Kapitel 17




-Linea, 20. September 53 nach Gründung-


Genau eine Woche ist vergangen. Die nächste Besprechung findet in wenigen Minuten statt. Mein Blick fällt sofort auf den Mann neben mir. Es ist Jaron. Er hatte mir so viel erzählt. In sieben Tagen hatte er es geschafft, jeden Zweifel aus meinen Gedanken zu vertreiben. Streng genommen auch in den Tagen davor. Jeden Tag hatten wir geredet, aber es kam mir so viel länger vor. So viel Information kann man doch nicht in so wenig Zeit packen.

Aber es ist wahr. Ich kann kaum glauben, wie unschuldig ich noch vor ein paar Tagen war. Ich hatte mir zwar ab und zu Gedanken gemacht, aber auf all die schrecklichen Dinge wäre ich nie gekommen. Niemals. Deshalb ist er für mich so wertvoll, er wagt es nicht, Dinge abzuschwächen oder wegzulassen. Er ist total ehrlich, das können nicht viele von sich sagen. Wobei ich das nicht wirklich sagen kann, ich war nicht so gut darin, Lügen zu erkennen. Aber ich schätze ihn einfach so. Hoffentlich irre ich mich nicht.

Sein Blick brennt wie Feuer in mir, aber ich bin zu sehr darauf konzentriert, die anderen zu beobachten. Es sind ein paar mehr heute, weniger als beim letzten Mal, vielleicht dreißig. Beim letzten Mal waren es bestimmt fünfzehn mehr, aber es ist auch noch nicht elf, vielleicht kommen noch ein paar. Der Mann an der Tür, Josh, wie ich hörte, ist auch nicht da. Laut Jaron steht er aber die ganze Zeit an der Tür, falls jemand zu spät kommt, es wäre zu auffällig, wenn jemand ewig vor der Tür herumhängt. Das können wir nicht riskieren. Die anderen unterhalten sich schon, aber so sehr ich auch hinhöre, ich verstehe nicht viel. Zu viele Leute reden durcheinander.

„Ach, das ist Clark, der Anführer, der hat letztes Mal nichts gesagt. Komisch, dass er wieder da ist, sonst kommt er nicht jedes Mal. Er ist ein bisschen streng, aber er macht seine Sache gut. Aber eigentlich weiß ich gar nichts mehr von ihm, wir reden nicht mehr viel miteinander", sagt Jaron plötzlich und reißt mich aus dem Gespräch der anderen. Verwundert sehe ich ihn an, bis ich seine Worte verstanden habe. Dann schaue ich mich nach Clark um, erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich ihn als Kian kenne. Aber ich habe in den letzten Tagen auch nicht an ihn gedacht. Aber etwas anderes fällt mir auf.

„Ihr redet nicht mehr miteinander?", frage ich neugierig. Jaron winkt nur ab.

„Ach, das ist eine lange Geschichte." Zu gerne hätte ich ihn gefragt, was es damit auf sich hat, aber er hätte es mir wohl erzählt, wenn er darüber hätte reden wollen. Stattdessen schaue ich mir den dritten Anführer zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, genauer an. Er ist kaum zu übersehen. Deutlich größer als die meisten, was angesichts der Tatsache, dass die meisten von ihnen Frauen sind, nicht weiter verwunderlich ist, aber mir fällt es trotzdem auf. Kurze, dunkelbraune Haare, die typische Soldatenfrisur eben. Breite Schultern, aber ansonsten schlank, was auch nicht weiter auffällt. Breiter Kiefer, wilde Augenbrauen und diese wunderschönen blauen Augen. Nicht überragend, so wie Jaron. Aber nicht negativ. Eigentlich sieht er gut aus, sehr gut sogar, aber ich hatte das Gefühl, ähnliche Gesichter schon einmal gesehen zu haben. Einerseits vertraut, andererseits sagt sein Blick, den er über die Menge schweifen lässt, dass viel mehr in ihm steckt, als ich vermute. Auch wenn ich eigentlich nicht vorhabe, mehr von ihm zu erfahren. Geschweige denn, mehr Zeit mit ihm zu verbringen.

Der goldene Soldat, der seinen Kollegen nicht davon abgehalten hat, Adriana zu töten. Der Soldat, der mir garantiert dasselbe angetan hätte, wenn ich nur eine falsche Bewegung gemacht hätte. Er schaut an mir vorbei, scheint mich nicht bemerkt zu haben. Ich fühle mich unbehaglich, nach meinen Erfahrungen mit ihm scheint er nicht unbedingt jemand zu sein, dem ich vertrauen kann. Aber jetzt muss ich es irgendwie tun, wir waren schließlich auf der gleichen Seite. Auch wenn er verdammt gut gespielt hatte, das er es nicht ist.

„Was ist los?", fragt Jaron und deutet mit dem Kinn auf meine Hand, die ich unbemerkt in seine gelegt hatte.

„Oh, tut mir leid. Ich... ich kenne ihn einfach und ich... es gefällt mir nicht", sage ich und will meine Hand wegziehen, doch er hält sie fest.

„Schon gut, ich halte deine Hand, wenn du dich dann besser fühlst. Lass uns später reden", flüstert er mir mit seinem üblichen strahlenden Lächeln zu. Tatsächlich geht es mir schon besser. Gegen meine blasse Haut wirkt seine Hand dunkler, ein starker Kontrast. Der Gedanke gefällt mir. Wir waren äußerlich unterschiedlicher, als man es sich vorstellen kann, und doch kämpften wir für die gleiche Sache. Vielleicht gibt es Hoffnung, dass sich noch mehr Menschen gegen das System stellen. Vielleicht auch Leute, von denen man es nicht erwartet. Wie Kian. Auch wenn ich ihm im Moment noch misstrauen werde. Meine Augen suchen noch einmal den Raum nach ihm ab. Er steht neben Eleonora und unterhält sich mit ihr, aber viel zu weit weg und viel zu leise, um etwas zu verstehen. Er wirkt angespannt, zu gerne wüsste ich, worüber die beiden gesprochen haben. Schließlich nickt die Schwarzhaarige und tritt einen Schritt zurück. Stattdessen tritt Kian nach vorne, sofort hat er nicht mehr nur meine Aufmerksamkeit. Er scheint wie ein Magnet auf die anderen Mitglieder zu wirken.

„Ich sehe, es gibt neue Mitglieder", sagt er und wirft mir einen langen Blick zu. Als hätte er mich beim letzten Mal gar nicht bemerkt. Obwohl er mich sogar angesehen hat. Aber er scheint zu wissen, wer ich bin. Das Mädchen, das er ersticken wollte. Schnell greife ich mir an die Kehle, weil ich wieder das Gefühl habe, dass sie mir zugedrückt wird. Aber natürlich hat das niemand getan. Niemand hatte das je getan. Abgesehen von ihm natürlich. Kurz glaube ich, ein leichtes Lächeln zu erkennen, aber es ist so klein und so kurz, dass ich nicht einmal genau sagen kann, ob er nur den Mund verzogen hat. Trotzdem bleibt sein Blick an mir hängen, was mir fast unangenehm ist, aber so sieht er wenigstens die finsteren Blicke, die ich ihm zuwerfe.

„Nun gut. Ich und ein paar andere haben einen Plan ausgearbeitet, um das Lager zu überfallen. Ich brauche sechs Leute, das Lager ist ziemlich geheim, es wird nicht besonders gut bewacht. Sechs Leute werden reichen. Ich denke, es wird einfach", sagt er und schaut sich im Raum um. Sein Blick ist kalt, so wie ich ihn kenne. Wobei ich nicht wirklich von kennen sprechen will, schließlich habe ich ihn nur kurz gesehen. Dennoch hat er es geschafft, in dieser kurzen Zeit einen äußerst negativen Eindruck zu hinterlassen.

„Was für ein Lager?", wage ich zu fragen. Ohne mich anzusehen, seufzt er.

„Ein Lager eben, wenn du nicht weißt, was das ist, kannst du gerne fragen", sagt er und wartet einen Moment, ob ich wirklich frage. Ich funkle ihn wütend an.

„Sehr witzig, hat man dich als Baby zu oft fallen lassen?", antworte ich genervt und diesmal ist sein Lächeln eindeutig. Amüsiert schüttelt er den Kopf.

„Nicht nur als Baby", sagt er. Diesmal kichere ich leise, halte mir aber schnell die Hand vor den Mund und schaue mich um, ob mich jemand ansieht, aber niemand beachtet mich wirklich. Mit Ausnahme von Jaron natürlich, welcher mich die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hat.

„Das sieht man dir auch irgendwie an", antworte ich wieder abgekühlt und ignoriere Jaron, dessen Hand sich um meine krampft.

„Das höre ich öfter", sagt er trocken und fährt sich beiläufig mit der Hand durch das Haar, welches nicht einfach nur dunkelbraun ist, wie ich jetzt feststelle. Tatsächlich weißt es mehrere Braun und Goldtöne auf, was es wirklich faszinierend macht. Jemand räuspert sich so laut, dass wir beide sofort den Blick voneinander abwenden und endlich Eleonoras genervten Blick bemerken, den sie ihm zuwirft. Schnell wende ich den Blick von ihm ab und sehe, dass Jaron auch mich ansieht. Seine Stirn ist in Falten gelegt.

„Was soll das?", flüstert er mir leise zu. Ich schaue ihn verständnislos an. Er schüttelt den Kopf und reißt meine Hand weg. Ich seufze leise und wende meinen Blick wieder nach vorne. Auch Kian hatte sich Eleonora zugewandt und die beiden hatten sich offensichtlich leise unterhalten, doch nun schaut auch er wieder nach vorne, vermeidet aber meinen Blick. Er räuspert sich.

„Jedenfalls werden dort hauptsächlich Bücher aus vergangenen Zeiten aufbewahrt, aber auch andere mögliche Beweismittel. Was genau, wissen wir nicht, aber ich denke, es wird sich lohnen. Wir sammeln Beweise, um sie unter der Bevölkerung zu verteilen, damit mehr Menschen bereit sind, sich gegen das System zu stellen", erklärt er mir nun ruhig. Kurz wandert sein Blick wieder zu mir, aber er ist nun wieder genervt, die Belustigung ist endgültig aus ihm gewichen. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und schaue Jaron an.

„Es tut mir leid", flüstere ich leise. Er lächelt angespannt.

„Schon gut", sagt er. Auch wenn es nicht so klingt, als wäre alles in Ordnung. Aber er nimmt wieder meine Hand und drückt sie sanft.

„Also, wer kommt mit?", fragt er. Aufgeregt schaue ich zur Kellerdecke. Es klingt zwar nicht besonders aufregend, aber ich will unbedingt dabei sein. Ich kann es kaum erwarten, mich einzubringen. Außerdem interessiert mich, was in den Büchern steht, ich will unbedingt mehr über das Leben vor dem System erfahren. Jaron kann nicht alle meine Fragen beantworten, so sehr er sich auch bemüht. Ohne nachzudenken, fange ich wieder an zu reden.

„Ich will, ich bin dabei", sage ich euphorisch. Sofort schüttelt er den Kopf. So abrupt, als wäre ich nicht einmal seine letzte Wahl. Ich stehe überhaupt nicht auf der Liste der möglichen Kandidaten.

„Nein, ich will dich nicht dabei haben", sagt er bestimmt, obwohl das bei seiner Reaktion gar nicht nötig gewesen wäre. Wütend funke ich ihn an.

„Warum nicht?", frage ich. Ob es an diesem Moment liegt? Hat er Angst, dass er deswegen Ärger mit Eleonora bekommt? Oder was hat er für ein Problem mit mir? Das Problem scheint schon länger zu bestehen, denn offensichtlich hatte er es schon bei unserer ersten näheren Begegnung. Wahrscheinlich hatte er generell ein Problem mit Frauen. Irgendwas aus seiner Erziehung musste da noch hängen geblieben sein.

„Ich nehme niemanden mit, der so neu ist", sagt er und schaut mich kritisch an. Mein gewonnenes Selbstvertrauen schwindet, glaubt er, ich schaffe das nicht? Hält er mich für zu schwach? Zugegeben, ganz abwegig ist das nicht, andererseits hat er gesagt, dass es leicht wird. Wenn er mir nicht mal das zutraut, was soll ich dann hier?

„Ach komm, Clark, irgendwann muss sie doch anfangen. Sei froh, dass sie schon so engagiert ist", seufzt Eleonora, aber so streng, dass es kein Versuch ist, ihn zu überzeugen, sondern ein Befehl. Zähneknirschend schaut er sie an, es scheint ihm nicht zu gefallen, dass sie ihm Befehle gibt. Als Soldat im Goldrang ist er das sicher nicht gewohnt. Wahrscheinlich ist er es, der die Befehle gibt.

„Wenn sie stirbt, ist das aber nicht mein Problem." Wütend sehe ich ihn an, doch er ignoriert mich wieder.

„Ich dachte, es wird nicht gefährlich", erwidere ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Wieder sieht er mich an, aber diesmal lächelt er. Es ist kein freundliches Lächeln. Auch kein amüsiertes.

„Man weiß ja nie, was passiert, wenn Kinder sich weigern, Befehle auszuführen, das solltest du auf jeden Fall wissen", sagt er herausfordernd und meint damit zweifellos Adriana und wahrscheinlich auch mich. Widerlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er zu dieser Gruppe hier gehört. Ich balle die Hände zu Fäusten, doch Jaron hält mein Handgelenk fest. Ich öffne den Mund, um ihn nach seinen Befehlen zu fragen, aber ich finde es nicht sehr klug, das hier vor allen zu tun.

Ich versuche mich zu entspannen. Vielleicht ist dieser arrogante Kerl derjenige, der von diesem Einsatz nicht lebend zurückkehrt. Der Gedanke lässt auch mich lächeln. Ich sehe ihn an, er weicht meinem Blick nicht mehr aus. Im Gegenteil, er hält meinem Blick stand und zwingt mich, es ihm gleichzutun. Diesmal bin ich es nicht, die aufgibt.

„Ich bin mir sicher, dass ich deine Befehle ausführen kann, obwohl ich noch ein Kind bin. Aber wenn ich es schon bei meiner ersten Mission nicht schaffe, dann klebt wenigstens nur mein eigenes Blut an meinen Händen." Er zuckt nur mit den Schultern, es ist ihm wohl egal, wessen Blut an seinen Händen klebt. Aber er wendet den Blick von mir ab und starrt auf einen unbestimmten Punkt am Ende des Raumes, als müsse er über etwas nachdenken. Ich triumphiere innerlich. Er öffnet kurz den Mund, schüttelt leicht den Kopf und schaut mich wieder an. Ich lege den Kopf schief. Zu gerne würde ich wissen, worüber er nachgedacht hat. Aber ich glaube nicht, dass ich ihn fragen kann. Er würde es bestimmt auch nicht sagen.

„Wer will noch mitkommen?", fragt er schließlich in die Runde. Ein paar melden sich, gerade die sechs, die er braucht, und das auch erst, nachdem sich alle unschlüssig angeschaut haben. Ich hatte mit mehr gerechnet, schließlich waren alle bereit zu sterben. Dachte ich jedenfalls. Nicht einmal Jaron hat sich gemeldet. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon. Aber ich kann ja nicht für ihn sprechen. Und für die anderen auch nicht.

„Gut, ich schlage vor, dass wir uns in zwei Tagen zur selben Zeit wieder hier treffen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen", meint Clark, oder Kian. Alle scheinen einverstanden.

Dann tritt Eleonora wieder vor. Kian steht immer noch reglos schräg hinter ihr. Als wolle er sie beschützen. Vor einer unsichtbaren Gefahr. Nachdenklich betrachte ich die Anführerin. Trotz der sichtbaren Spuren der Gefangenschaft ist sie attraktiv, sehr sogar. Und sie ist nicht so alt, wie ich das letzte Mal dachte, ihr selbstbewusstes und bestimmtes Auftreten lässt sie nur älter erscheinen.

Er hatte ihr eigentlich sofort nachgegeben, ob das etwas zu bedeuten hatte? Zumindest hat er das sonst bei niemandem gemacht, jedenfalls wäre es mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ich weiß nicht genau was, vielleicht wusste er einfach, dass sie sich sowieso durchsetzen würde. Aber ich kann ihn ja nicht einfach fragen, zumal es mich ja auch nichts angeht. Vielleicht weiß Jaron etwas, er scheint immer alles zu wissen. Jedenfalls wenn es um die Rebellen geht.

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