DAY 7 /2
Die Stille zwischen uns wird zum ohrenbetäubenden Lärm. Ich glaube, dass Vito wusste, in welche Richtung die Frage geht, aber sie ausgesprochen zu hören, scheint ihm kurz den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Vito räuspert sich, dann antwortet er mit gebrochener Stimme: "Jeden Tag."
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und ich fange an zu weinen. Auch Vito versucht nicht mal mehr, Stärke vorzutäuschen. Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und weint wie ein kleines Kind. Er schluchzt laut, so herzzerreißend, dass ich noch mehr weinen muss.
Ungefragt rutsche ich auf seine Liege herüber und schlinge meine Arme um seinen starken Körper, der plötzlich so zerbrechlich wirkt. Vito lässt seinen Kopf an meine Schulter fallen, verschränkt seine Arme ebenfalls hinter meinem Rücken und wir heulen uns die Seele aus dem Leib.
Minutenlang sitzen wir einfach so da, ineinander verschlungen, und betrauern unseren Verlust gemeinsam.
Es dauert, bis wir uns wieder fangen, aber so schmerzhaft dieser Moment ist, so heilsam ist er auch. Nur Vito kann den Schmerz nachempfinden, den ich für immer in mir tragen werde und nur ich weiß, welche blutende Wunde für immer in seinem Herzen klaffen wird.
"Er wäre jetzt vier", wispert Vito. "Jedes Mal, wenn ich Kinder in diesem Alter sehe, vor allem kleine blonde Jungen, überkommt mich dieser stechende Schmerz. Es macht mich wütend, dass ich nicht mit ihm da unten am Strand sitzen und Sandburgen bauen kann. Wenn die Kids mit ihren orangefarbenen Schwimmflügeln schwimmen lernen oder die ersten unsicheren Runden mit dem Fahrrad drehen.. Es zerreißt mir das Herz", stammelt er. "Ich würde das so gerne auch mit meinem Sohn machen."
Ich nicke. "Diesen Schmerz kann man nicht in Worte fassen. Ich habe mich so darauf gefreut, Mutter zu werden und ich kann bis heute nicht verzeihen, dass es mir nicht vergönnt war."
"Ich habe mich auch darauf gefreut, Yuna, auch wenn ich eine scheiß Angst hatte. Ich hatte nie einen Vater, ich weiß doch gar nicht, wie das geht."
Entschieden schüttele ich den Kopf. "Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass du der beste Vater für Livio geworden wärst."
Sein Name geht mir so schwer von der Zunge wie nichts sonst. Als wir ihn damals entdeckt haben, war klar, dass unser Sohn genauso heißen soll. Livio. Leider wurde uns nie das Glück zuteil, ihn so zu rufen.
Wir waren gerade 19 und 20 Jahre jung, als ich den positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt. "Das stimmt niemals. Das Ding ist bestimmt kaputt", hat Vito gelacht. Ich habe selbst nicht daran geglaubt, auch wenn ich seit ein paar Tagen überfällig war, und einen zweiten Test gemacht. Nur ein paar Sekunden, nachdem ich auf den Teststreifen gepinkelt habe, erschien wieder ein zweiter blauer Strich, deutlich und unverkennbar.
"Vito, was machen wir, wenn das doch stimmt?", habe ich ihn gefragt. Ich werde diesen Moment niemals vergessen, er hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Wir standen im Bad seiner ersten eigenen Wohnung, haben uns beide aus großen Augen angeschaut und konnten nicht glauben, was hier gerade passiert. "Wir haben doch immer verhütet?", hat Vito gefragt, ein leichter Anflug von Panik in seinen grünen Augen. "Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte."
Zwei Tage später saßen wir aufregt und ängstlich zusammen beim Frauenarzt. Wir konnten es selbst dann noch kaum glauben, dass ich wirklich schwanger bin, als wir die kleine Erdnuss mit ihrem schlagenden Herzen auf dem Ultraschall gesehen haben. "Herzlichen Glückwunsch", hat der Arzt lächelnd gesagt. Wir haben uns bedankt, und waren völlig überfordert.
Auf der Rückfahrt zu Vitos Wohnung, haben wir kein Wort miteinander geredet. Und dann haben wir uns zusammengesetzt, voller Angst und voller Zweifel. Wie sollten wir das machen? Vito hielt sich mit Hilfsjobs über Wasser, ich hatte gerade erst die Schule beendet und war auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Wir hatten keine gemeinsame Wohnung, keine Kohle, und vor allem keine Ahnung, was gute Eltern sind.
Wir haben stundenlang miteinander geredet, gestritten, geweint, uns wieder vertragen und dann wieder von vorne angefangen. Am Ende kamen wir zu der vorsichtig optimistischen Entscheidung, dass wir das zusammen schaffen.
Von da an wuchs die Vorfreude auf unser Baby mit jedem Tag. Aus der Erdnuss formte sich ein richtiges Baby und wir fieberten jedem Ultraschalltermin entgegen. In der 14. Schwangerschaftswoche verkündete uns der Arzt, dass wir einen Jungen bekommen. Unsere Freude war unbeschreiblich. Wir suchten direkt nach einem Namen, durchstöberten tagelang Internetseiten, bis wir auf Livio stießen. Vito schlug ihn vor, und ich verliebte mich auf der Stelle. Livio, so sollte unser Sohn heißen.
Vier Wochen später war mein Freund auf der Arbeit, als ich plötzlich Unterleibschmerzen bekam. Das sind bestimmt nur Wachstumsschmerzen, oder Bänder, die sich dehnen, redete ich mir ein. Doch die Schmerzen wurden immer stärker und irgendwann spürte ich eine ungewohnte Nässe zwischen meinen Beinen. Panisch ging ich zur Toilette und wollte nicht wahrhaben, was ich sah: Blut.
Hysterisch rief ich Vito an. Er kam sofort und fuhr mit mir ins Krankenhaus, wo mein schlimmster Alptraum bestätigt wurde: ich hatte eine Fehlgeburt.
Ich musste ausgeschabt werden, Vito war die ganze Zeit an meiner Seite, auch wenn keiner von uns richtig verstand, was hier gerade passierte. 12 Wochen lang haben wir von unserem Sohn geträumt, von uns als Eltern, wir drei als Familie. Wir haben Pläne geschmiedet, wollten zusammenziehen. Wir haben die ersten klitzekleinen, zuckersüßen Sachen gekauft, die ersten Freunde eingeweiht. Und von jetzt auf gleich sind all unsere Träume zerplatzt wie eine Seifenblase.
Wobei, so leicht wie eine Seifenblase hat sich das nicht angefühlt. Eher wie ein Frontalcrash mit 250 km/h auf der Autobahn. Der Aufprall war gigantisch, jede Faser meines Körpers hat geschmerzt, die Leere in mir war physisch spürbar.
Diese Fehlgeburt war das Schlimmste, was ich je erlebt habe, und sie war der Anfang vom Ende, denn Vito und ich waren so gebrochen, so traumatisiert, dass wir nicht in der Lage waren, uns gegenseitig aufzufangen, als wir uns am meisten gebraucht hätten. Der Schmerz, der uns vereint hat, hat uns auch auseinander gerissen. Der gemeinsame Traum wurde zum gemeinsamen Alptraum.
Anstatt miteinander gegen den Schmerz zu kämpfen, haben wir vor lauter Schmerz gegeneinander gekämpft.
Unser größter Reibungspunkt war der unterschiedliche Umgang mit der Trauer und das mangelnde Verständnis für das Trauerverhalten des anderen.
Vito hat sich komplett zurückgezogen. Er hat alles abgeblockt und wollte nicht mit mir über die Fehlgeburt sprechen. Er wollte nur noch alleine sein und trauern. Ich wusste nie, was er fühlt, weil er es mir nicht gesagt hat.
Ich bin hingegen ohne Ablenkung durchgedreht. Ich musste immer raus, immer unter Leute. Vito hat das nicht verstanden. Er hat mich irgendwann mal gefragt, wie ich Spaß haben kann, wenn unser Kind gerade gestorben ist. Dabei hatte ich keinen Spaß. In mir war nichts, als ein schwarzes Loch. Ich habe nur verzweifelt versucht, zu überleben.
"Ich müsste nicht immer flüchten, wenn du mal für mich da wärst", habe ich ihm an den Kopf geschmissen. Die Streits wurden immer häufiger als ohnehin schon. Wir brauchten ein Ventil für all die Trauer, die Wut und die Verzweiflung und haben uns aneinander abreagiert.
Nachdem wir uns wieder mal besonders heftig gestritten haben, bin ich abgehauen und mit einer Freundin in die Disco gegangen. Dröhnender Lärm, der die Gedanken übertönt und Alkohol, der jeden Schmerz zumindest bis morgen betäubt.
An diesem Abend traf ich Ozan, einen Jungen aus unserer Stadt, den sowohl Vito als auch ich kannten. Ozan flirtete schamlos mit mir, und ich spielte ein wenig mit, um mein Ego zu polieren und mich abzulenken. Als er jedoch versuchte, einen Schritt weiterzugehen und mich zu küssen, wies ich ihn entschieden zurück. Trotz meines Ärgers auf Vito hätte ich ihn niemals betrogen – er war der einzige Mensch, den ich wirklich geliebt habe.
Doch Ozan war so gekränkt durch meine Zurückweisung, dass er Vito erzählte, ich hätte etwas mit ihm gehabt. Zu meinem Entsetzen glaubte Vito ihm – und nicht mir.
Als er mich zur Rede gestellt hat, ist es völlig eskaliert. Wir haben uns beschimpft und mit Vorwürfen überhäuft. Ich konnte nicht fassen, dass er mir nicht glaubt. Es hat mich verletzt, beleidigt und unfassbar wütend gemacht. Wir haben geschrien und getobt, gewütet wie zwei außer Kontrolle geratene Wirbelstürme, die alles mit sich reißen. Ich habe Vito geschubst und er hat vor lauter Wut eine Vase vor die Wand geschmissen. Irgendwann bin ich heulend abgehauen und wir haben uns nie wieder gesehen. Keiner von uns hat es mehr versucht, bei uns beiden war die Kraft und die Geduld am Ende.
"Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da sein konnte", holt Vitos Stimme mich zurück auf den kleinen Balkon mit Meerblick, zurück ins hier und jetzt, fünf Jahre später.
Seine schönen Augen ruhen auf mir, gerötet und verweint.
"Mir tut es auch leid, dass ich immer nur weg war, anstatt bei dir zu sein. Ich habe das nicht gemacht, weil du mir egal warst, ich wollte dich nicht alleine lassen, ich wollte mich einfach ablenken. Im Gegensatz zu dir habe ich es nicht geschafft, mich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen. Ich hatte unser Baby im Bauch und ich hatte nur die Aufgabe, es zehn Monate lang zu beschützen, und ich habe es nicht geschafft. Ich habe mich so schuldig gefühlt." Meine Stimme versagt.
Vito zieht mich wieder an sich, drückt mich an seine harte Brust und küsst liebevoll meine Schläfe. "Was redest du denn da, Yuna? Du bist doch nicht Schuld daran. Du hast nichts falsch gemacht, hörst du? Es war einfach ein tragischer Schicksalsschlag, den wir beide nicht hätten verhindern können."
Ich drücke mich an ihn, sauge seine Nähe auf, wie ein Schwamm. Seine verständnisvollen Worte, die mich von meiner Schuld freisprechen, sind Balsam für meine Seele, und obwohl der Schmerz nie ganz verschwinden wird, weiß ich in dem Augenblick, dass es besser wird.
Zum ersten Mal spüre ich Vergebung - für mich und für ihn.
Ich schließe für einen Moment die Augen, inhaliere seinen süßen Duft und lasse seine Worte auf mich wirken, spüre, wie der Druck in meiner Brust langsam nachlässt. Es ist, als würde die Schwere, die mich so lange bedrückt hat, plötzlich von mir abfallen, und ich kann endlich wieder atmen.
Vito hält mich fest im Arm, sein Herzschlag ist gleichmäßig und beruhigend, wie ein leises Versprechen, dass alles gut wird. Die Sonne wärmt meine Haut wie er, und die sanfte Brise, die über den Balkon streicht, kitzelt meinen Rücken.
"Danke", flüstere ich schließlich, ohne ihn anzusehen. Es ist nur ein Wort, aber es trägt all die Gefühle, die ich in diesem Moment empfinde.
"Ich wünschte, ich hätte dir das damals geben können. Ich fühle mich ein Versager, weil ich dich damit allein gelassen habe. Aber ich konnte nicht mehr denken vor lauter Schmerz, nicht mehr schlafen, nicht mehr essen. Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir. Das war alles zu viel für mich. Und als wir uns dann auch noch getrennt haben, ist für mich eine Welt zusammengebrochen", erzählt er leise. Wieder schießen Tränen in seine Augen. Schon krass, wie tief der Schmerz nach all den Jahren bei uns beiden noch sitzt.
"Für mich auch. Ich habe dich so doll vermisst und gleichzeitig wusste ich, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Ich habe deine schlechtesten Seiten zum Vorschein gebracht und du meine. Wir mussten die Reißleine ziehen, wir haben uns nicht gut getan."
Vito nickt zustimmend. "Es war das Beste, was wir damals tun konnten. Aber du hast keine Ahnung, wie oft ich deine Nummer gewählt und doch nicht angerufen habe, oder wie viele Nachrichten ich dir geschrieben habe, die ich nicht abgeschickt habe. Und ganz aus den Augen lassen konnte ich dich nie, ich folge dir bis heute bei Instagram." Er grinst schief.
"Nicht dein Ernst? Ich habe dich doch überall blockiert."
"Ich habe noch ein anonymes Profil, mit dem folge ich dir", räumt er ein.
"Ich habe Valerio manchmal geschrieben", gestehe ich. "Meinem kleinen Bruder?" Ich nicke verlegen. "Hat der mir nie erzählt, der kleine Verräter."
"Hat er mir auch versprochen", ich zucke mit den Schultern. "Wir haben uns alle paar Monate mal geupdatet, was in unseren Leben so abgeht, und er hat mir gesagt, dass es dir gut geht, ohne dass ich fragen musste. War so ein unausgesprochener Deal zwischen uns."
Ungläubig schüttelt er den Kopf. "Hätte er mal was erwähnt, hätte ich mich bei dir gemeldet." Ich muss lachen. Plötzlich wirken die letzten Tage wie eine klischeehafte Tragikomödie. "Und dann fliegst du nichts ahnend mit deinen besten Freunden in den Urlaub, und da stehe ich."
"Ich habe gedacht, ich halluziniere", lacht er nun auch.
"Ich dachte, das wird ein Alptraum. Ich war der festen Überzeugung, dass wir uns zehn Tage lang zerfleischen werden, wie die Wölfe und dass nur einer von uns den Rückflug nach Deutschland antritt."
"Wir waren auch auf dem besten Weg dahin. Du hast schon gut Gas gegeben, um mir das Leben zu erschweren", grinst er.
"Ich weiß", antworte ich zerknirscht. "Ich habe mich die ersten Tage wirklich wie eine Hexe aufgeführt. Da war so viel Wut und Hass in mir aufgestaut."
"Und jetzt?" Vito sieht mir tief in die Augen. So tief, dass mein Bauch kribbelt und mein Herz etwas schneller schlägt.
"Jetzt betrachte ich es als Schicksal, dass wir beide zusammen hier gelandet sind. Ich fühle mich, als hätte ich eine Therapie gemacht. Unsere ehrlichen Gespräche, Antworten auf meine offenen Fragen, dein Verständnis und dich zu verstehen, das hat mir so geholfen. Die Wut in mir ist verraucht. Ich bin mittlerweile nur noch traurig, wie das alles gelaufen ist."
Vito betrachtet mich eine Weile still, als würden meine Worte in ihm nachhallen. "Mir hat das auch geholfen, aber darf ich ehrlich zu dir sein?"
Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich bekomme es plötzlich mit der Angst zu tun. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Zögerlich nicke ich.
"Ich möchte nicht, dass wir uns nach dem Urlaub wieder aus den Augen verlieren."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top