Kapitel 15


- Linea, 14. September 53 nach Gründung -


Es waren zwei Wochen vergangen, seit ich meine Arbeitsstelle erhalten hatte. Ich kann nicht genau sagen ob schon oder erst. An manchen Tagen oder in manchen Stunden sogar fühlt es sich wie eine Ewigkeit an, in der nächsten Sekunde, als wäre es eine viel zu kurze Zeit dafür, was ich alles schon erlebt habe. Ian's Tod ist dabei wohl die einschneidendste Erfahrung gewesen. Ein Kind, das starb, unglaublich. Natürlich wusste ich, dass Menschen starben, dass hatte ich in der Vergangenheit schon mitbekommen. Aber durch eine Krankheit, welche wie ich erfahren habe, vererbt wurde? Ich konnte mir noch immer nicht genau erklären, was es mit Genetik und dem Ganzen auf sich hatte, doch da blieb mir ja scheinbar noch genügend Zeit.

Vor ein paar Tagen fasste ich mir ein Herz und wandte mich an Isabella, die einzige, von der ich glaubte, dass sie mir die ganze Wahrheit sagen würde. Ich stellte ihr tausend Fragen, wollte wissen, was es mit Ivans Krankheit auf sich hatte. Warum so etwas in einem scheinbar perfekten System passierte, immerhin hatte man uns stolz erzählt, dass das System ausschließlich gesunde Menschen hervorbringt. Nur unsere Umwelt, unsere Lebensumstände konnten uns krank machen, unsere Eltern aber nicht. Das hatte man uns jedenfalls erzählt. Doch Isabella hatte mir geschworen, dass das nicht das erste Mal gewesen ist. Deshalb hatte sich mir die Frage aufgedrängt, womit man uns noch belogen hat. Sie hatte mich an Jaron verwiesen, dem hübschen Arzt in Ausbildung, welcher mir ja schon an dem Tag nach meiner Ankunft begegnet war.

Auch mit ihm hatte ich mich heimlich, in den letzten Nächten, getroffen. Nicht nur war es schön gewesen ihn wieder zu sehen, auch hatte er mir aus medizinischer Sicht noch viele andere Dinge aufgezählt. Zu meiner Überraschung war er dabei genauso offen gegen das System gewesen wie Isabella. Ich hatte mich nicht getraut andere darauf anzusprechen, allerdings hatte ich das Gefühl, dass hier im Kinderhaus mehr Leute mit rebellischen Meinungen vertreten, waren als in Zone 12. Wobei ich die dort auch nicht wirklich wahrgenommen hatte. Nur Adriana natürlich. An sie musste ich in den letzten Tagen natürlich auch denken. Viel sogar. Sie wäre bestimmt stolz, dass ich versuchte herauszufinden, was die Wahrheit war und was es nicht war.

Allerdings war ich nicht so blöd, die Meinungen und angeblichen Wahrheiten von Isabella und Jaron blind zu vertrauen. Auch wenn ich dem System gegenüber schon immer solche Vorhalte gehabt hatte. Doch ich habe gelernt Dinge nicht länger so zu sehen, wie sie scheinen. Vor zwei Tagen hatte das Ganze dann nochmal eine andere Wendung genommen. Und wenn ich das wirklich durchziehen wollte, würde es wohl keinen Weg mehr zurück geben. Vor zwei Tagen hatte ich wie immer mit Isabella zusammengearbeitet. Ich hatte sie gefragt, ob sie eine Rebellin ist. Natürlich nicht so direkt, doch sie hatte mich verstanden. Am nächsten Morgen, also gestern hatte ich einen verknitterten, schwer lesbaren Zettel in meiner Jackentasche vorgefunden. Doch die Adresse hatte ich dennoch entziffern können, jedenfalls hoffe ich das. Und genau zu dieser bin ich nun unterwegs.

Niemand ist zu sehen, und doch packt mich wieder die Angst, erwischt zu werden. Denn ich habe keine logische Erklärung, warum ich um diese Zeit noch draußen bin. Ich traue mich nicht einmal laut zu atmen. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich soll. Noch ist es nicht zu spät, noch kann ich umkehren, zurück ins Kinderhaus gehen. So tun, als wäre nichts passiert. Aber die Neugier ist wohl zu groß, sonst wäre ich gar nicht erst losgegangen. Obwohl wenig los ist, werde ich einfach ignoriert. Die Leute gehen an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Selbst die Soldaten starren nur ausdruckslos in die Ferne. Das löst ein wenig die Anspannung in mir. Niemand wird mich entdecken. Mit dieser Gewissheit schaffe ich es das durchzuziehen, einfach zu laufen und nicht zurückzusehen. Ich hebe den Kopf und starre möglichst genauso ausdruckslos zurück, wenn mir Menschen entgegenkommen.

Mein Ziel ist ein Haus in einem äußeren Kreis, es ist weit entfernt, meine Beine schmerzen noch immer von der Arbeit. Aber ich hoffe einfach, dass es sich lohnen wird. Ich will wissen, was genau Isabella gemeint hat. Den Zettel habe ich natürlich vernichtet, aber die Worte hatten sich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Lakewood Avenue 13, Mittwoch 23 Uhr. Komm allein. Wir hoffen auf deine Mitarbeit. Freiheit für alle. Ich weiß nicht, ob dass irgendein Scherz ist, denn Isabella hatte jede Frage in die Richtung ignoriert. Es war zwar nur ein Tag vergangen aber diese Ungewissheit hatte mich fast umgebracht. Ich hätte nicht erwartet, dass die Rebellen so leichtsinnig damit umgehen. Doch andererseits, was sollten sie von mir befürchten müssen? Ich sah nicht wirklich wie jemand aus, der etwas gegen sie ausrichten konnte. Außerdem bin ich ganz offensichtlich zu schlecht Lügen aufrecht zu halten.

Gleich ist es so weit. Ich habe mir den Straßenplan genauso intensiv wie die Adresse eingeprägt, es ist nur noch eine Querstraße. Ich bin selbst überrascht, wie gut ich mir Sachen merken konnte. Aber ich hatte diese Fähigkeit wohl auch noch nie benötigt. Und dann stehe ich plötzlich vor der Türe. Ein unscheinbares Haus. Genauso braun wie die umliegenden Häuser. Ich bin fast ein wenig enttäuscht. Ich hatte mehr erwartet. Keine Ahnung, was genau, aber ich wusste eigentlich auch nicht um was es eigentlich geht. Plötzlich verspüre ich erneut den Drang einfach wieder umzudrehen, ich wollte nicht in etwas gefährliches verwickelt werden. Wer würde wohl hinter der Türe lauern? Vielleicht war das eine üble Masche. Aber was hätte Isabella davon? Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und klopfe sacht an die dunkle Türe, als würde ich hoffen, dass man mich nicht hören kann. Fast augenblicklich, als hätte jemand genau hinter der Türe gestanden, wird die Türe geöffnet und ein großer, grimmig dreinblickender Mann sieht auf mich herunter.

„Was willst du?", fragt er ebenso grimmig wie er aussieht. Verwundert schiele ich an ihm vorbei und sehe erneut nach der Hausnummer. Es stimmt, Hausnummer 13.

„Ich...äh...Isabella hat..." Er unterbricht mich und sein Gesicht hellt sich dabei glücklicherweise auf.

„Warum sagst du das nicht gleich, komm rein wir warten schon auf dich, Linea", meint er freundlich und zieht mich, nachdem er sich schnell umgeblickt hat, in die Wohnung. Verwundert sehe ich mich um, es ist niemand anderes zu sehen.

„Sie sind im Keller, es ist sicherer dort", erklärt er mir, ohne dass ich ihn gefragt habe. Ich nicke als Antwort. Es bleibt nicht viel Zeit mich umzublicken, der Mann schiebt mich gleich weiter. Nur einen kurzen Blick auf einen Tisch, auf dem ordentlich gestapelt einige Mappen und Ordner liegen, kann ich erhaschen. Der Mann zeigt mir den Weg zu einer geschlossenen Türe und öffnet diese für mich. Dahinter muss wohl der Eingang in den Keller liegen

Die Treppen sind nur mäßig beleuchtet, doch je tiefer wir kommen, desto heller wird es. Ich starre bald darauf in bekannte und unbekannte Gesichter. Einige Frauen aus dem Kinderhaus erkenne ich. Ganz hinten entdecke ich schließlich Isabella. Sie hat den Kopf in meine Richtung gedreht und lächelt zufrieden. Ich erwidere ihr Lächeln zaghaft, auch wenn sie es nicht bemerken wird.

Aber es sind nicht nur Frauen, wie ich erkenne. Jaron ist auch einer von ihnen, was mich allerdings wenig überrascht. Ein Blick in seine mittlerweile sehr vertrauten, Augen beruhigt mich. Er grinst so breit, dass auch die restliche Anspannung von mir abfällt.

„Hey, Linea. Setz dich neben mich. Großartig, dass du da bist", meint der junge Mann, welcher bei unserer ersten Begegnung noch so schweigsam und distanziert  gewesen war, doch natürlich ist er mir gegenüber schon viel redseliger gewesen in den letzten Tagen. Sonst hätte ich wohl noch nicht so viel erfahren.

Ich folge seinem Angebot, vorbei an größtenteils Frauen, welche mir aufmunternd zulächeln. Schnell nehme ich neben dem hochgewachsenen, zukünftigen Arzt Platz. Ich spüre das Lächeln, welches auf mir liegt, doch ich beachte es nicht. Meine Anspannung ist viel zu groß. Ich will mich ganz darauf konzentrieren, was das Ganze zu bedeuten hat.

„Linea. Es werden nur Menschen hierher eingeladen, welchen wir Vertrauen schenken. Isabelle scheint das zu tun, auch wenn du erst seit kurzem in Zone eins bist. Alles, was hier preisgegeben wird darf diesen Keller niemals verlassen. Auch Mitglieder dürfen sich außerhalb dieser Räume nur im absoluten Notfall austauschen. Und dann niemals mit den Worten, welche wir hier verwenden würden. Benutz andere Wörter, Symbole. Derjenige wird es verstehen. Verstehst du das?", fragt eine magere, zierliche Frau.

Ihr langes, schwarzes Haar hat seinen Glanz verloren und ihr Gesicht ist gräulich verfärbt. Ihre Wangen und Augenhöhlen sind so tief eingefallen, dass ihr Anblick mich fast gruselt. Ich vermeide es ihr direkt ins Gesicht zu sehen, starre dafür an ihren Hals, doch der Anblick ihres deutlich überstehenden Schlüsselbeins und des Halses, welcher nicht ein winziges Fettpölsterchen aufweist, macht das alles nicht besser. Ich bin mir sicher noch nie eine so dünne Gestalt gesehen zu haben.

In meiner Zone sind fast alle deutlich zu dünn, abgesehen von den Müttern natürlich denen es besser geht, deshalb ist mir der Anblick von dünnen Menschen schon fast natürlich. Aber das hier lässt mich erschaudern.

Als ich den Blick durch den Raum schweifen lasse, fällt mir auf, dass einige Frauen so aussehen. Ich versuche mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen, was mir nur allzu deutlich zu misslingen scheint.

„Hungerstrafen", meint die Frau lächelnd, aber ihr Blick ist voller Trauer.

„Hungerstrafen?", wiederhole ich fragend. Sie nickt nur und sieht kurz unsicher zu einer Frau, welche neben ihr sitzt, diese nickt kaum merklich.

„Na gut. Ich denke du solltest alles wissen, was dich dazu bewegen könnte bei unserer Sache mitzumachen", seufzt sie. Ich merke, wie unangenehm es ihr ist. 

„Aber welche Sache denn überhaupt?", traue ich mich endlich zu fragen.

„Alles nacheinander", zischt eine andere. Ich zucke erschrocken zusammen, schaue der vom Hunger gepeinigten Frau aber wieder ins Gesicht. Erst jetzt fallen mir ihre grün schimmernden Augen auf. Sie sind sehr schön und wirken zuversichtlich, trotz all der Qual, die in ihnen sichtbar ist.

„Ich...ich habe ein Kind bekommen", meint sie, sofort sind ihre Augen scheinbar wieder von Trauer überwältigt.

„Ein Kind? Du bist Mutter? Aber warum bist du dann in Zone eins?", frage ich überrascht.

„Ich bin keine Mutter, niemand hat bestimmt, dass ich ein Kind bekommen werde. Mir war ein Leben als Kinderfrau vorbestimmt"

„Aber wie...wie ist das dann passiert?", frage ich. Eine Frau lacht leise auf, als ich nach ihr suche bemerke ich, dass es Isabella ist. Fragend fällt mein Blick zurück zu der Frau.

„Ich habe mich in einen Mann verliebt", meint sie nur spöttisch. Mir brennen noch so viele Fragen auf der Zunge, doch sie unterbricht mich, bevor ich auch nur eine davon stellen kann.

„Du bist bestimmt nicht dumm, du wirst es schon herausfinden. Du musst nur eines wissen. Frauen, die ungenehmigt Kinder bekommen werden gequält. Wir haben gerade mal so viel Nahrung bekommen, dass wir und unsere Kinder es überleben. Ich habe mein Kind nach der Geburt nicht eine Sekunde halten dürfen, durfte sie noch nicht einmal berühren. Danach hat man mir tagelang Nahrung verweigert. Dann habe ich etwas bekommen und dann wieder tagelang nichts. Solange, bis mein Körper nicht mehr mitgemacht hat, das hat bestimmt Monate, vielleicht ein Jahr lang gedauert. Ich weiß es wirklich nicht so genau. Ein Arzt hat sich erbarmt mich zu versorgen. Ich hatte Glück, viele andere nicht", meint sie mit fester Stimme. Dennoch sind die Wut und die Trauer spürbar. 

Ich kann nicht anders, als sie mit offenem Mund anzustarren. Ich kann es kaum glauben. Warum sollte jemand so etwas tun? Kinder werden doch gebraucht, sonst funktioniert das ganze System nicht mehr. Natürlich gibt es Gründe, warum das System die Mütter selbst auswählt, aber die scheinen nach allem, was ich erfahren habe, nicht immer richtig zu sein.

„Aber warum?", frage ich leise, doch sie schüttelt nur den Kopf.

„Weil sie die Kontrolle behalten wollen. Deshalb existiert unsere Gruppe, wir wollen, dass jeder so leben kann wie er möchte und nicht so wie man es uns vorschreibt. Frauen sollten nicht gezwungen werden jedes Jahr möglichst zweimal schwanger zu sein. Männer sollten nicht gezwungen werden die Waffe gegen andere Menschen erheben zu müssen. Ja, wir sind bis jetzt noch nicht wirklich so aktiv geworden, wie wir uns das gewünscht haben. Wir existieren noch nicht so lange. Es gab immer wieder Widerstand, aber meistens lief das nicht lange. Die Menschen vor uns haben sich mit ein wenig entgegenkommen zufriedengegeben. Doch wir werden das nicht mehr tun. Jeder von uns ist bereit für das Gute zu sterben, das erwarten wir einfach. Doch unser Tod wird nicht länger unbedeutend sein. Wenn wir sterben, dann weil wir für die Freiheit gestorben sind.", eine neue, todernste Stimme antwortet auf meine Frage.

Eine etwa gleichaltrige Frau mit kurzen braunen Haaren schaut mich an. Ihr Blick und ihre Stimme sind kalt. Voller Hass, um genau zu sein. Man sieht ihr an, dass auch sie schon einiges ertragen musste. Sie sieht mich eindringlich an, aber ich weiß nicht, was sie von mir verlangt. Natürlich klingt es schrecklich, aber kann ich ihnen vertrauen? Bis vor ein paar Tagen waren mir solche Geschichten fremd, ich hatte noch nie davon gehört. Das, was Adriana mir erzählt hatte, war nicht einmal annähernd so schlimm. Aber natürlich habe ich aus eigener Erfahrung schon Dinge erlebt, die nicht in Ordnung waren.

Vor ein paar Wochen wurde Adriana vor meinen Augen erschossen. Letztes Jahr hat eine Lehrerin ein bisschen über die Zeit vor dem System erzählt, am nächsten Tag war sie spurlos verschwunden. Oder all die Mütter, die ihre Jungen keinen Tag bei sich haben durften. Damals habe ich nicht wirklich darüber nachgedacht, plötzlich sehe ich das mit anderen Augen. Ob mehr Mädchen darüber nachdachten oder ob man das nicht tat, wenn andere einen nicht dazu brachten? Ich wusste es nicht. Hätte ich jemals darüber nachgedacht? Plötzlich weiß ich, dass ich mehr wissen will, mehr wissen muss, auch wenn ich Angst habe.

Ich weiß nicht einmal, was sie hier genau machen, sie hat von Widerstand gesprochen, aber ich weiß natürlich nicht, wie das aussieht. Entschlossen hebe ich den Kopf.

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