.

„Natürlich wird aber weiterhin jeder trainiert werden. Ich werde das Training der anderen leiten, hier unten. Clark wird das Training der Missionsteilnehmer leiten, oben in der Bibliothek", spricht Ethan weiter. Zustimmendes Raunen geht durch die Menge.

Der Gedanken daran, dass Kian und ich in Zukunft nicht mehr alleine trainieren werden macht mich aus irgendeinem Grund missmutig. Klar, seine Launen sind anstrengend. In einem Moment schaut er mich an, als würde er mich am liebsten selbst umbringen, im anderen Moment benimmt er sich wie ein übermutiges Kind. Wobei ich diese Seite an ihm überraschend gut finde. Viel besser als die andere. Wie eine Bestätigung tritt Kian vor und ergreift das Wort.

„Ich erwarte euch jeden Abend hier, egal wie lange ihr arbeiten müsst. Ihr könnt auch später kommen, mir egal. Hauptsache ihr kommt. Ich dulde keine Ausreden", meint er kalt und schaut uns sechs kurz an. Als sein Blick meinen trifft wird seine Miene finsterer. „Ich möchte aber nicht, dass ihr eure Schoßhündchen mitbringt", mit dem Kinn deutet er auf Jaron, wobei das nicht nötig gewesen wäre, ich hatte das auch so schon verstanden. Also hält er mich auch noch für dämlich, was ehrlicherweise auch keine neue Erkenntnis ist. Dennoch bin ich enttäuscht, wir hatten uns die letzten Tage gut verstanden und ich hatte fast angenommen, dass wir Freunde werden konnten. Aber scheinbar war dem nicht so. 

Wut ersetzt das viel zu angenehme Gefühl, welches er bis vor wenigen Augenblicken noch in mir ausgelöst hat. Wie kann er es wagen Jaron als Schoßhündchen zu bezeichnen? Ich balle meine Hände zu Fäusten und halte seinem Blick stand. Und nur um mich noch wütender zu machen, fährt er fort: „Habt ihr mich verstanden?", fragt er knurrend und sieht mich dabei weiterhin an. Ich frage mich, wie es sein kann, dass sich seine Laune so schnell ändert. Mit dem Kian von den letzten Tagen hätte ich wirklich gerne länger Zeit verbracht. Mit diesem hier nicht eine Sekunde freiwillig.

„Ja, haben wir", antwortet Jaron ruhig.

„Sie kann sicher für sich selbst sprechen", Kians Stimme ist bedrohlich ruhig geworden, kurz huscht sein Blick zu Jaron, welcher tatsächlich komplett gefasst wirkt, auch wenn er gerade vor allen Rebellen fertig gemacht wird. Doch dann sieht er mich wieder an. Ich verkrampfe mich sichtlich und sehe ihn wütend an.

„Ich habe es verstanden", fauche ich. Ich kann einfach nicht ruhig bleiben, er provoziert mich absichtlich, da bin ich mir sicher. Warum er das tut, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht einfach nur, weil er es kann. Vielleicht will er mich auch irgendwie loswerden, doch wenn das wirklich sein Ziel ist, dann hat er Pech gehabt. Ich werde nicht freiwillig gehen. Dennoch hat er damit leider offensichtlich trotzdem Erfolg. Ich bin provoziert. Er verzieht die Mundwinkel ein Stück nach oben.

„Gut, ich bin gespannt ob es sich lohnt oder ob ich nur meine Zeit mit dir verschwende", meint er kalt. Ich zucke verletzt zusammen. Seine Worte treffen mich, auch wenn ich vorhin so ziemlich dasselbe gedacht habe. Doch aus irgendeinem Grund ist es mir wichtig, was er über mich denkt. Immerhin ist er auch unser Anführer. Natürlich ist es mir wichtig. Und er hatte sich die Zeit genommen um mich noch vor den anderen zu trainieren.

„Mach mal halblang, Clark", brummt einer der jüngeren Rebellen. Kian verengt seine Augen. Abschätzig mustert er ihn, als würde er ihn heute zum ersten Mal sehen. Wobei er mir ehrlicherweise auch noch nie aufgefallen war.

„Hast du irgendwelche Einwände, Peter?", fragt er ungeduldig. Also kennt er ihn doch. Peter zögert kurz, dann überlegt er und hält Kians Blick stand.

„Ich finde du bist zu ungeduldig mit ihr". Kurz trifft mein Blick Peter's. Ich habe ihn bis her noch nie wahrgenommen, dennoch ergreift er für mich Partei. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen, doch es verschwindet sofort, als er bemerkt, dass Kian auf ihn zugetreten war. Kian ist ein paar wenige Zentimeter kleiner als Peter, dennoch zuckt dieser erschrocken zusammen.

„Das denke ich nicht. Oder würdest du ihr dein eigenes Leben anvertrauen?", fragt Kian. Peter schüttelt zaghaft den Kopf.

„Nein, aber das erwartet doch auch niemand, oder?", fragt er kleinlaut.

„Im Einsatz muss jeder jedem sein Leben anvertrauen. Wir können uns nur gegenseitig schützen. Wir kommen da nur lebend raus, wenn wir uns gegenseitig helfen. Das wüsstest du, wenn du nicht zu feige wärst, dich für Einsätze zu melden. Und ich persönlich habe vor da lebend raus zu kommen, deshalb will ich sie nicht dabei haben, wenn ich ihr nicht vertrauen kann", sagt Kian düster und wendet sich ohne eine Antwort abzuwarten von ihm ab. Fassungslos starre ich ihn an. Sein Blick trifft meinen und ich sehe eine Entschuldigung in seinen Augen. Als hätte er diese Worte gerade nicht aus reiner Boshaftigkeit gesagt. Als hätte er mich nicht vor allen blamiert. Aber es war Absicht gewesen, er kann sich nicht mehr herausreden. Er wollte mich verletzen, und das ist ihm gelungen. So gut, dass ich freiwillig nicht mehr mitkommen wollte. 

„Ich bin kein Feigling", brüllt Peter wütend und stürzt nach vorne. Er kann wohl nur einen Treffer erzielen, weil Kian ganz offensichtlich nicht damit gerechnet hat angegriffen zu werden. Man sieht ihm die Überraschung sogar für einen kurzen Moment an, bevor er sich wieder fängt. Sein Treffer ist auch nicht besonders effektiv, dennoch schreien einige der Rebellen auf, als seine Faust Kians Kiefer erwischt. Wut liegt in seinen Augen und seine Hand legt sich auf den verletzten Kiefer. Langsam dreht er sich zu Peter um, der gerade erst zu realisieren scheint, in welcher misslichen Lage er sich befindet. Aus Kians Mund läuft eine feine Spur Blut, vermutlich hat er sich selbst auf die Zunge gebissen. Mein Magen verkrampft sich, natürlich möchte ich nicht, dass er sich ernsthaft verletzt hat. Jedoch ist sein Blick selbst jetzt nicht wirklich lesbar. Ich habe keine Ahnung, ob er Schmerzen hat oder nicht. Ich merke, wie er die Hand hebt und bevor ich nachdenken kann, bin ich schon losgestürmt und dränge mich zwischen die beiden.

Erst als seine Faust so hart an meine Schläfe knallt, dass mir die Luft wegbleibt, merkt er, dass er sein Ziel verfehlt hat. Dass sein Ziel überhaupt nicht mehr in Reichweite ist. Mein Kopf wird so heftig zur Seite gerissen, dass mir schwindlig wird. Entsetzen liegt in unseren Blicken. Ich sehe, wie sich Münder öffnen, aber ich höre sie nicht. Ich sehe, wie sogar Kian aufschreit, aber auch ihn höre ich nicht. Ein schriller Ton dringt an mein Ohr, aber sicher kein Schrei. Ich spüre, wie sich seine Arme um mich schließen, mich vor dem sicheren Fall schützen. Was mir in diesem Moment absurd vorkommt. Ein Sturz würde mir sicher weniger wehtun als er es getan hat. Er zieht mich an sich und flüstert mir etwas ins Ohr, aber ich kann ihn nicht verstehen. Ich gerate in Panik, aber ich habe nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Mein Blick verfinstert sich, Dunkelheit umhüllt mich.

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