Kapitel 23
-Kian, 27. September 53 nach Gründung-
Ich weiß nicht genau, warum ich mich nicht weiter bewege, es ist als würden mir meine Beine nicht mehr gehorchen. Auch wenn das nichts Neues ist, seit mein Bein eher nur noch zur Zierde da zu sein scheint. Gerade als ich überlegen zu gehen tritt sie aus der Türe hinaus und dreht sich noch einmal kurz um, als würde sie erst jetzt bemerken, dass Josh nicht da steht, wie er es sonst meistens tut.
,,Kian?", fragt sie ungläubig. Ich verdrehe innerlich die Augen, ich wünschte mir, sie würde mich so nennen, wie die anderen das auch taten. Natürlich, Isabella und auch Eleonora, sowie Ethan kannten meinen wahren Namen, doch ich konnte besser zwischen diesen beiden Personen wechseln, wenn ich in jeder Welt einen anderen Namen behielt. So wie sie es tat fühlte es sich an, als würden meine beiden Leben miteinander vermischt werden, was mir nicht gefiel. Andererseits mochte ich es, dass sie sich aus irgendeinem Grund weigerte mich, wenn wir alleine waren, bei meinem falschen Namen zu nennen.
,,Ich hatte doch noch Zeit", sage ich möglichst neutral. Sie lächelt leicht und tritt schließlich einen Schritt auf mich zu.
,,Und?"
,,Es ist für dich gefährlich alleine zu gehen"
,,Ich hätte mit Eleonora gehen können", meint sie, das Lächeln umspielt noch immer ihre Lippen. Auf ihrer Wange verblasste langsam der rote Fleck, welcher sich gebildet hatte, da sie die ganze Zeit über ihre Hand darauf abgestützt hatte. Ihr Haar ist notdürftig zu einem Zopf zusammengebunden, die Hände stecken in den Taschen ihrer Jacke.
,,Dann hätte ich eben euch beide begleitet", erwidere ich genervt, immerhin will ich nur nett zu ihr sein, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich das nicht tun soll. Ich hatte meine Worte immerhin ernst gemeint, ich konnte nicht mit ihr arbeiten und wenn ich ehrlich sein sollte, wollte ich das auch nicht. Sie nervte mich und was noch viel schlimmer war, sie lenkte mich ab. Beinahe hasste ich sie dafür. Ich hatte Ablenkung immer für das Schlimmste empfunden, was einem ordnungsliebendem Menschen wie mir passieren konnte. Und ich hasste mich selbst dafür, dass ich ihre Ablenkung auch noch zuließ. Ich war wirklich am Ende angelangt.
,,Aber dann wären wir nicht alleine gewesen, oder?", fragt sie spöttisch und öffnet ihr Haar, um es erneut zu binden, wobei ihr einige Haarsträhnen ihres langen Haares aus dem Zopf rutschen. Reflexartig lächle ich, doch gleich darauf ziehe ich die Mundwinkel wieder zusammen zu einer geraden Linie.
,,Stimmt", sage ich an mir selbst zweifelnd und wende mich von ihr ab. Jetzt einfach zu gehen kommt mir als weniger peinlich vor, als weiter hier zu stehen und mich mit ihr zu unterhalten.
,,Wohin gehst du?", fragt sie überrascht und ist schneller wieder an meiner Seite, als mir recht ist.
,,Zur Arbeit"
,,Ich dachte, dass du mich zu meiner begleiten wolltest", meint sie provokant. Ich zucke mit den Schultern.
,,Ich wollte es dir nur anbieten, wenn du alleine zurecht kommst lasse ich dich gerne alleine gehen"
,,Ah, also meinst du, dass ich ohne einen großen, starken Beschützer nicht unverletzt ankomme?", fragt sie und kneift die Augen zusammen. Ich verdrehe die Augen. Eindeutig verschwendet sie meine Zeit und ich ihre.
,,Habe ich das gesagt?"
,,Du hast es aber gedacht", meint sie schnippisch und verschränkt ihre Arme vor der Brust.
,,Woher willst du wissen, was ich denke?", frage ich spöttisch.
,,Du bist leicht zu durchschauen", behauptet sie, auch wenn sie sich dabei unsicher anhört, vermutlich weil sie ganz genau weiß, dass sie gerade das nicht tut.
,,Jaron begleitet dich doch auch nach Hause, da beschwerst du dich auch nicht", sage ich ruhig, auch wenn mich alleine sein Name innerlich zur Weißglut bringt.
,,Das ist was anderes"
,,Was sollte daran anders sein?", frage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. Sie grinst leicht und lehnt sich zu mir, wobei mir erst jetzt auffällt, dass wir unseren Abstand zueinander unabsichtlich stark verringert hatten.
,,Hm, weißt du ich bin verliebt in ihn, das ist etwas, was du nicht verstehen kannst"
,,Verwechsle Liebe nicht mit Abhängigkeit", flüstere ich.
,,Wie kommst du darauf, dass ich abhängig von ihm sein soll?"
,,Sag du es mir, was brauchst du von ihm, dass du behauptest verliebt zu sein?"
Sie sieht mich finster an und wendet sich von mir ab, doch ich halte sie fest, indem ich eine Hand auf ihre Schulter lege. ,,Was verärgert dich daran so?", frage ich, sie dreht sich langsam zu mir um. In ihren Augen lodert Wut.
,,Du, du arrogantes Arschloch. Was denkst du wer du bist, dass du dich in meine Angelegenheiten einmischen kannst? Du bist für mich ein absolutes Niemand und das wirst du auch immer sein, also hör verdammt auf damit. Ich hasse das und ich hasse dich", schreit sie förmlich. Meine Gedanken schwirren wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Langsam nicke ich. Sie sieht mich eine Weile lang aufgebracht an, doch in ihren Augen lodert immer weniger die Wut, sie sieht eher schuldbewusst aus.
,,Kian, ich...", setzt sie an, doch ich unterbreche sie, indem ich den Kopf schüttle. Meine Hände zittern ein wenig, als ich sie hebe und Linea an den Schultern festhebe. Sie zuckt zusammen, doch lässt sich widerwillig umdrehen, sodass sie mit dem Rücken zu mir steht. Langsam löse ich den Zopf, in dem ohnehin nur noch ein kleiner Teil ihres Haares steckt. Konzentriert und eher ungeübt versuche ich jede ihrer Haarsträhnen in einen neuen Zopf zu fassen, was mir erstaunlicherweise auch gelingt.
,,Besser", sage ich Triumphierend. Sie dreht sich zu mir um und schüttelt langsam den Kopf.
,,Du bist wirklich sonderbar"
,,Hm, sonderbar und ein Arschloch? Was noch Linea?", frage ich ohne mir meine Verletztheit anmerken zu lassen.
,,Nur das", meint sie. Ich lache leise und nicke schließlich.
,,Na gut, das gilt übrigens auch für dich, du brauchst nicht zu glauben, dass du in irgendeiner Weise besser bist als ich. Wenn überhaupt, bist du viel schlimmer als ich."
Protestierend hebt sie die Arme und stößt sie mir hart gegen die Brust. ,,Wage es nicht, Arschloch!"
,,Was soll ich nicht wagen?"
,,Mich mit dir auf eine Stufe zu stellen. Jeder von uns weiß, dass ich über dir stehe", sagt sie finster. Bewunderung für sie überkommt mich, sie ist wirklich eine mutige, junge Frau. Die meisten waren mir gegenüber eher vorsichtig, schließlich wussten sie, wie leicht ich sie fertigmachen konnte. Aber Linea scheint das völlig egal zu sein, denn ich weigere mich zu glauben, dass sie einfach zu dumm ist um so weit zu denken.
,,Das bezweifle ich"
,,Ich habe nicht zugelassen, dass ein kleines Kind abgestochen wird", faucht sie und sieht mich voller Hass an. Sie hatte es wirklich geschafft mich zu überraschen. Die Erinnerungen an diesen Tag hatten sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt, an sie konnte ich mich auch irgendwie erinnern, doch ich bin mir bis heute nicht sicher darüber gewesen. Kein Wunder, es waren schließlich schon Jahre vergangen seitdem, sie musste ungefähr 12 gewesen sein zu dem Zeitpunkt. Es hatte mich wochenlang verfolgt, ich hatte kaum schlafen können. Auch jetzt spüre ich wieder sein warmes Blut zwischen meinen Fingern auf den Boden tropfen. Ich kann Lineas Stimme hören, doch sie ist so weit entfernt, dass ich sie nicht verstehe. Erst als ihre Hand mein Gesicht berührt, es unsanft in ihre Richtung schiebt kann ich sie erst wieder bewusst wahrnehmen.
,,Es tut mir leid", flüstert sie. Sie wirkt tatsächlich schuldbewusst, aber sie hatte auch nicht ahnen können, welchen Nerv das bei mir treffen wird. Noch heute verfolgt mich das Ereignis in meinen Träumen. Nicht regelmäßig, aber hin und wieder.
,,Ich habe versucht es zu verhindern", sage ich, aber kann mich in der nächsten Sekunde nicht daran erinnern, dass diese Worte meinen Mund verlassen haben. Es ist, als wäre ich im Moment nicht anwesend. Als wäre ich wieder an diesen verdammten Tag vor vier Jahren zurückversetzt worden. Niemand hatte mir je zuvor die Schuld daran gegeben, dass das passiert war. Es war eine Tragödie gewesen, für die ich nichts konnte. Jedenfalls war das das, was man mir sagte.
Ich spüre, wie sich ihre Arme um mich legen und unbewusst ziehe ich sie näher an mich heran. Ihre Nähe fühlte sich wie zuvor gut an, als würde sie meine Probleme verschwinden lassen können damit. Ich schließe die Augen für ein paar Sekunden.
,,Kian?", fragt sie. Ich lasse sie los und sehe sie an, erst ist ihr Gesicht wie verschwommen, doch dann wird es klarer, als würde ich in die Gegenwart zurück finden.
,,Hm?"
,,Ich habe gesagt, dass ich weiß, dass du das versucht hast. Es tut mir leid"
,,Schon gut. Ich werde jetzt zur Arbeit gehen", sage ich hart und wende mich von ihr ab. Ich laufe los, es ist mir egal, dass sie jetzt wirklich alleine gehen muss. Wut ist in jeder Faser meines Körpers spürbar, ich kann noch nicht einmal sagen, ob auf sie oder auf jemand anderen. Das Letzte, was ich will ist es diese Wut auf sie zu übertragen. Wahrscheinlich bin ich eher wütend, weil ich damals zum ersten Mal gescheitert war. Wirklich gescheitert. Eigentlich interessiert es mich nicht, dass dieses Kind gestorben ist, und noch weniger, dass diese Frau gestorben ist. Aber ich war derjenige gewesen, der etwas hätte tun können. Mein Ausbilder war nicht nah genug gewesen. Ich hatte den Jungen auf dem Arm gehabt, er ist gestorben, weil ich mich nicht genug auf ihn geachtet habe. Weil ich versagt hatte.
,,Bitte bleib stehen", versucht sie mich zum stehen bleiben aufzufordern. Erneut drehe ich mich zu ihr um, sie steht einige Meter entfernt, doch es ist, als würde ich ihren Atem noch immer auf meinen Lippen spüren. Langsam bewegt sie sich auf mich zu und bleibt wieder vor mir stehen. ,,Das ist unfair gewesen von mir", gibt sie zu.
,,Wenn du das sagst", sage ich finster.
,,Ich...ich bin gereizt aber du kannst nichts dafür, es tut mir leid"
,,Warum bist du gereizt?", frage ich überrascht von ihrer Ehrlichkeit, immerhin hatte sie sich davor eher immer versucht herauszureden, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Wobei ich ihr noch nichtmal irgendeinen Teil an Schuld zusprechen würde.
,,Weil...du Recht hattest", sagt sie unglücklich.
,,Das ist ja was ganz neues", sage ich spöttisch und kann beinahe hören, wie sich ihr Hass auf mich verstärkt.
,,Kian, stehst du eigentlich jeden Morgen auf und entscheidest dich ein Arsch zu sein oder ist das einfach so tief in dir verankert, dass du gar nicht anders kannst?"
,,Wahrscheinlich letzteres"
,,Das dachte ich mir bereits"
,,Also, mit was hatte ich Recht?"
,,Ich habe Angst diese Mission zu gefährden", sagt sie traurig.
,,Das hatte ich so nicht gemeint", sage ich schnell. Sicherlich gab es andere, welchen ich das eher zutraue als ihr, immerhin war es ihr wirklich wichtig.
,,Dann hattest du eben ausnahmsweise Recht"
,,Das passiert mir öfter", sage ich spöttisch. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich wieder böse an.
,,Kannst du auch mal ernst bleiben?"
,,Ich bin vollkommen ernst", widerspreche ich ihr.
,,Das sehe ich anders"
,,Wie wäre es, wenn wir zusammen trainieren?", frage ich vorsichtig, da ich wirklich nicht weiß, wie sie auf meinen Vorschlag reagieren würde. Jedoch weiß ich auch nicht wirklich, ob ich darauf überhaupt Lust hatte, noch mehr Zeit mit ihr zu verbringen erscheint mir nicht gerade verlockend.
,,Tun wir das nicht sowieso schon bald?"
,,Schon, aber mehr Training wird wohl kaum schaden, außerdem kann ich dir mehr helfen, wenn du nicht von den anderen abgelenkt wirst"
,,Meinst du das ernst? Ich kann nämlich gut darauf verzichten, dass du mich weiterhin beleidigst"
,,Ich meine es ernst", nein, meine ich nicht. Wie können nur so dämliche Worte meinen Mund verlassen?
,,Dann ja, das wäre wahrscheinlich hilfreich, selbst wenn du derjenige bist.", sagt sie und presst die Lippen zusammen, als hätte sie das lieber nicht gesagt.
,,Wenn ich etwas kann, dann hilfreich sein", sie lacht aber verdreht dabei die Augen.
,,Wir werden sehen", meint sie belustigt.
,,Komm heute Abend nach der Arbeit zu Josh, in Ordnung?"
,,Ja, ich werde da sein", sagt sie ernst und sieht mich prüfend an. Ich nicke und sehe sie unschlüssig an.
,,Ich muss jetzt gehen", sage ich langsam.
,,Wolltest du mich nicht bringen?"
,,Ich dachte du willst das nicht"
,,Will ich auch nicht aber du hast extra gewartet"
,,Dann komm jetzt"
Schweigend laufen wir, bis wir kurz vor dem Kinderhaus ankommen, sie wirkt nervös, sieht sich immer wieder um. Ob sie dabei jedoch Angst hat, dass man uns zusammen hier sieht oder ob sie im allgemeinen Angst davor hat hier draußen zu sein ohne eine Berechtigung dafür zu haben kann ich nicht sagen.
,,Wir sehen uns dann wohl heute Abend", meint sie und sieht mich prüfend an.
,,Ja, werden wir", versichere ich ihr. Sie lächelt beinahe erleichtert, bleibt dann einfach zögernd vor mir stehen. Auch ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, doch sie trifft die Entscheidung und umarmt mich. Überrascht sehe ich sie an, doch bevor ich reagieren kann, hat sie mich bereits losgelassen. Ihre Wangen sind leicht gerötet, als sie mir noch einen Blick zuwirft und sich dann umdreht, um mit schnellen Schritten im Haus zu verschwinden. Ich bin sowas von im Arsch.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top