Kapitel 12

-Linea, 31. August, 53 nach Gründung-


Ungewöhnlich ruhig geht meine Nacht zu Ende. Ein Lächeln umspielt meine Lippen. Am liebsten würde ich sofort aus dem Zimmer gehen, um mit meiner Arbeit zu beginnen und die anderen Kindermädchen und Kinder kennenzulernen. Aber das geht natürlich nicht. Erst muss mir der Arzt sagen, ob ich überhaupt gesund genug bin. Obwohl ich daran nicht zweifle. Ungeduldig setze ich mich wieder auf die Fensterbank und beobachte die Menschen, die von hier aus nur noch kleine Punkte sind.


Zum Glück muss ich nicht lange warten, bis jemand an meine Tür klopft. Sofort straffe ich meine Schultern und setze mich aufrecht aufs Bett. Noch bevor ich sagen kann, dass die Tür offen ist, wird sie geöffnet und derselbe Arzt wie gestern betritt das Zimmer. Er ist etwa 40 Jahre alt, ein kleiner Mann mit Halbglatze und ungewöhnlich großen, hervorstehenden Augen. Er sieht heute noch widerlicher aus als gestern, mit diesem ekelhaften Grinsen. Aber da habe ich ihn auch nicht richtig beachtet. Ihm folgt ein schlanker, großer Junge, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als ich. Der Junge schaut mich verstohlen an und schenkt mir ein nervöses Lächeln, das sofort wieder verschwindet. Ich wende meinen Blick von ihm ab, er scheint im Moment nicht wichtig zu sein. Ich schaue stattdessen den anderen Mann an.

„Das ist Jaron, mein Gehilfe. Er lernt bei mir den Beruf des Arztes. Deshalb möchte ich, dass er Sie noch einmal untersucht. Nur so kann er lernen. Sie haben doch nichts dagegen?", fragt er und seine Stimme lässt keinen Widerspruch zu. Erstaunt schaue ich den Jungen an, der zu Boden blickt. Dann schüttle ich den Kopf.

„Nein, natürlich nicht", antworte ich ihm, obwohl es eigentlich keine Frage war.Der Junge schaut mich wieder an und mir fallen seine schönen Augen auf. Sie sind grünblau und leuchten so hell wie die Sterne gestern Abend am Himmel. Ich merke, dass er meinen Blick bemerkt hat, aber er lächelt nur sanft.

„Zuerst möchte ich Ihre Mundhöhle sehen, Frau Walker", sagt er mit unerwartet lauter und bestimmter Stimme. Ich nicke und öffne meinen Mund ein wenig. Er versucht mit einer kleinen Lampe hinein zu leuchten und schiebt meine Zunge ungeschickt mit einem Stab zur Seite.

„Ich... können Sie den Mund weiter öffnen?", fragt er. Ohne zu antworten tue ich, was er verlangt. So geht es scheinbar ewig weiter, er ist in allem langsamer und ungeschickter als sein Meister. Trotzdem fühle ich mich besser als gestern. Er verzichtet auf allzu gründliche Untersuchungen und ist in allem sanfter und höflicher.

Seine Haare sind ganz anders als die der Soldaten. Länger und lockiger, aber nicht ungepflegt. Einfach anders. Bewundernd stelle ich fest, dass ich so jemanden noch nie gesehen habe. Jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Denn auch seine Haut ist anders, nicht so blass wie bei den meisten anderen. Deutlich dunkler, noch dunkler als die der Feldarbeiter. Sein Gesicht ist so kantig wie das vieler hart trainierter Soldaten, aber die Sanftheit, mit der er seine Arbeit verrichtet, unterscheidet ihn von ihnen.

„Herr Steves, ich bin fertig", sagt er schließlich. Nickend stimmt ihm der Arzt zu.

„Gut. Ihre Blutwerte und der Rachenabstrich sind auch schon ausgewertet. Alles sieht gut aus, Sie müssen nur einmal täglich diese Tabletten nehmen", sagt er.

Ich nicke. „Und was ist das?", frage ich neugierig.

„Das sind nur Eisentabletten", sagt er genervt und drückt mir ein Glas mit weißen Tabletten in die Hand.

Vorsichtig betrachte ich die runden Medikamente. Ich weiß nicht, wofür das ist, aber es scheint wichtig zu sein.

„Nimm gleich eine", sagt der Arzt und schaut mich eindringlich an. Ich nicke nur und öffne den Schraubverschluss, um mir eine zu nehmen. Kurz betrachte ich sie. Entgegen meiner Erwartung ist sie völlig glatt und scheint mit etwas überzogen zu sein. Dann schaue ich auf und sehe wieder den Arzt an. Jaron steht hinter ihm und schaut mich an. Als ich seinen Blick finde, schüttelt er kaum merklich den Kopf. Verwirrt schaue ich wieder auf die Tablette.

„Ich glaube, die nehme ich erst heute Abend. Nicht, dass mir bei der Arbeit schlecht wird", versuche ich mich herauszureden, doch der Arzt kneift die Augen zusammen.

„Aber ich möchte sehen, wie du sie verträgst. Nimm sie jetzt und vergiss sie keinen Tag. Es ist wichtig", seine Stimme klingt drohend. Ich nicke und stecke sie in den Mund. Wie erwartet verhindert die Schutzschicht, dass sie sich sofort auflöst. Ich schlucke trocken und schaue den Arzt an, der zufrieden dreinblickt.

„Gut, wenn etwas ist, melde dich unten im Dienstzimmer, wir beide sind für das Kinderhaus zuständig. Aber eine der anderen Kindermädchen wird dir alles zeigen", sagt er kühl und gibt damit zu verstehen, dass weitere Fragen unerwünscht sind. Auch wenn ich so viele habe. Andererseits will ich die Tablette unbedingt so schnell wie möglich loswerden, denn irgendwie vertraue ich Jaron mehr als dem Arzt.

Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, renne ich zu dem kleinen Bad, das an mein Zimmer angeschlossen ist, und spucke sie in die Toilette. Dann nehme ich einen Schluck Wasser aus dem Hahn und spüle mir den Mund aus. Ich frage mich, was das alles soll. Was bewirken diese Tabletten eigentlich? Der Arzt, Steves, wollte unbedingt, dass ich sie nehme. Aber sein Lehrling hat mir klar gemacht, dass ich sie nicht nehmen soll. Heißt das, dass er diese Tabletten schon einmal gesehen hat? Vielleicht kann ich das herausfinden. Aber ich musste natürlich geschickt vorgehen, ich konnte nicht einfach jeden fragen.

Vorher musste ich jedoch jemanden finden, der mich herumführte. Ich kannte ja nur den Weg zu meinem Zimmer. Und ich bezweifle, dass ich es wieder finden werde. Ich war gestern viel zu nervös. Ich weiß nicht einmal, in welchem Stockwerk ich bin. Aber diese Suche wird mir abgenommen, als jemand an die Tür klopft, wartet, bis ich eintrete und mich dann beim Eintreten strahlend anlächelt.


Die Frau ist etwas älter und hat kurze blonde Haare. Sie wirkt, wie auch der Arzt, wohlgenährter als die anderen Menschen, die ich kenne. Nicht übermäßig natürlich, nur nicht so zerbrechlich. Trotzdem bin ich erleichtert, endlich ein freundliches Gesicht zu sehen, oder besser gesagt, nur ein freundliches Gesicht und nicht noch einen merkwürdigen Arzt daneben.

„Wir freuen uns sehr, dass du zu uns gekommen bist, Linea. Herr Steves hat gesagt, dass du kerngesund bist", sagt sie und strahlt noch immer. Irgendetwas an diesem Strahlen hält mich davon ab, sie nach den Tabletten zu fragen. Und als ich in ihre Augen schaue, sehe ich, dass sie nicht strahlen. Das Lächeln ist falsch. Eine Weile studiere ich ihr Gesicht weiter, ich bin wirklich nicht gut darin, Lügen zu erkennen, aber diese hier erkenne ich.

Das Lächeln ist viel zu breit, um wahr zu sein. Auch wenn sie trotz allem sympathisch wirkt. Aber warum sollte sie es nicht ernst meinen? Vielleicht ist sie einfach zu gestresst, um ein ehrliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Trotzdem lächle ich zurück, wenn auch genauso künstlich wie sie. Ich bin bestimmt genauso wenig in Stimmung wie sie. Vielleicht will sie nur freundlich sein und ich habe wieder einmal zu viel hineininterpretiert.

„Ich freue mich auch, hier zu sein", antworte ich. Sie nickt kurz.

„Ich bin Tabea, ich bin die Kinderfrau, die hier sozusagen das Sagen hat. Natürlich nur, um Meldungen an die Leitung weiterzugeben und entgegenzunehmen", sagt sie, immer noch freundlich, aber ihr Lächeln ist verschwunden. Ich nicke ruhig.

„Du wirst hier eine Uniform tragen, so wie wir alle, damit wir uns gegenseitig und natürlich auch die Leute von außen als Mitglieder erkennen. Ich habe dir eine mitgebracht, du bekommst jeden Morgen eine frische vor die Tür gelegt", sagt sie und reicht mir ein weiches, fliederfarbenes Bündel, ich hatte es gar nicht bemerkt, unter ihren Arm geklemmt. Überrascht von der seltenen Farbe schaue ich sie an. Sie lächelt leicht, diesmal echt, soweit ich das beurteilen kann.

„Die Farbe an der Kleidung ist ausschließlich für das Kinderhaus reserviert, damit es nicht zu Verwechslungen kommt, wenn wir unterwegs sind", erklärt sie. Ich nicke, das macht Sinn. In Zone 12 habe ich hauptsächlich Braun- und Schwarztöne getragen, das war dort normal. Wir legten keinen Wert auf bunte Kleidung, da hatten wir sicher andere Sorgen, aber für die Kinder war diese sanftere Farbe sicher angenehmer. Und wir konnten uns wirklich von den anderen unterscheiden.

„Zieh dich um und komm dann nach unten in den Versammlungsraum. Du musst nur aus deinem Zimmer nach links gehen und dann ganz nach unten. Du kannst den Raum nicht verfehlen, dort werden fast alle Kindermädchen auf dich warten", sagt sie und lächelt immer noch. Ich nicke wieder.

„Danke, Tabea", sage ich leise, sie nickt und dreht sich um. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie die Uniform trägt, vorher habe ich gar nicht darauf geachtet. Wahrscheinlich hatte mich ihr falsches Lächeln zu sehr abgelenkt.

Seufzend schließe ich die Tür hinter ihr, ich will mich beeilen, meine Neugier zwingt mich, so schnell wie möglich alles zu sehen und jeden kennen zu lernen. Es ist ein riesiges Haus, wahrscheinlich werde ich nie alle kennenlernen. Aber vielleicht die meisten. Und natürlich die Kinder, das wird bestimmt toll. Aber natürlich auch anstrengend. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für die ist, die kennen ja nicht mal ihre Mütter. Sie müssen sich jeden Tag fragen, was wäre, wenn sie es getan hätten. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Vielleicht ist es normal, dass es sie nicht stört. Aber ich schwöre mir, dass ich mich gut um sie kümmern werde.

Hastig werfe ich mein Kleid weg und ziehe zuerst die weite, fliederfarbene Hose an, dann das weite Hemd, das natürlich die gleiche Farbe hat. Es ist wirklich praktische Kleidung. Es ist weit, aber nicht zu weit, damit es nicht herunterrutscht, wenn ein Kind daran zieht. Außerdem hat das Hemd eine Tasche. Bestimmt finde ich hier etwas, das ich hineinstecken kann, und sei es nur meine eigene Hand. Schnell binde ich mir die Haare zu einem lockeren Zopf und gehe zur Tür. Irgendetwas scheint mich aufhalten zu wollen. Auch wenn ich gerade noch so gern gegangen wäre. Zweifelnd bleibe ich einige Sekunden stehen und spüre Panik in mir aufsteigen.

Aber warum? Es gibt doch überhaupt keinen Grund. Ich habe einen guten Job bekommen, einem guten Leben steht nichts im Wege. Aber diese plötzliche Angst lähmt mich. Sie schnürt mir die Kehle zu. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Aber ich zwinge mich dazu. Einmal kann ich tief durchatmen, dann scheint es mir besser zu gehen. Ich spüre, wie sich meine Stirn feucht anfühlt. Aber ich habe keine Zeit dafür. Ich will unbedingt zu den anderen, um sie kennen zu lernen. Eigentlich muss ich es. Noch einmal atme ich tief durch, dann drücke ich auf die Klingel, um die Tür zu öffnen. Das kann ich mir nicht leisten, schließlich bin ich jetzt für Kinder verantwortlich. Außerdem ist es unsinnig. Das System sucht für uns genau das aus, wofür wir geeignet sind. Alles andere wäre Blödsinn, schließlich müssen wir in unserem Beruf gut sein. Ich habe nichts zu befürchten.

Mit klopfendem Herzen steige ich die Treppe hinunter, muss mich aber an Tabeas Worte erinnern, um den Weg zu finden. Und das ist gar nicht so einfach. Dieses Haus ist größer als alles, was ich bisher gesehen habe. Es gibt so viele Flure und Stockwerke. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis ich alle wichtigen Türen kenne. Zu gerne hätte ich mich genauer umgeschaut, aber dafür ist jetzt keine Zeit und ich weiß auch nicht, ob das erwünscht ist. Diese Ablenkung hält mich aber nicht davon ab, nach unten zu gehen, wie Tabea mir gesagt hat. Schon einige Stockwerke vorher höre ich die ersten Stimmen der Jungs, vor allem Babyschreie natürlich, aber auch Kleinkinderstimmen, die sich um Spielzeug oder sonst etwas streiten. Diese Geräusche treiben mich an. Aber sie erinnern mich auch schmerzlich an zu Hause. Ich erinnere mich an das Spielen mit meinen Geschwistern. Auch wir hatten uns oft gestritten, kein Wunder, wir waren ja viele. Und meine Mutter hatte es nie geschafft, uns alle zu bändigen. Ich schüttle den Kopf. Das ist nicht mehr mein Zuhause. Mein Zuhause ist das hier. Das Kinderheim.

Es wird mich sicher glücklicher machen, wenn ich eines der Babys im Arm halte oder mit einem der Jungs spiele. Aber dann kommt mir plötzlich ein anderer Gedanke. Plötzlich habe ich Angst, einem von ihnen weh zu tun. Natürlich will ich das nicht, aber es könnte passieren. Vielleicht sogar meinen Brüdern. Sie müssen hier leben, bis sie in die Soldatenschule kommen. Mein jüngster Bruder Max kann kaum älter als ein Jahr sein. Und es werden sicher noch mehr Geschwister kommen. Auch wenn ich sie nicht alle erkennen werde, denn nicht immer wählen die Verantwortlichen meinen Vater als Vater meiner Geschwister aus.

Ich weiß nicht, nach welchem System die entscheiden, wer der Vater sein wird. Bis jetzt hat sich mir kein System erschlossen. Aber ich habe mir die Namen meiner Brüder gemerkt, der älteste, jedenfalls von denen, die ich kenne. Meine Mutter hat nie von anderen Brüdern gesprochen, aber auch nicht von einem Sohn, wahrscheinlich war das zu schmerzhaft. Ich frage mich, ob ich zukünftige Brüder erkennen würde. Am Nachnamen natürlich, aber ob es auch die Söhne meiner Mutter waren, werde ich wohl nicht wissen. Es könnte ja auch eine andere Frau die Mutter sein.

Aber dafür habe ich ja noch Zeit, ich werde ja für immer hier bleiben, bis ich sterbe. Ich werde, ohne es zu wissen, die Söhne meiner Schwestern aufziehen und vielleicht sogar die Söhne meiner Brüder. Und ich werde es nicht wissen. Der Gedanke macht mich traurig. Aber andererseits ist es natürlich eine gute Strategie. So geben sich alle Mühe mit den Kleinen, niemand würde einem absichtlich etwas Böses tun. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie man einem Kind etwas antun könnte. Auch wenn sie vielleicht skrupellose Soldaten geworden sind, sind sie immer noch Kinder. Vielleicht, wenn man sie nur gut genug behandelt, werden sie gute Menschen. Das war ein Ziel, das ich erreichen wollte, dass wenigstens ein paar, wenn nicht sogar nur einer, zu guten Menschen würden.

„Da sind sie", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ohne auf meinen Weg zu achten, hatte ich es tatsächlich geschafft, zu den anderen zu kommen, obwohl ich dabei ziemlich dumm aussehen musste. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht wusste, wie lange ich hier gestanden hatte, bis ich angesprochen wurde. Tabea schaut mich fragend an, als ich sie endlich alle anschaue. Es sind viel mehr Frauen, als ich dachte. Der ganze Raum ist voll von ihnen, eigentlich mehr als dieser Raum. Schließlich sind ja noch ein paar Frauen bei den Jungs, die kann man ja schlecht allein lassen. Schüchtern schaue ich mich um, natürlich sind alle Blicke auf mich gerichtet.

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