Kapitel 13
-Linea, 31. August, 53 nach Gründung-
Ich entdecke junge Frauen, allerdings aber auch ältere. Ältere Frauen als ich sie jemals in Zone 12 gesehen hatte. Ich frage mich, was hier anders ist, bestimmt liegt es auch an dem Arzt, an den man sich scheinbar wenden durfte. Jedenfalls hatte ein Mädchen in Zone 12 über sowas gesprochen. Verkrampft versuche ich mich an das Gespräch zu erinnern, welches ich nur nebenher mitgehört hatte. Ich weiß noch, dass sie sich mit einer schwangeren Mutter unterhalten hatte. Darüber, dass die Mutter, wie alle Mütter, einen Arzt geschickt bekam. Ein Privileg, welches den Frauen unter 18 und den Arbeiterinnen nicht gestattet ist. Nur die Mütter durften dies, denn sie beherbergten ein wichtiges Wesen in ihren Leibern. Es könnte sich schließlich um einen Jungen handeln. Ich weiß noch, dass das jüngere Mädchen krank gewesen war, dass sie Angst gehabt hatte. Dass sie wütend gewesen war. Dass ihr Leben bald zu Ende sein würde, während Mütter und die Menschen in Zone 1, viele Jahre länger leben durften. Ein Arzt kann ihnen immer helfen.
Ich habe nie wieder an dieses Gespräch gedacht, denn so ist es eben nun mal. So ist es doch schon immer gewesen. Schon bevor die Gründer unsere Vorfahren gerettet haben, ist es so gewesen. Doch erst jetzt begreife ich, was das bedeutet. Ich habe nun das Anrecht auf einen Arzt, weil ich dazu erwählt worden bin mich um die Jungen zu kümmern. Es erscheint mir absurd. Erst gestern Morgen ist es noch egal gewesen, ob ich an einer Krankheit starb oder erst wenn ich etwas älter war. Trotz allem weiß ich, dass diese Gedanken nicht richtig sind. Ich weiß, dass Zone 1 die wichtigste Zone ist. Sie beschützt uns und sorgt dafür, dass wir alle weiterleben konnten. Es ist richtig dafür zu sorgen, dass sie gesund sind. Es gibt deutlich weniger Männer als Frauen, da ist es doch normal, dass man sich darum kümmern musste, dass diese Minderheit überlebt. Und Ärzte sind nun mal knapp.
Irgendwie hasse ich mich selbst wegen meiner Gedanken. Ich bin so hin und hergerissen, ich kann mich auf keine Seite stellen. Adrianas Seite und die des Systems. Beide haben etwas Sinnvolles, dennoch tue ich mich schwer daran, mich auf Adrianas Seite zu stellen. Denn so genau kenne ich ihre Seite überhaupt nicht. Sicher, ihre Kritik ist berechtigt und auch ihre Meinungen klingen für mich logisch. Doch es reicht mir nicht. Ich kann nicht einfach das machen, was man mir mal so nebenher erzählt hat. Selbst wenn es Adriana war, die das wollte. Auch wenn ich ihr Ziel lebe, in Zone 1 zu sein.
Erneut habe ich stumm auf einen Fleck gesehen, bin wieder in Gedanken versunken gewesen. Doch jetzt nutze ich diese Gelegenheit aus, um mich weiter umzusehen, genauer hinzusehen. Immerhin würden diese Frauen mir wahrscheinlich alle helfen mich zurechtzufinden, sie würden mir zeigen was ich zu tun hatte und wie ich das am besten tat. Jedenfalls hoffe ich, dass es mir jemand sagt, denn ich habe keine Ahnung. Mein Kopf scheint komplett leer zu sein.
Mein Blick bleibt an einer sehr alten Frau hängen. Verwundert betrachte ich sie. Ihre Haut ist so faltig, dass es wohl kaum eine Stelle ohne Falten gibt. Und dass, obwohl sie so dünn ist, dass ich beinahe ihre Knochen, durch die viel zu weite Hose hindurchsehen kann. Ihr Haar ist so dünn, dass ihr Zopf es kaum zusammenhalten kann. Außerdem weisen ihre Augen eine seltsame Farbe auf, gräulich und trüb, wie ich es noch nie gesehen habe. Sie scheint meinen Blick zu bemerken, denn sie erwidert ihn und verzieht ihre gräulichen, rissigen Lippen zu einem so mädchenhaften grinsen, dass ich für einen Augenblick ihr hohes Alter übersehe. Doch ihr Lächeln ist nicht auf mich gerichtet, es scheint an mir vorbeizuziehen.
Verwundert sehe ich mich um, doch niemand steht neben oder hinter mir. Ich sehe die alte Frau noch einmal an, doch nun scheint auch ihr Blick nicht länger auf mir zu ruhen. Genauso wie ihr Lächeln blicken ihre Augen an mir vorbei. Es bietet sich mir jedoch keine Gelegenheit die alte Frau länger zu betrachten.
„Linea, wir heißen dich als Mitglied unseres Kinderhauses willkommen, wir sind uns alle sicher, dass sie hier sehr gut dazu gehören werden. Es wird am Anfang schwierig werden, du wirst vieles lernen müssen. Doch wir alle hier sind gewillt dich zu unterstützen. Du kannst mit allem zu uns kommen und wir werden versuchen dir zu helfen", wieder spricht Tabea, sie scheint nicht nur die Leitung, sondern auch die Wortführung zu haben. Ich nicke und sehe ihr dabei in die Augen.
„Danke schön. Ich bin froh, dass man mir dieses Vertrauen entgegenbringt. Ich bin froh hier sein zu dürfen", sage ich lächelnd. Allerdings ist mein Lächeln dabei nicht ganz so falsch wie das von Tabea.
Ich freue mich wirklich hier zu sein, doch ich bin zu verwirrt und von so vielem verunsichert, dass ich kein echtes Lächeln zustande bringe. Ein Kichern ertönt, so hell, dass ich denke ein kleines Mädchen würde hier im Raum sein, doch es kommt von der alten Frau. Sie starrt mich an und kichert. Verwundert erwidere ich ihren Blick. Ich sehe, wie eine Frau neben ihr ihren Ellenbogen sanft gegen die Rippen drückt. Die alte Frau verzieht das Gesicht, verstummt allerdings nicht.
„Ihr seid doch alles Narren", meint sie. Ihre Stimme ist nicht so sanft und hell, wie ich aufgrund ihres Lächelns gedacht habe. Sie war rau und hart, wie die eines Mannes. Wahrscheinlich ist das durch ihr Alter verursacht. „Isabella", weist Tabea sie scharf zurecht. Für einen Moment verliert sie ihr dauerlächeln. Die alte Frau, Isabella bleibt still, aber man sieht ihr ihren Unmut darüber deutlich an. Sie erinnert mich eigentlich sofort an Adriana. Sie verwendet sogar dieselben Worte wie Adriana. Ich betrachte sie und frage mich dabei, was das zu bedeuten hat.
Sie verschränkt die dünnen Arme und starrt auf den Boden vor sich. Ich muss, als ich den Namen höre an etwas denken. Ich habe den Namen gestern gehört. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern. Dann endlich fällt es mir ein Isabella. Die Frau, die mir laut dem goldenen Soldaten, Kian, helfen kann. Ich habe sie schon gleich gefunden, eher hatte sie mich gefunden. Doch wie sollte diese alte Frau mir denn helfen? Und bei was vor allem? Mich hier zurechtzufinden? Doch das hatte er sicher nicht gemeint, er schien nicht besonders darauf bedacht zu sein mein Wohlbefinden zu steigern. Ich werde es wohl herausfinden müssen. Ein weiterer Punkt. Einer von vielen.
„Isabella ist ein wenig...missmutig wegen dem Schlafmangel. Sie ist diese Woche bei den Säuglingen eingeteilt", meint Tabea mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich nicke nur und sehe kurz zu der alten Frau, welche nicht wirklich müde wirkt. Sie hat einen seltsamen Gesichtsausdruck aufgelegt, sie wirkt wütend aber zugleich erschöpft, aber nicht müde. Wahrscheinlich liegt es eher an ihrem Alter und der Belastung durch ihre Arbeit im hohen Alter. Allerdings lässt sich das schwer sagen, ihre Falten könnten andere Emotionen überdecken. Ich wende meinen Blick von ihr ab, ich wurde ohnehin nicht schlau aus ihr.
Neugierig lege ich meinen Fokus auf die anderen Frauen. Sie alle sehen gestresst und müde, aber auch zufrieden aus. Jedenfalls die meisten von ihnen. Vielleicht hatte Tabea Recht und die alte Frau war heute einfach nur schlecht gelaunt. Das steht ihr ja auch durchaus zu. Bestimmt hat sie nicht gedacht, dass sie so lange arbeiten musste. Ich habe fast schon Mitleid mit ihr.
„Also wir haben gedacht, dass du in deiner ersten Woche ebenfalls bei den Säuglingen sein wirst, da hast du jeden Tag dieselben Aufgaben, das ist am Anfang einfacher und du kannst viel lernen. Isabella leitet die Gruppe A, sie wird dir helfen. Aber natürlich kannst du dich bei allen Fragen an uns alle wenden", fährt Tabea fort. Ich nicke dankbar.
„Hast du irgendwelche dringenden Fragen?", fragt Tabea schließlich, doch ihre ungeduldige Stimme macht klar, dass man ihr keine Fragen stellen sollte. Ich schüttele den Kopf.
„Nein, ich denke erstmal nicht", sage ich, offensichtlich zu ihrer Zufriedenheit.
„Gut, nach deiner Schicht morgen wird Anisa dich herumführen, das ist sie", meint Tabea und zeigt auf ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen, welches nur etwas älter als ich ist. Anisa lächelte freundlich und ihr Lächeln ist wirklich echt.
„Ich bin gerade ebenfalls bei den Säuglingen, also gebe ich dir dann einfach Bescheid", meint sie mit warmer, melodischer Stimme. Ich bin erleichtert, dass Tabea dies nicht tat. Anisa wirkt viel eher wie jemand, der mir helfen wollte.
„So, es ist 14 Uhr, die nächste Schicht beginnt jetzt.", weist Tabea die Frauen an. Sofort springen sie auf und laufen in verschiedene Richtungen. Ich bleibe bei Isabella, sie wird mich schließlich einarbeiten. Die alte Dame ist schneller als ich erwartet habe. Fast so schnell wie die anderen läuft sie, mich an meinem Handgelenk gepackt, ein Stockwerk nach oben und dann auf einen gigantisch großen Saal zu. Ich präge mir den Weg genau ein, ich muss ihn schließlich morgen selbstständig gehen. Auch wenn es nicht wirklich schwer ist.
Isabella öffnet mir die Türe und läuft gleich selbst hindurch. Doch ich zögere erst, ich muss mich umschauen. Die Babys liegen einzeln in kleinen Betten und schlafen oder werden von den Kinderfrauen versorgt. Ich zähle zwanzig Babys, allerdings nur in einer Reihe, es sind aber 5 Reihen. Allerdings bemerke ich in der hinteren Reihe auch ein paar leere Betten, also gibt es auch noch Platz für mehr Babys. Ich kenne aber natürlich auch nicht das System dahinter. Vielleicht waren die Babys ja auch gerade krank oder irgendetwas ist mit ihnen.
Staunend bemerke ich, dass jedes Baby an Kabeln angeschlossen ist, und auf einer Tafel neben den Betten werden Zahlen angezeigt. Von einigen dieser Tafeln gehen laute, piepsige Geräusche aus. Isabella sieht mich aus ihren grauen Augen belustigt an.
„Hier wird ein Teil der Säuglinge versorgt und wie in allen Säuglingsgruppen nur die ersten 6 Monate ihres Lebens, sie brauchen einfach ein wenig mehr Pflege als die älteren Kinder, doch das wirst du schon sehen.", meint sie nur kurz und scheint nachzudenken, dann zieht sie mich in eine Nische, in der sich einige Schränke befinden, sowie Küchengeräte wie Wasserkocher und andere Dinge, die man zur Flaschenzubereitung benötigt. Ich kenne das natürlich schon von meiner Mutter und meinen Geschwistern, doch ich frage mich wie viel Aufwand es wohl ist, wenn etwa 100 Babys jede paar Stunden etwas zu trinken haben wollten. Oder später, wenn sie gefüttert und beschäftigt werden wollten.
Kurz verlässt mich mein Mut, wie sollte ich das schaffen? Meine Zukunft sieht plötzlich nicht mehr ganz so großartig aus, wie noch vor wenigen Minuten. Angst überkommt mich, was wenn ich doch nicht dazu geeignet bin? Ich wollte nicht versagen, denn was würde dann mit mir geschehen? Dann war ich genauso viel Ballast wie Adriana es gewesen war. Die Angst schnürt mir erneut die Kehle zu, doch dazu bleibt nun keine Zeit mehr.
„Du hast deiner Mutter bestimmt geholfen, oder? Du weißt, wie das geht?", fragt Isabella hoffnungsvoll. Ich nicke stumm.
„Du kannst das?", fragt sie erneut.
Verwundert nicke ich. „Ja, ich weiß, wie das geht es ist nur...", sage ich, doch sie unterbricht mich.
„Es ist nicht so schrecklich, wie du es dir vorstellst gerade, es geht jedem so. Ja, es ist anstrengend, aber wir sind 15 Kinderfrauen in unserer Gruppe. Du bist niemals allein und am Anfang verlangt niemand von dir, dass du alles schaffst. Hab ein wenig Vertrauen in dich, du wirst das Schaffen", meint sie unerwartet sanft und mitfühlend. Sie streichelt mir kurz über den Arm, dann schiebt sie mich in die Nische. Es ist wohl genug Mitleid für heute, aber das kommt mir auch Recht gerade.
„Die Vorräte werden immer nach jeder Schicht aufgefüllt, jemand wird dir später zeigen, wo du neue Sachen herbekommst. Wir haben viele Wasserkocher, aber bitte achte darauf, dass du immer dafür sorgst, dass das Wasser die richtige Temperatur hat und das immer genügend Wasser da ist, aber das weißt du ja. Das Milchpulver findest du in diesen Schränken. Sie bekommen sonst noch nichts, jedenfalls wenn doch, dann nur über eine Sonde. Deshalb gibt es hier nur das. Die Windeln und alles andere ist jeweils an ihren Betten. Das wird auch nach jeder Schicht aufgefüllt. Und ansonsten, jede Kinderfrau hat einen zugewiesenen Bereich. Du arbeitest erstmal mit mir, wir haben den roten Bereich, die 7 Betten da ganz hinten. Die jüngsten Babys also. Bei ihnen ist nicht viel zu tun, sie schlafen ja hauptsächlich. Seit gestern ist aber ein kleiner Junge da, Ivan Thompson. Er ist ein wenig zu klein und hat gesundheitliche Probleme. Der Arzt schaut aber öfters nach ihm. Aber ihn musst du genau im Auge behalten.", sagt sie.
Sie scheint dabei nicht einmal richtig Luft holen zu müssen. Ich frage mich, wie sie das alles noch schafft, sie ist doch viel zu alt für sowas. In dem Alter wird auch keine Frau mehr Mutter, wie soll das funktionieren?
Meine Frage beantwortet sich von ganz allein, denn sie tut tatsächlich kaum etwas. Sie gibt mir nur Anweisungen und sitzt ansonsten hauptsächlich bei Ivan, hält seine winzige Hand und schläft so gut wie immer. Sein Anblick ist fast schon erschreckend. Er wiegt bestimmt unter zwei Kilo, man sieht seine Rippen und seine Haut darüber wirkt eingefallen. Allein trinken will er auch nicht, doch der Arzt hatte einen Schlauch in seine Nase geführt, worüber er wohl ernährt wurde. Als ich sie gefragt habe, meinte Isabella, dass das die Sonde war, wovon sie gesprochen hatte. Jedenfalls hatte auch er das gesagt.
Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll, doch die beiden werden wohl recht haben. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass bereits über sieben Stunden vergangen waren, bald war unsere Schicht vorbei. Gemeinsam mit Anisa fülle ich die Milchnahrung und die Betten des roten, also Isabellas und meinen Bereich und des gelben Bereichs, den Anisa betreut, auf. Sie ist wirklich unglaublich nett, genauso wie ich sie eingeschätzt habe. Sie ist erst seit drei Monaten hier und sie hat mir versichert, dass es die erste Zeit anstrengend sein würde, doch dann wäre bald alles einfacher. Außerdem würde man das alles schnell lernen. Ich hoffe, dass das stimmt. Ich habe endlich wieder Hoffnung erhalten. Ich werde es bestimmt hinbekommen.
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