Kapitel 2
-Kian, 8. September, 49 nach Gründung-
Ich starre ins Innere des Hauses, doch tatsächlich nicht, weil ich auf ihre Rückkehr warte. Ich bin einfach so in meinen eigenen Gedanken versunken, dass ich überhaupt nicht merke, wie lange sie weg ist.
Ich kann kaum behaupten, dass sie nicht die Wahrheit spricht, aber so hatte ich selbst noch nie darüber nachgedacht. Aber natürlich habe ich mir allgemein nicht viele Gedanken um diese Dinge gemacht. Ich weiß schließlich, dass man das alles aus gutem Grund tat. Niemals würde das System ein Kind ohne Grund wegnehmen.
In Zone 1, die fast ausschließlich von Männern bewohnt wird, können die Jungen bestens ausgebildet werden. Das System verfügt nicht über die Kapazitäten, jede Zone so fortschrittlich zu gestalten, wie unsere Zone es ist. Durch einen genetischen Fehler, der vermutlich schon vor dem System existierte, wurden viel weniger Jungen als Mädchen geboren. Letztes Jahr waren es gerade einmal 17 Prozent. In manchen Jahren sah es besser aus, in den meisten schlechter. Daher galt es, diese Jungen besonders zu fördern und zu beschützen. Harte Arbeiten mussten größtenteils von Frauen erledigt werden, während nur Männer Soldaten werden konnten. Doch durch unsere Aufgabe, alle Menschen zu beschützen, stärkten wir wiederum die Geburtenrate.
Natürlich versuchen unsere Wissenschaftler, den Fehler so gut wie möglich zu beheben, doch sie scheiterten bereits daran, ihn überhaupt zu finden. Und solange das nicht geschieht, bleiben die Fortpflanzungserfolge das oberste Ziel. Wie bei der Frau, die bis vor wenigen Augenblicken noch vor mir gestanden hatte. Mit sieben Jungen und gerade einmal zwei Mädchen hat sie eine erstaunlich überragende Quote. Ich bin mir sicher, dass die meisten ihrer Kinder denselben Vater hatten, auch wenn sie das wohl nie erfahren wird. Niemand soll das wissen, denn es würde nichts ändern oder jedenfalls nichts Positives mit sich bringen. Die Regierung und die Regierungen davor waren sich einig, dass verwandtschaftliche Verhältnisse uns schwächer machten. Deshalb versuchte man auch zu verhindern, dass Geschwister sich begegnen. Bei den Jungen war es allerdings nicht so dramatisch, da sie sich weder an ihre Familien erinnern konnten noch die Familien sie als Erwachsene erkennen würden.
Und ich kann auch bei diesem Thema nicht widersprechen, auch wenn ich selten an die Frau dachte, die mich auf die Welt gebracht hat, und noch seltener an den Mann, der mein Erzeuger ist. Wer auch immer es war. Doch das Wissen darum, was die beiden getan hatten, die Art und Weise, wie ich entstanden bin, hat mich immer schwächer gemacht. Natürlich hatte man versucht, mein Wissen darüber mit aller Kraft zu verhindern, doch die Kinderfrauen haben schon immer gerne geredet. Irgendwann wusste es jeder. Natürlich kann ich nichts dafür, doch ich hatte die Blicke und das Gerede immer mitbekommen.
Nicht nur einmal habe ich mir gewünscht, dass es bei mir so abgelaufen wäre wie immer: unbekannte Mutter, unbekannter Vater. Ich müsste keinen Gedanken daran verschwenden, warum sie es getan hatten. Warum ich überhaupt am Leben war. Warum es nicht einfach so sein konnte wie bei jedem Jungen. Dennoch lässt mich der Gedanke daran nicht los, wie verletzt Isabella mich angesehen hat, als ich ihr sagte, dass ich wünschte, meine Eltern wären nicht so dumm gewesen. Ich habe diesen Blick, den sie mir damals zugeworfen hatte, immer noch in meiner Erinnerung vor Augen. Ich kann mich auch immer noch daran erinnern, dass ihre einzigen Worte dazu waren, dass ich es eines Tages vielleicht verstehen würde.
Noch immer kann ich nicht genau sagen, was für ein Blick das gewesen war. War sie verletzt? Wütend? Enttäuscht? Oder etwas ganz anderes? Danach habe ich nie wieder ein schlechtes Wort über die beiden Menschen gesagt, die meine Eltern waren. Ich wollte nie wieder so einen Blick von ihr bekommen. Meine damalige Wut verflog sofort, und zum ersten Mal hatte ich ein schlechtes Gewissen. Immerhin war meine Mutter die beste Freundin von Isabella gewesen. Was meinen Vater betraf, habe ich tatsächlich keine Ahnung. Isabella hat nie über ihn gesprochen, außer wenn sie mir erzählt hat, wie sehr sich meine Eltern geliebt hatten. So, als wäre es etwas Gutes.
Ich weiß es jedoch besser. Das, was ich Isabella gegenüber empfinde, lähmt mich, macht mich verletzlich. Die alte Frau ist immer die Erste, an die ich denke, wenn wieder einmal ein Soldat stirbt oder wenn sonst irgendetwas passiert, was ihr nicht gefallen würde. Ich wusste immer, was sie in diesen Situationen sagen würde. Und vielleicht habe ich auch Angst, wieder mit diesem Blick bedacht zu werden. Dennoch frage ich mich manchmal, warum sie nie über ihn spricht. Sollte es für sie nicht verletzender sein, über meine Mutter zu reden? Immerhin war sie ihr in jahrelanger Freundschaft so eng verbunden. Dennoch lässt sie kaum eine Gelegenheit aus, um über sie zu sprechen. Manchmal ist sie dabei so traurig, dass ich Angst habe, dass sie nach all den Jahren doch noch daran zerbricht.
Ich werde wohl nie verstehen, warum der Tod meiner Mutter sie so hart getroffen hat. Ich bin mir sicher, dass nicht mal Isabellas Tod mich jemals so treffen würde. Und sie ist mit Abstand der allerwichtigste Mensch für mich. Wenn es sein sollte, dass die Jungen Mütter haben, dann wäre sie wohl das, was dem am nächsten kommt. Eine gute Frau. Manchmal vielleicht etwas seltsam, aber sie spricht so selten über ihre Vergangenheit, dass ich nicht weiß, was ihr widerfahren ist, weshalb sie so geworden ist, wie sie ist. Sie war 18, als das System eingeführt wurde. Der vorangegangene Krieg, die Zerstörung, müssen an ihr Spuren hinterlassen haben, auch wenn sie das vehement bestreiten würde. Doch die alte Frau ist offen wie ein Buch, man erkennt immer, was in ihr vorgeht. Sie kann mich nicht täuschen, auch wenn ich ihr das nicht sagen werde.
Ich bin so in meine Gedanken versunken, dass ich erst bemerke, dass die Frau mittlerweile wieder da ist, als das kleine Bündel in ihren Armen zu schreien beginnt. Da ich mir denken kann, dass das Kind nur noch lauter wird, versuche ich erst gar nicht, es ihr abzunehmen. Mit erfahrenen Handgriffen beruhigt sie den kleinen Jungen und sieht mich dann mit gemischten Gefühlen an. Sie scheint jede Narbe, jedes Haar und jeden Muskel meines sichtbaren Körpers zu analysieren. Ein scheues Lächeln huscht über ihre Lippen, dann blickt sie wieder zu dem Jungen, der mittlerweile wieder friedlich in ihren Armen schläft.
Kurz betrachte ich ihn, jedoch sehe ich wohl nicht das, was sie sieht. Ich sehe einen überraschend kräftigen Jungen, jedenfalls wenn man bedenkt, dass es seiner Mutter eindeutig an Nahrung mangelte. Vielleicht ein fähiger Soldat oder Handwerker. Sie sieht gerade wahrscheinlich ihren sehr jungen Sohn, den sie nie wiedersehen wird. Man kann förmlich sehen, wie sie jede Sekunde in sich aufsaugt, um ja nichts zu vergessen.
„Ist er nicht wunderschön?" fragt sie, und als ich den Kopf hebe, sehe ich, wie sie ihn mit einem so liebevollen Blick betrachtet, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Nicht mal von Isabella. Zum ersten Mal heute habe ich ernsthaft ein schlechtes Gewissen, ihn mitzunehmen. Auch wenn ich selbstverständlich weiß, dass es keinen Sinn macht, ihn hier aufwachsen zu lassen. Die Menschen, die in Zone 1 leben können, haben größtes Glück. Sicherlich will sie auch für ihn nur das Beste. Egal, was sie vorher gesagt hat, innerlich weiß sie es garantiert. Auch wenn sie zugegebenermaßen wirklich niemals echte Gewissheit haben wird, dass es das Beste für ihn ist.
Zögernd nicke ich, auch wenn ich nicht weiß, was ein Kind zu einem wunderschönen Kind macht. Wieder eines der Dinge, über die ich nie nachgedacht habe, bis zum heutigen Tag.
„Er ist wahrlich ein prächtiger junger Mann", vernehme ich plötzlich die Stimme meines Ausbilders hinter mir. Ich fluche innerlich, dass ich ihn nicht bemerkt habe. Warum ist er mir nicht aufgefallen? Immerhin war auch das ein Teil meiner Ausbildung. Meine Überraschung versuche ich zu überspielen, indem ich ihm ohne zu zögern zustimme, als wäre mir seine Anwesenheit längst bewusst gewesen.
„Also, Kian, wir nehmen ihn jetzt mit. Es gibt keine Zeit zu verlieren", meint er ruhig, aber bestimmend, und gibt der Mutter keine weitere Chance, zu widersprechen. Er nimmt ihr das noch immer schlafende Bündel aus den Armen. Ohne ein weiteres Mal zu protestieren, was sicherlich an der autoritären Ausstrahlung meines Ausbilders liegt, tritt sie einen Schritt vor. Sie drückt ihrem schlafenden Sohn die Lippen auf die Stirn und streichelt seine Wange.
„Es tut mir so leid. So, so leid", will sie ihm ins Ohr flüstern, doch ihre Stimme bricht, sodass sie die Worte eher schluchzend hervorbringt.
Ich sehe weg, starre an einen Punkt an der Frau vorbei ins Haus. Meine Hände fangen an zu zittern. Schnell stecke ich sie in meine Hosentasche und wage einen flüchtigen Blick auf meinen Ausbilder, der mittlerweile neben mich getreten ist. Er hält mit einem Arm den Jungen fest, mit dem anderen streicht er kurz über die Hand der Frau, die genauso sehr zittert wie meine. Wieder wage ich es nicht, ihr ins Gesicht zu blicken. Ich will den Hass, die Wut, die Trauer und all die anderen Emotionen nicht sehen. Auch wenn es mir egal sein sollte.
„Er wird es gut haben, das verspreche ich Ihnen", meint mein Ausbilder ruhig und sieht der Frau dabei fest in die Augen. Eine Augenbraue der Frau hebt sich, und für einen Moment scheint sie sich tatsächlich zu fragen, ob er die Wahrheit sagt.
„Versprechen Sie das wirklich?" fragt sie leise und verwirrt, wie man es vielleicht von einem Kind erwartet hätte, nicht aber von ihr.
„Ja, das verspreche ich Ihnen", meint mein Ausbilder, und ich kann nicht anders, als ihn verwirrt anzusehen. Sicherlich wusste sie, dass er lügt, oder? Jeder wusste es. Dennoch schien das aus irgendeinem Grund besser für sie zu sein als die Wahrheit. Entweder war sie eine schlechte Lügnerin, oder sie hatte diesen einen Moment gebraucht, um es zu akzeptieren.
„Dann...dann danke ich Ihnen", sagt sie, und ich sehe erstaunt auf. Sie meint es tatsächlich ernst. Sie war wirklich dankbar. Als ich auf die Straße sehe, fällt mir auf, dass es mittlerweile ziemlich spät geworden ist. Über die Häuser sind die ersten Sonnenstrahlen aufgetaucht und tauchen alles in ein warmes Orange. Wunderschön, wie mir auffällt. Die Frau lächelt und streicht ihrem Sohn kurz über das Haar.
„Er ist etwas ganz Besonderes. Bitte sorgen Sie dafür, dass er sein Potenzial nicht verschwendet", meint sie bestimmt. Mein Ausbilder nickt ernst.
„Natürlich, das werde ich tun", verspricht er ihr wieder.
„Gut, das weiß ich zu schätzen." Sie wirkt jetzt tatsächlich erleichtert. Mein Ausbilder gibt mir ein kurzes Zeichen, und wir gehen beide zum Wagen zurück, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.
Während er den schlafenden Jungen in den Wagen legt, sehe ich noch einmal zurück. Die Frau steht immer noch vor ihrem Haus und lächelt glücklich, als hätte sie gerade den ersten Sonnenstrahl des Jahres auf ihrem Gesicht gespürt. Ich merke, wie mein Herz einen kurzen Aussetzer hat, bevor es wieder normal weiterschlägt. Wahrscheinlich lag das einfach nur daran, dass die Luft ein wenig kälter ist als zuvor.
„Steig ein", meint mein Ausbilder nur ruhig, bevor er selbst auf seinen Platz klettert. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich ihm folgen kann.
„Warum hast du ihr versprochen, dass es ihm gut gehen wird? Das weißt du doch gar nicht", frage ich ihn verwirrt.
„Weil das das Einzige war, was sie noch gebraucht hat. Das Wissen, dass sie ihm gerade ein besseres Leben ermöglicht hat", meint er und startet den Wagen.
Ich sehe ihn erstaunt an. „Aber du kannst es doch nicht wissen."
„Und du kannst es nicht wissen. Aber was spricht dagegen, es sie glauben zu lassen?"
„Na ja, es...es ist eine Lüge", versuche ich zu erklären. Er blickt mich kurz von der Seite an und lächelt, bevor er wieder nach vorne sieht.
„Und wenn schon. Glaub mir, das wird sie niemals erfahren."
Mit diesen Worten gibt er Gas und fährt durch die fast menschenleere Stadt. Noch immer bin ich mir nicht sicher, was das für ein seltsamer Morgen war. Aber ich weiß, dass ich so etwas niemals wieder erleben will.
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