Kapitel 19


-Linea, 22. September, 53 nach Gründung–


Zwei Tage sind vergangen. Früher als sonst bin ich am vereinbarten Treffpunkt. Ich habe Jaron getroffen. Er will unbedingt mitkommen, auch wenn er nicht Teil der Mission sein wird. Aber ich glaube, er wollte mich einfach nicht alleine zum Versammlungsort gehen lassen. Ich denke, dass es sicherer ist, alleine zu gehen, aber er hat darauf bestanden. Und das war eigentlich sehr nett von ihm. Dass er sich Sorgen macht, dass ich gut ankomme. Ich lächle ihn an. Vorsichtig greift er nach meiner Hand und zieht mich an sich. Wieder drückt er seine Lippen sanft auf meine. Ich lehne mich an ihn und lasse es geschehen. Irgendwie habe ich jedes Mal das Gefühl, dass es länger dauert, bis er damit fertig ist.

„Ich könnte das ewig machen, aber wenn es vorbei ist, werde ich es tun", sagt er grinsend und schiebt mich ein Stück von sich weg. Ich blinzle leicht. „Schon gut, war nicht so gemeint. Du brauchst keine Angst zu haben", sagt er spöttisch. Ich lächle.

„Das habe ich mir gedacht."

„Deshalb siehst du so aus, als wäre vor deinen Augen ein Kind erstochen worden", sagt er. Ich zucke zusammen, auch wenn es nur ein Zufall sein kann, schließlich habe ich ihm nie von dem Jungen erzählt, es trifft mich ziemlich.

„Das ist nicht lustig", knurre ich.

„Sollte es auch nicht sein. Ich mache mir nur Sorgen. Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht so ernst ist. Aber das ist es. Es ist mir wichtig. Aber du solltest auch sagen, wenn dir etwas nicht passt", sagt er nachdenklich.

„Mir nicht. Ich mag dich sehr, aber ich habe einfach das Gefühl, dass das zu viel ist, oder ich weiß nicht, ich glaube, das ist einfach noch neu für mich. Ich muss mich erst daran gewöhnen" Er schluckt trocken. Seine Augen wirken traurig.

„Das klingt nicht sehr positiv", sagt er, auch in seiner Stimme ist Traurigkeit zu hören.

„Ich weiß, es tut mir leid, ich habe wohl die falschen Worte benutzt. So schlimm ist es nicht. Ich verstehe das alles nur noch nicht, diese Bedeutung von dem Ganzen ist neu für mich. Ich bin ein bisschen überfordert. Aber ich will auf jeden Fall weitermachen. Ich bin sicher, es wird toll. Ich bin auch angespannt wegen der Mission und dem Ganzen, also...". Ich spreche nicht weiter, denn ich blicke in seine Augen, die jetzt verärgert sind.

Mir war schon beim Aussprechen klar, dass das vielleicht verletzender klingen würde, als ich es gemeint hatte. Eigentlich wollte ich ihn ja gar nicht verletzen.

„Wow, wenn du so darüber denkst, dann lassen wir das." Er rückt ein Stück von mir ab. Aber ich hasse es, dass er diese Distanz zwischen uns bringt.

„Tut mir leid", versuche ich es versöhnlich, aber er schüttelt nur den Kopf.

„Vergiss es." Ich spüre einen Stich in meiner Brust. Er sieht so verletzt aus, dass es mir selbst weh tut. Schnell verringere ich den Abstand wieder und nehme seine Hand, die er sofort wegzieht. Als ich ihn küsse, stößt er mich von sich.

„Werde dir erst bewusst, was du da tust und ob du weiter solche Qualen erleiden willst, wenn du mich küsst", sagt er ernst und wendet sich ohne ein weiteres Wort ab. Mit langen Schritten geht er davon. Ich weiß, ich sollte ihm folgen. Aber ich darf das Treffen nicht verpassen. Und das ist im Moment vielleicht wichtiger, auch wenn ich ihm nur zu gerne gefolgt wäre. Ich werde noch Gelegenheit haben, mit Jaron zu reden. Ich vermisse ihn jetzt schon. Denn mit Kian und den anderen allein zu sein, darauf habe ich keine Lust. Aber ich habe es so gewollt.Seufzend und mit einem Loch in der Brust mache ich mich wieder auf den Weg. Diesmal ohne Pause, was natürlich immer noch zu früh ist, aber ich vermute, dass ich nicht lange warten muss.Dreimal klopfe ich an die Tür, bis mir Josh endlich öffnet. Erstaunt schaut er mich an.

„Du bist aber früh, ich dachte schon, es steht ein Soldat vor meiner Tür. Aber komm rein. Clark ist auch schon da, eigentlich schon länger", sagt er freundlich wie immer. Fast möchte ich wieder umkehren oder draußen warten. Aber das war Unsinn, ich musste sowieso Zeit mit diesem Mörder verbringen. Auf die paar Minuten kommt es nicht an. Trotzdem gehe ich so langsam wie möglich in den Keller. Clark, oder Kian, wie auch immer er wirklich heißt, beugt sich über eine riesige Landkarte.

Er trägt nicht wie sonst seine goldene Uniform, sondern ein dunkelgrünes T-Shirt und eine schwarze Hose. Er sieht ganz anders aus als in seiner Uniform, normaler. Was man eben normal nennen kann. Natürlich sieht man ihm noch an, dass er Soldat ist. Kräftigere Muskeln als bei einem normalen Arbeiter und der unnatürliche Kurzhaarschnitt, den nur Soldaten tragen. Aber sein Haar wirkt lockerer, als hätte er sich keine Mühe gegeben, es ordentlich zu tragen. Außerdem scheint er trotz seiner Haltung aufrechter zu stehen, als hätte er mehr Körperspannung als andere Menschen. Wahrscheinlich ist es auch so.

Zuerst bemerkt er mich nicht, aber als ich fast neben ihm stehe, schaut er mich an. Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, aber ich habe auch keine freudige Begrüßung erwartet. Erstaunt bemerke ich, dass sich dunkle Bartstoppeln in seinem Gesicht abzeichnen. Natürlich gibt es Soldaten mit Bart, aber er hat immer so gewirkt, als sei er in dieser Hinsicht eher penibel. Abgesehen natürlich von seinen Augenbrauen, die aber sehr gepflegt aussehen. Aber ich habe ihn nicht oft genug gesehen, um beurteilen zu können, ob er wirklich sehr eitel ist.

Er schaut mich so intensiv an, dass ich fast wegschaue, weil mir das irgendwie unangenehm ist. Vielleicht habe ich ihn auch so angestarrt. Langsam ziehen sich seine Mundwinkel zu einer geraden Linie, was einem Lächeln wohl am nächsten kommt.

„Du bist schon da", bemerkt er das Offensichtliche.

„Sieht so aus, oder? Du scheinst ein ganz Schlauer zu sein", antworte ich spöttisch, obwohl mir nicht danach ist. Die Sache mit Jaron beschäftigt mich immer noch.

„Jemand anderes wäre mir lieber gewesen. Aber wenn du schon mal hier bist, kannst du mir ja helfen. Schließlich bin ich nicht ganz so schlau, wie du sicher schon weißt", er deutet auf die Karte vor ihm.

„Wie gnädig", ich verdrehe die Augen, stelle mich aber zu ihm, seine Bemerkungen gehen mir langsam auf die Nerven.

„Was kann ich für Sie tun?", frage ich weiter. Zu meinem Erstaunen sind auf der Karte nur verschiedene Gänge zu sehen.

„Das ist das Tunnelsystem", erklärt Kian und ignoriert dabei meinen abfällig gemeinten Kommentar „Da kommt man am leichtesten unbemerkt durch. Natürlich gibt es dort auch Kameras, aber oben würde man uns zu leicht entdecken", erklärt er. Ich nicke, das leuchtet sogar mir ein. „Wir müssen kurz vor dem Camp raus, da führt aus Sicherheitsgründen kein Tunnel rein. Ich weiß nur noch nicht wo, das Lager ist offen, die Wachen würden uns sofort sehen", sagt er.

„Und wenn wir uns als Soldaten verkleiden?", frage ich. Er schüttelt den Kopf.

„So viele Soldatenuniformen kann ich nicht besorgen. Vielleicht noch eine, aber die reichen nicht für uns alle. Außerdem liegt das Lager an einem völlig unbebauten Fleck, man würde uns schon von weitem sehen, wenn wir versuchen würden, dort einzudringen", meint er. Ich überlege.

„Wo ist denn das Lager?", frage ich. Er deutet auf einen leeren Fleck, etwas abseits, nahe der Grenze zu Zone 2. Es gibt tatsächlich keinen Tunnel in der Nähe, der nächste muss bestimmt vier Kilometer vorher enden. Mir kommt ein Gedanke, aber ich weiß nicht, ob es ein guter Gedanke ist, also lasse ich es lieber. Ich will nicht, dass er mich noch mehr nervt. Aber er scheint es zu merken, denn er sieht mich fragend an.

„Was?", fragt er, nicht gerade in der Erwartung, dass ich eine Lösung parat habe. Ich erwidere seinen Blick nervös und zucke mit den Schultern.

„Naja, ich dachte... du hast doch sicher kugelsichere Kleidung, oder?", frage ich.

Er nickt stirnrunzelnd. „Klar, glaubst du, die bilden uns aus, um uns dann erschießen zu lassen?", fragt er spöttisch.

„Dann hast du leider welche?", entgegne ich ebenso spöttisch. Daraufhin nickt er nur. Zu meinem Entsetzen geht er nicht weiter darauf ein.

„Gut. Ich weiß nicht, vielleicht ist es blöd, aber gut. Wenn du zwei Uniformen besorgen könntest und vielleicht noch irgendein Fahrzeug, ein Militärfahrzeug oder eben einen Gefangenentransporter. Dann könnten sich zwei als Soldaten verkleiden und der Rest als Gefangene. Wir könnten einen Unfall in der Nähe des Lagers inszenieren und ein Gefangener könnte fliehen. Dann würden die Soldaten beim Lager sicher zu Hilfe kommen. Dann könnten die anderen Gefangenen und die als Soldaten Verkleideten die Soldaten überwältigen. Aber ich weiß nicht, die Idee ist dumm, ich habe nur gedacht", ich beiße mir auf die Lippen, beschämt, vielleicht etwas Dummes gesagt zu haben und ihn damit nur noch mehr gegen mich aufgebracht zu haben. Er scheint darüber nachzudenken, dann hellt sich seine Miene auf. Zu meiner Verwunderung schüttelt er den Kopf.

„Nein, du bist genial", sagt er und räuspert sich. "Ich meinte ... ganz gut. Das könnte tatsächlich funktionieren. Nur müsste jemand so blöd sein, freiwillig den Flüchtenden zu spielen. Die schusssichere Kleidung ist zwar sicher, aber sie schützt nicht alle Körperteile. Das Gesicht und die Extremitäten wären ungeschützt", gibt er zu bedenken. Ich bin froh, dass meine Idee doch nicht so dumm ist, wie ich dachte. Ich lächle zufrieden und schaue ihn an. Er erwidert meinen Blick und auch mein Lächeln.

„Ich würde es tun", sagt eine Stimme. Wir zucken beide zusammen. Unwillkürlich rutsche ich ein Stück von ihm weg und schaue zu der Frau, die unbemerkt hinter uns steht. Eigentlich sind schon alle da und hören uns gebannt zu. Kian nickt bedächtig.

„Nun gut, Rosalie. Wenn du bereit bist, dein Leben zu opfern", sagt er. Sie nickt nur.

„Ich bin die Älteste von uns. Es sei denn, du willst es, die Kleine scheint dir überlegen zu sein. Dann brauchen wir dich wohl nicht mehr", sagt sie amüsiert. Er lächelt leicht.

„Ich werde meinen Platz nicht kampflos aufgeben", es klingt mehr wie eine Drohung. Als ob er sich von mir ernsthaft bedroht fühlen müsste. Was Quatsch war. Zumindest ist er bei den anderen Mitgliedern sehr beliebt, nicht bei allen, aber bei fast allen. Und ich habe keine Ahnung, was er sonst noch so macht.

„So, jetzt wissen wir, wie wir reinkommen, aber was genau suchen wir, das Lager ist ziemlich groß, wir können nicht alles mitnehmen", sagt Rosalie. Ich bewundere sie für ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit. Sie wirkt fast entspannt, als würde sie nicht gleich ihr Leben riskieren. Nicht jeder hätte das getan. Auch wenn Tyra gesagt hat, dass jeder bereit ist zu sterben. Aber es ist ein Unterschied, ob man es sagt oder wirklich tut. Er nickt ihr zu.

„Eleonora will Bücher. Ich weiß nicht genau, was da drin ist. Wir sollten alles mitnehmen, was wirklich interessant aussieht. Und wir dürfen nicht länger als 15 Minuten brauchen, sonst haben sie Truppen geschickt. Und dann haben wir keine Chance", seine Stimme ist so ruhig wie die von Rosalie. Ich weiß nicht, ob sie das mit der Zeit gelernt haben oder ob es einfach ihre Art ist. Dann denke ich wieder an Jaron, er ist nicht so ruhig und geordnet. Er sagt immer, was er gerade denkt. Er hatte keine Geheimnisse. Er ist unruhig, das stimmt, aber auf eine positive Art und Weise. Ich vermisse ihn jetzt hier. Er hätte die Stimmung bestimmt aufgehellt. Jetzt tut es mir noch mehr leid, was ich gesagt habe.

„Hast du sonst noch Ideen?", fragt Kian mürrisch. Verwirrt schaue ich ihn an. Hat er mein Schweigen als Ablehnung verstanden? Entschuldigend schüttle ich den Kopf.

„Nein, ich... nichts. Es tut mir leid", sage ich nur. Er schaut mich noch eine Weile an, dann wendet er sich ab und redet weiter, über verschiedene Fluchtmöglichkeiten in verschiedenen Situationen. Er meint, er würde den richtigen Weg nehmen, wir müssten ihm nur folgen. Dazu mussten wir versuchen, so dicht wie möglich beieinander zu bleiben. Natürlich kann es immer zu Komplikationen kommen, dann müssen wir versuchen auszubrechen und einfach zu fliehen. Das ist nicht ohne Risiko, mir ist natürlich bewusst, dass es keinen perfekten Plan gibt. Niemand kann mir garantieren, dass wir es schaffen. Ist der Preis zu hoch? Lohnt es sich, für ein paar Bücher zu sterben? Diese Fragen kann ich nicht beantworten. Aber die anderen scheinen davon überzeugt zu sein, niemand hat Einwände. Oder es traut sich nur keiner, etwas zu sagen. Schließlich haben wir uns alle freiwillig gemeldet.

Ich sehe Rosalie an. Das ist mir hier in Zone 1 schon öfter aufgefallen. Die Leute sind viel älter als in Zone 12. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber es ärgert mich. Die Leute in Zone 12 könnten sicher auch älter werden, aber niemand unterstützt sie dabei. Es interessiert niemanden, ob man früher stirbt oder nicht. Hier gibt es Menschen, die ein Alter erreicht haben, von dem ich vor kurzem nur träumen konnte. Isabella ist mir natürlich als erste aufgefallen. Sie hat gelebt, bevor es das System gab. Das war vor 53 Jahren. Ich weiß nicht genau, wie alt sie war, als der Krieg ausbrach. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht viel über das Leben vor dem System, das wurde uns nicht beigebracht. Nur, dass das System uns gerettet hat. Die Gründer haben unser Überleben gesichert. Ich frage mich nur, ob das wirklich stimmt. Das müssten wir wohl herausfinden. Wenn das noch möglich ist. Vielleicht reicht es aber auch, eine neue Regierung und neue Regeln zu schaffen. Wir konnten nur für den Augenblick leben. Wir müssen sehen, was wir erreichen konnten.

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