Kapitel 24
-Linea, 27. September, 53 nach Gründung-
Es ist ein komisches Gefühl schon wieder hier zu sein, vor allem , wenn ich ganz genau weiß, dass niemand hier sein wird, abgesehen von Kian und Josh. Irgendwie verunsichert mich der Gedanke daran. Was hatte ich mir dabei gedacht? Vor der Tür bleibe ich stehen und hebe die Hand, lasse sie aber gleich wieder sinken, da ich nicht weiß, ob ich das wirklich tun sollte. Doch dann entscheide ich mich schließlich dafür, immerhin wäre es seltsam von mir einfach nicht aufzutauchen. Und das wäre vermutlich unangenehmer als dieses Training einfach zu überstehen.
Kaum beende ich mein Klopfen wird die Tür auch schon geöffnet, doch anstatt Josh steht Kian hinter der anderen Seite der Türe. Sein Gesichtsausdruck könnte wohl kaum neutraler sein, seine Hände hat er bereits wieder in seinen Hosentaschen versteckt. Statt seiner sonstigen Kleidung trägt er eine lockere Trainingshose und ein körperbetontes Shirt. Seine Arme liegen frei und kurz starre ich ihn einfach nur an. Er hatte immer so schlank gewirkt und das war er auch aber eigentlich auch nicht. Beschämt reiße ich den Blick von seinen durchtrainierten Armen los und sehe ihm stattdessen in die Augen. Er steht noch immer da und hält mir die Tür auf, doch ich bin unfähig mich zu bewegen. Ich traue ihm nicht über den Weg und offensichtlich ist noch nichtmal Josh zuhause.
,,Willst du reinkommen oder ziehst du es vor draußen zu bleiben?"
,,Ich...ich, ja ich komme herein", sage ich, bewege mich aber weiterhin keinen Millimeter. Er schüttelt den Kopf und tritt ein paar Schritte zurück, lässt dabei die Tür los, woraufhin sie in Schloß fällt. Ich zucke zusammen und sehe mich schnell um. Es ist noch nicht so spät, bei vielen ist, wie bei mir, gerade die Schicht zu Ende und ich stehe dumm vor irgendeiner Haustüre herum. Panisch klopfe ich an.
,,Hast du es dir anders überlegt?", fragt Kian spöttisch, als ich mich schnell an ihm vorbeidränge und er endlich die Türe schließen kann. Böse sehe ich ihn an.
,,Du bist echt nicht ganz normal", fluche ich. ,,Was wäre gewesen, wenn mich jemand gesehen hätte?"
,,Wäre blöd gewesen", meint er desinteressiert.
,,Das...wirklich ich fass es nicht, dass ich hier bin", sage ich seufzend, ziehe mir aber meine Jacke aus. Er greift danach, noch bevor ich mir überlegen kann, wo ich sie hinlegen sollte. Kommentarlos gehe ich zur Treppe, er folgt mir mit etwas Abstand.
,,Hattest du in irgendeiner Weise Sportunterricht gehabt?"
Ich lege den Kopf schief und grinse dabei. ,,Was denkst du denn? Gleich nach dem Waffentraining natürlich und vor dem Selbstverteidigungstraining."
,,Es war eine einfache Frage, Linea"
,,Und ich habe dir eine dementsprechende Antwort gegeben, Kian", sage ich barsch.
,,Gut, dann wäre das ja geklärt", meint er kühl. Ich sehe mich um, bis jetzt ist mir nicht aufgefallen, dass der Raum ganz anders aussieht als zuvor. Tatsächlich sind alle Stühle an der Seite gestapelt, er hat sogar etwas zu essen und zu trinken bereitgestellt. Ich versuche mir meine Überraschung nicht ansehen zu lassen, doch ich bin jedenfalls um einiges beruhigter. Würde er mich umbringen wollen würde er sich wohl kaum die Mühe machen mir vorher etwas zu essen anzubieten. Sacht lächle ich, ohne ihn dabei anzusehen und drehe ihm den Rücken zu.
,,Also, was wirst du mir heute beibringen?", frage ich neugierig.
,,Entspannung"
,,Was?", frage ich, als würde ich erwarten, dass er einen schlechten Scherz macht, doch er ist todernst. ,,Entspannung? Kian, ist dir eigentlich bewusst, dass ich keine Witze gemacht habe?"
,,Das mache ich auch nicht"
,,Was soll das dann?", frage ich aufgebracht, wobei ich nur einen Schritt davon entfernt bin zu gehen, doch ich will mir erst anhören, was er mir als Erklärung zu sagen hat.
,,Weißt du eigentlich wie unentspannt du bist, seit du hier bist?", ich lache leise auf, weil es einfach vollkommen absurd ist, was er da von sich gibt.
,,Und warum genau meinst du das wissen zu können?"
,,Du musst bisschen lockerer werden, wenn du hier überleben willst"
,,Das sagst gerade du? ich kenne niemanden, der umentspannter ist als du", sage ich belustigt.
,,Hm, erstens bin ich sicherlich der entspannteste Mensch, dem du jemals begegnen wirst und zweitens habe ich keine Zeit dafür"
,,Merkst du eigentlich wie widersprüchlich du bist?"
,,Ja und jetzt setz dich", meint er und wirft mir ein Kissen zu, welches auf einem der Stühle gelegen hatte. Ich schüttle den Kopf und bleibe stehen.
,,Sag mir erst, was du vorhast, ich kann meine Zeit nicht so verschwenden"
,,Ich sagte doch, dass du unentspannt bist", meint er seufzend und setzt sich selbst auf ein anderes Kissen, verschränkt die Beine miteinander und schließt die Augen.
,,Und was genau soll diese Situation daran ändern? Vorhin dachte ich noch, dass du mich vielleicht umbringen willst aber jetzt habe ich eher das Gefühl, dass du verrückt geworden bist"
Er öffnet ein Auge um mich anzusehen, sein Gesichtsausdruck bleibt jedoch vollkommen ruhig. ,,Ich hätte etliche Gelegenheiten gehabt dich umzubringen, warum sollte ich es ausgerechnet hier tun?"
,,Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?"
,,Linea, ich hatte dir gesagt, dass ich nicht viel Zeit dazu habe mich zu entspannen, entweder leistest du mir jetzt Gesellschaft oder ich bringe dir nichts bei und du wirst unsere Mission gefährden", meint er mit wieder geschlossenen Augen. Tatsächlich sieht er ziemlich friedlich aus.
,,Und wie soll das ganze hier mir helfen eine Mission zu bestehen?"
,,Wenn du nicht mehr an dich glaubst und weiterhin vollkommen abwesend bist, wenn dir irgendjemand in diesem Raum etwas sagt dann wirst du es nicht schaffen. Und deine Unsicherheit kannst du nicht alleine durch Kraft, Mut, Schnelligkeit oder sonst irgendetwas loswerden. Du musst erstmal an deinem Selbstbewusstsein arbeiten und das wird vielleicht funktionieren, wenn du dich vollkommen auf dich selbst konzentrierst"
,,Du...bist wirklich immer wieder für eine Überraschung gut"
Er lächelt leicht und streckt mir eine Hand zu. ,,Komm schon her, wenn es nicht funktioniert dann ist es eben so. Aber Eleonora ist ziemlich überzeugt davon"
,,Und was ist mit dir?", frage ich und nehme seine Hand, lasse mich von ihm zu Boden ziehen. Auch wenn ich das auch alleine geschafft hätte. Ich schiebe mein Kissen vor ihn, sodass wir uns gerade so nicht berühren und setze mich genauso wie er hin. Nur die Augen lasse ich geöffnet.
,,Wie gesagt bin ich der entspannteste Mensch, den ich kenne"
,,Du sagtest der entspannteste Mensch, den ich kenne.", er öffnet erneut die Augen und sieht mich an, nickt langsam.
,,Kennst du mehr Menschen als ich?"
,,Meine Familie...", setze ich an, doch er schüttelt den Kopf.
,,Vergiss deine Familie", sagt er und klingt dabei härter als wahrscheinlich beabsichtigt. ,,Zu trauern bringt dir jetzt nichts. Wenn du an dir arbeitest und wir hier durchkommen dann gibt es keinen Grund mehr zu trauern"
,,Ich..ich kann nicht, ich vermisse sie", flüstere ich.
,,Du wirst darüber hinwegkommen", ich sehe ihn wütend an und balle die Fäuste dabei. Wie kann er so etwas behaupten, immerhin hat er nie eine Familie gehabt. Er wurde gleich nach der Geburt in Zone 1 gebracht und wurde von vielen unterschiedlichen Kinderfrauen aufgezogen. So etwas wie Familie hat er nie gekannt. Abgesehen von Isabella vielleicht doch diese ist sicherlich kein Mutterersatz gewesen.
,,Du kannst das nicht wissen"
,,Vielleicht nicht"
,,Dann lass es so etwas zu sagen", fauche ich und will mich erheben, doch ich entscheide mich dazu es doch nicht zu tun. Er sieht mich prüfend an.
,,Tut mir leid aber wenn du weiterkommen willst dann solltest du auf mich hören."
,,Das werde ich sicherlich nicht tun, ich werde niemals darüber hinwegkommen. Ich kann trauern und gleichzeitig vorankommen"
,,Glaubst du sie denken überhaupt noch an dich? Vielleicht jetzt noch aber in ein paar Wochen nicht mehr. Und du verschwendest deine Zeit lieber damit zu trauern statt daran zu arbeiten sie wiederzusehen?", ich ziehe scharf die Luft ein und erhebe mich, kämpfe gegen die Tränen an, welche sich unaufhaltsam in meinen Augen ansammeln. Es tut weh so etwas zu hören, vor allem wenn ich weiß, dass er Recht hat. Natürlich ist es immer hart gewesen eine Schwester oder einen Bruder zu verlieren. Auch noch nach einigen Jahren. Doch ich weiß selbst, dass man es irgendwann aufgibt darüber nachzudenken. Immerhin wird bald der nächste Abschied bevorstehen. Doch aus irgendeinem Grund habe ich nie daran gedacht, wie es für die Person ist, die gehen muss. Ich denke nicht, dass ich so besonders gewesen bin, dass sie über mich mehr nachdenken, als über andere. Dennoch tut die Erkenntnis weh.
,,Schon gut", flüstert er an meiner Seite, aber unterlässt es mich anzufassen oder anderweitig trösten zu wollen. Doch ich sehne mich nach einer tröstenden Umarmung, genauso wie er sie mir gestern noch gegeben hatte. Das ist wirklich genau richtig gewesen. Statt darauf zu warten, dass er den nächsten Schritt macht trete ich auf ihn zu und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust, klammere mich an seinem Shirt fest. Ich spüre seine Anspannung, doch als er mich endlich umarmt löst sie sich genauso wie meine eigene auf. Sein Herzschlag ist so regelmäßig, dass ich alleine deswegen auf der Stelle einschlafen könnte. Seine Hände, welche er um mich gelegt hat vermitteln mir ein ungewohntes Gefühl von Sicherheit, auch wenn es der Mensch an sich nicht tun kann. Irgendwie verwirrend, gleichzeitig aber auch nicht.
Entschlossen löse ich mich von ihm und gehe direkt auf mein Kissen zu, auch wenn er mir nicht gleich folgt. Genauso wie vorhin setze ich mich und schließe diesmal sogar meine Augen. ,,Was soll ich jetzt tun?", frage ich leise. Ich spüre an der leichten Vibration im Boden, dass er wieder auf mich zukommt, um sich kurz danach auf sein eigenes Kissen zu setzen.
,,Werd dir über jeden Teil deines Körpers bewusst. Beweg all deine Gliedmaßen und...denk einfach nichts, es werden dir schon irgendwelche Gedanken dazu kommen", meint er.
,,Wow, machst du das hier zum ersten Mal?", frage ich spöttisch.
,,Ja, Linea. Jedenfalls erkläre ich es zum ersten Mal", meine Augen zucken, ich will sie wieder öffnen, doch ich unterlasse es.
,,Oh.", flüstere ich und lächle schließlich. ,,Das habe ich nicht gewusst"
,,Wie auch?"
,,Keine Ahnung. Dankeschön"
,,Immer doch"
,,Ich kann dich trotzdem nicht leiden", sage ich.
,,Das könnte mich nicht weniger interessieren"
,,Gut", sage ich und mache dann wirklich genau das, was er mir aufgetragen hatte. Am Anfang ist es irgendwie komisch, doch irgendwie ist es tatsächlich genau das, was es sein sollte: entspannend. Langsam bewege ich jeden einzelnen Finger, strecke meine Zehen und lasse meinen Kopf kreisen. ich atme langsam und bewusst und als ich denke, dass ich wirklich alles gemacht habe, was ich hätte machen können öffne ich die Augen wieder. Ich muss ein paar mal blinzeln, bevor ich überhaupt wieder scharf sehen kann, doch als ich meine Sehkraft erfolgreich wiederhergestellt habe sehe ich direkt in Kian's Gesicht. Seine Augen fixieren mich und er lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Übung nicht mitgemacht hatte. Irgendwie ist es mir unangenehm.
,,Alles gut?", fragt er aus dem Nichts, nachdem wir uns gegenseitig mehrere Minuten lang angestarrt hatten.
,,Ja, natürlich", sage ich schnell und wende den Blick ab.
,,Lass uns kämpfen"
,,Was?"
,,Deswegen bist du doch hier?"
,,Kian, du machst mich noch fertig", seufze ich und stehe etwas ungelenk auf, sehe auf ihn herunter. ,,Ich dachte ich bin zur Entspannung hier"
Er lacht leise und steht plötzlich hinter mir. ,,Jetzt bist du es ja, dann können wir weitermachen", meint er ruhig und verschränkt die Arme vor der Brust. ,,Ich dachte, dass du erstmal Selbstverteidigung lernen solltest, das sollte in deinem Fall am dringendsten sein", meint er ohne die Miene zu verziehen, auch wenn ich mir sicher bin, dass er sich über mich lustig macht.
,,Damit ich mich gegen Menschen wie dich zu Wehr setzen kann?"
,,Exakt", meint er belustigt und greift so schnell nach meinem Handgelenk, dass ich es nichtmal kommen sehe. Unzufrieden schnalzt er mit der Zunge und schüttelt den Kopf. ,,Erbärmlich"
Ich versuche meine Hand zurück zu ziehen, doch sein Griff lockert sich nicht, nichtmal ein kleines bisschen. Verzweifelt ziehe ich immer wieder, was mir nichts bringt, außer ein schmerzendes Handgelenk. Er dreht es, bis ich vor Schmerz aufschreie, dann dreht er es wieder zu dessen ursprünglichen Position zurück.
,,Jetzt befrei dich", fordert er mich auf. Verzweifelt sehe ich ihn an, dann auf mein Handgelenk. Doch ich unternehme keinen weiteren Befreiungsversuch.
,,Ich kann nicht", sage ich kraftlos.
,,Du kannst es", versichert er mir, sein Blick ist voller Zuversicht. ,,Dreh dein Handgelenk und dann zieh"
Ich sehe ihn wenig überzeugt an, doch dann versuche ich es. Wie erwartet bringt es nichts. Ich presse die Lippen zusammen.
,,Geb dir mal ein bisschen Mühe", meint er aber lässt mich los. Erleichtert reibe ich mir die schmerzende Stelle und funkle ihn wütend an.
,,Wie soll ich das schaffen, du hast viel mehr Kraft als ich", sage ich wütend und trete einen Schritt zurück. ,,Du wolltest mich einfach nur demütigen"
,,Wollte ich nicht", meint er sanfter und geht ebenfalls einen Schritt in meine Richtung, sodass unser Abstand wieder derselbe wie zuvor ist. ,,Halt mich am Handgelenk fest, ich zeig dir was ich meine"
Auch wenn alles in mir sich widerstrebt das zu tun umschließe ich sein Handgelenk schließlich und drücke ein wenig zu, wobei er keine Miene verzieht. Deutlich schneller als ich zuvor dreht er sein eigenes Handgelenk und zieht ruckartig daran, sodass er schnell wieder frei ist. Es macht mich nicht wirklich zuversichtlicher, denn er hätte sich wohl auch ohne diesen Trick befreien können, doch als er mir seine Hand zustreckt halte ich ihm mein Handgelenk entgegen. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, als er genauso unsanft wie zuvor zupackt. Mein erster Versuch misslingt wie zuvor, doch beim zweiten bin ich schneller. Schneller und erfolgreich. Ungläubig starre ich auf mein gerötetes Handgelenk, welches zwar schmerzt aber befreit ist. Ich grinse zufrieden und auch ein wenig stolz, doch er wirkt nicht genauso euphorisch wie ich.
,,Gut", meint er stattdessen. Ich schüttle ungläubig den Kopf.
,,Gut? Das ist unglaublich", sage ich optimistisch.
,,Übertreib nicht gleich. Es gibt noch viel zu lernen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Angreifer gerade dein Handgelenk ergreift?"
Ernüchtert sehe ich ihn an, meine Freude über diesen Sieg ist erloschen. Er hatte wirklich keine Ahnung wie man jemanden motiviert. Aber was hatte ich auch erwartet? Für ihn war es auch nichts, mir bedeutete auch dieser, zugegebenermaßen winzige, Erfolg viel. ,,Dann lass uns weitermachen", sage ich abgekühlt.
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