DAY 6 /2

Ich schnappe verzweifelt nach Luft, keuche und huste, während Vito mich weiterhin so festhält, als hinge mein Leben davon ab. Meine Haare kleben an meinem Gesicht, meine Augen brennen vom Salzwasser, und ich kann kaum etwas sehen. Die Stimmen um mich herum und das Gelächter der anderen dringen nur gedämpft an mein Ohr. Sie scheinen weit weg, als wäre ich in einer anderen Welt, einer, die nur aus Angst und kaltem Wasser besteht.

Vito blickt mich an und ich sehe den Ernst und die Sorge in seinen Augen, aber auch die Erleichterung, dass er es geschafft hat, mich hochzuziehen.

Kaum haben wir die Wasseroberfläche durchbrochen, überrollt mich die Panik wie eine unaufhaltsame Welle. Mein Herz rast, und meine Atmung geht flach und hektisch. Ich beginne zu hyperventilieren, meine Brust schmerzt vor Angst, und mein ganzer Körper zittert unkontrolliert. Tränen schießen mir in die Augen, und ein hysterisches Schluchzen bricht aus mir heraus. Es fühlt sich an, als würde die Panik mich erdrücken.

Vito spürt sofort, was mit mir los ist. Ohne zu zögern, zieht er mich noch fester an sich, hält mich so eng, als würde er mich vor der ganzen Welt schützen wollen. "Alles ist gut, Yuna, ich hab dich, es ist alles gut", flüstert er immer wieder in mein Ohr, doch die Panik lässt sich nicht so leicht vertreiben.

Mit kraftvollen Zügen schwimmt Vito mit mir zur Leiter des Katamarans uns schwingt sich hoch. Meine Arme hängen schlaff an seinen Schultern, und ich kann nichts anderes tun, als heftig schluchzend an seiner Brust zu liegen, während er sich mit mir nach oben kämpft, mit einer Leichtigkeit, als würde ich nichts wiegen. Jeder Schritt, den er macht, lässt das Wasser um uns herum abtropfen, und langsam entfernt sich die bedrohliche Weite des Meeres von meinem schmalen Körper.

Aus der Ferne höre ich Asya schreien. "Yuna! Yuna, alles in Ordnung?" Auch Ninos Stimme mischt sich ein, aber die Worte dringen nicht wirklich zu mir durch. Alles ist ein einziger Nebel, ich spüre nur die Angst.

Panisch atme ich ein und aus, hektisch und flach. Vito streichelt meinen Rücken und sieht mir plötzlich tief in die Augen. "Alles ist gut, Daisy", flüstert er.

Mein rasendes Herz setzt einen Schlag aus und würde ich nicht eh schon heulen, würde ich jetzt damit anfangen.

Daisy. Mich hat seit fünf Jahren niemand mehr so genannt. Es war nur sein spezieller Kosename für mich. "Weil du genau so einen großen Schnabel hast wie Daisy Duck, und genau so viel meckerst..  und weil du schön bist wie ein Gänseblümchen", hat er mir damals erklärt.

Ein Wort, zwei Silben, fünf Buchstaben, die dafür sorgen, dass ich mich mit einem Schlag sicherer fühle.

Oben auf dem Katamaran angekommen, trägt Vito mich zu unserem Platz und greift nach seinem großen, weichen Handtuch. Er wickelt es schützend um meinen zitternden Körper, während er mich weiter an sich drückt. Ich spüre, wie seine Wärme langsam durch das Handtuch dringt, und versucht, die Kälte und die Panik zu vertreiben.

"Du bist in Sicherheit, Yuna. Alles ist gut, ich bin hier", spricht er ruhig und beständig auf mich ein. Seine Stimme ist fest, aber sanft, und obwohl ich weiterhin heule und kaum atmen kann, ist sie wie ein Anker, der mich langsam zurück in die Realität holt.

Tränen strömen über mein Gesicht, mein ganzer Körper fühlt sich schwach und erschöpft an. Vito lässt mich nicht los. Er hält mich fest, wiegt mich leicht hin und her, als wäre ich ein Kind, das getröstet werden muss. Langsam, ganz langsam, beginnen die Wogen der Panik sich zu glätten, und ich spüre, wie sich mein Atem beruhigt.

Von der Seite stürzt Asya auf uns zu und fasst an meine Schulter. "Oh Gott, was ist mir ihr passiert, Vito?"

"So ein Vollidiot hat sie einfach ins Wasser geschmissen", knurrt er wütend. Der Unterton in seiner Stimme zeigt mir deutlich, dass er mit dem Jungen noch nicht fertig ist.

Meine Freundin streichelt über meinen Rücken, ihre langen Nägel kratzen sanft über meine Haut. "Kann Yuna nicht schwimmen?", fragt sie Vito überrascht.

"Doch", antwortet er nüchtern. Sein Griff um meinen Körper verstärkt sich, als würde er den Zusammenhalt zwischen uns symbolisieren. "Sie hat sich einfach total erschrocken."

Vito bleibt bei mir, bis die Welt um mich herum wieder Gestalt annimmt und die kalte Umarmung des Meeres nur noch eine schreckliche Erinnerung ist. Mein Atem reguliert sich, mein Körper fährt runter und zittert nicht mehr. Mein Herzschlag normalisiert sich. Vito löst langsam seinen festen Griff um meine Körpermitte und setzt mich behutsam auf einer der Sitzgelegenheiten ab.

Ich ziehe das Handtuch schützend enger um mich und sehe ihn aus großen Augen an. Er geht leicht in die Knie, legt seine großen Hände an meine Wangen und erwidert meinen tiefen Blick. "Wie geht es dir?", fragt er einfühlsam.

"Es ging mir schon besser, aber langsam komme ich wieder klar", antworte ich ehrlich. "Danke Vito, du hast mich gerettet", stelle ich fest und beiße mir auf die Unterlippe. "Ich dachte wirklich, ich schaffe es niemals zurück an die Oberfläche. Ich konnte mich nicht bewegen, ich habe die Orientierung verloren. Ich dachte, ich ertrinke, verdammt, ich hatte solche Angst", stammele ich schluchzend.

"Alles gut", antwortet er bescheiden.

Ich schüttele vehement den Kopf. "Ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gutmachen soll."

Vito legt seine Hand auf meine und sieht mich ernst an. Das grünliche Grau seiner Augen ist plötzlich so intensiv, dass es mir beinahe die Sprache verschlägt. Seine Hand löst ein Kribbeln auf meiner Haut aus, eine Nähe, die meinen ganzen Körper einnimmt. "Du bist mir nichts schuldig", stellt er mit seiner rauen Stimme klar.

Kurz streicht er mir mit seinen Daumen über die Wange, und betrachtet mich schweigend, dann drückt er sich hoch. "Magst du rüber zu den anderen gehen?" Ich nicke zaghaft.

Langsam und mit zittrigen Beinen gehen wir zusammen zu unseren Freunden. Die Erschöpfung und die letzten Reste meiner Panik hängen noch an mir, wie ein schwerer Mantel.

Nino holt mir eine Cola und reicht sie mir mit einem sanften Lächeln. Ich nehme sie dankend entgegen und versuche, halbherzig zu scherzen: "Dass du mir eine Cola bringst, ist schon fast eine Frechheit." Er erwidert mein Lächeln schwach.

Die anderen liegen in den Netzen, richten sich zum Teil auf, um mich zu betrachten, als ich mich an den Rand setze. Fünf Augenpaare starren mich mit einer Mischung aus Sorge und Neugier an.

"Was war denn los?", fragt Asya, ihre Stimme sanft, aber auch drängend. Pepes Gesicht verdunkelt sich, als wäre er bereit, jeden Moment loszustürmen. „Welcher Pisser war das überhaupt?", fragt er und ich bin überrascht von seinem Tonfall – so kenne ich ihn gar nicht.

Ich seufze tief und spüre die Cola-Dose kühl in meiner Hand, als ich den Griff verstärke. "Leute, ich muss euch was beichten", beginne ich zögernd, meine Stimme noch immer ein wenig heiser. "Ich rede eigentlich nicht darüber, weil es ein dunkler Fleck auf meiner Seele ist, aber.. ich leide an Thalassophobie."

Ich sehe in fragende, ratlose Gesichter. "Ich habe panische Angst vor Wasser, bei dem ich den Grund nicht sehen kann", erkläre ich leise. "Mein größter Trigger ist das offene Meer. Pools sind kein Problem, bei Flüssen und Seen ist es unterschiedlich – nur wenn sie ganz ruhig und flach sind, kann ich rein. Aber das Meer ist schier unendlich tief, unruhig, unergründlich, unkontrollierbar, gefährlich. Ich könnte niemals einfach so ins Meer gehen. Sobald ich das Wasser berühre, bekomme ich eine Panikattacke und kann mich nicht mehr bewegen." Ich senke den Blick, schäme mich ein wenig. "Es tut mir leid, dass ich euch das verheimlicht habe. Mir war das einfach unangenehm."

Alle reagieren mitfühlend, ihre Augen spiegeln Verständnis wider. "Du brauchst dich nicht schlecht fühlen, Süße", erklärt Asya sofort und greift aufmunternd nach meiner Hand. "Das ist nichts, wofür du dich schämen musst."

"Nein, wirklich nicht", pflichtet Nino ihr bei. "Das ist überhaupt nicht schlimm."

"Wo kommt das denn her?", fragt Kayla und legt den Kopf schief. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

"Hast du eine schlechte Erfahrung gemacht?", hakt Sean nach.

Ich spiele unsicher an dem goldenen Ring herum, der meinen Ringfinger ziert. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Vito sich versteift und hart schluckt.

"Es gab ein traumatisches Erlebnis in meinem Leben, das diese Angststörung ausgelöst hat", druckse ich herum, unsicher, wie viel ich preisgeben soll, schließlich betrifft die Ursache nicht nur mich. "Es hat gar nichts mit Wasser zu tun, aber es war ein schlimmer Kontrollverlust, und seitdem habe diese Phobie."

Kayla sieht mich plötzlich an, als hätte sie einen Geistesblitz. "Deshalb warst du nie mit uns im Meer, und gestern am Wasserfall auch nur am Rand im Wasser",  sagt sie, mehr zu sich selbst, als zu mir. "Und deshalb wolltest du auch kein Parasailing machen. Und Vito wusste von deiner Angststörung, deshalb ist er immer bei dir geblieben."

Ich nicke zustimmend. "Ja, Vito wusste davon, darum hat er mich auch aus dem Wasser gezogen."

Vitos Augen lassen mich nicht los. In ihnen liegt eine Mischung aus Fürsorge und Beschützerinstinkt, selbst nach all den Jahren noch.

Vito schaut mich noch einen Moment lang an, bevor er schließlich den Blick abwendet und tief durchatmet. Er zögert, bevor er spricht, als würde er nach den richtigen Worten suchen. "Yuna und ich haben früher oft darüber gesprochen, auch wenn ich das nicht richtig verstanden habe und ihr deshalb keine große Hilfe war", sagt er dann ruhig, seine Stimme warm und zugleich schuldbewusst.

Ein tiefer, verdrängter Schmerz durchzuckt mein Herz bei seinen Worten, und ich spüre die Bedeutung dahinter, die er nicht ausspricht. Es geht nicht nur um meine Angst vorm Meer. Es geht um was anderes.

Asya sieht zwischen uns hin und her, als würde sie etwas Unausgesprochenes spüren, das in der Luft hängt. "Ich denke, du hast dein Bestes gegeben, auch wenn das manchmal nicht reicht", sagt sie sanft.

Vito zuckt mit den Schultern, in seinen Augen liegt ein undefinierbarer Ausdruck. Asya scheint unwissentlich einen Punkt bei ihm getroffen zu haben. Seine Augen schimmern.

"Okay, Leute, wir fahren weiter und dann gibt es gleich Tapas für alle!", verkündet Diego laut rufend und reißt uns aus der Melancholie.

Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel den Jungen, der mich ins Wasser geworfen hat, wie er lachend auf uns zukommt. In seiner Körpersprache liegt eine unbeschwerte Arroganz, als hätte er nicht im Geringsten realisiert, was er mit mir gemacht hat. Bevor ich überhaupt reagieren kann, spüre ich, wie Vito sich neben mir anspannt.

Er springt auf, sein Gesicht verfinstert sich vor Wut, und ohne ein Wort rennt er auf den Jungen zu. "Was zur Hölle denkst du dir eigentlich?", brüllt er und packt den Kerl an den Oberarmen. "Weißt du überhaupt, was du getan hast?"

Der Junge sieht ihn aus erschrocken aufgerissenen Augen an und wird ganz blass um die Nase. "Ich wollte doch nur Spaß machen", beteuert er, sein selbstgefälliges Grinsen verfliegt in Sekundenbruchteilen.

Vito wirkt so bedrohlich und autoritär, dass der Junge mir beinahe leid tut. Vitos Kiefermuskeln arbeiten, und ich sehe, wie seine Finger sich noch fester um die Arme des Jungen schließen. "Spaß? Dieses übergriffige Verhalten nennst du Spaß?" Seine Stimme ist vor Wut kaum zu erkennen, tief und bedrohlich. "Du hast keine Ahnung, was du da angerichtet hast!"

Ich springe auf und eile zu ihnen hinüber, mein Herz schlägt wild in meiner Brust. "Vito", spreche ich ihn an und lege meine Hand sanft auf seinen Arm.

Sein Gegenüber blinzelt mich verunsichert an. "Es tut mir leid, ich habe das nicht böse gemeint", erklärt er kleinlaut. Ich nicke nur.

Doch Vito lässt nicht locker, seine Augen sprühen förmlich vor Zorn. Er lacht bitter, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. "So eine mickrige Entschuldigung reicht bei Weitem nicht!"

"Vito, hör auf!" Ich lege beide Hände auf seine Brust und versuche, ihn zurückzuziehen. "Bitte, es ist in Ordnung. Ich bin okay. Lass es gut sein."

Für einen Moment starrt Vito sein Feindbild ausdruckslos an, doch dann lässt er ihn los. "Mach sowas nie wieder", zischt er bedrohlich.

Der Junge nickt hastig, seine Augen geweitet vor Angst, und stolpert rückwärts, bevor er sich eilig entfernt.

Ich spüre, wie Vitos Herz unter meinen Händen noch immer heftig schlägt, seine Brust hebt und senkt sich schnell.

Schließlich lässt er sich von mir wegziehen, seine Augen noch immer auf den Jungen gerichtet, der inzwischen außer Sichtweite ist. "Das hätte auch ganz anders enden können", murmelt er, bevor er schließlich seinen Blick auf mich richtet. "Ich wollte nur nicht, dass dir irgendwas passiert."

"Ich weiß", antworte ich leise und streiche beruhigend über seine Brust. Ich spüre die harten Muskeln unter meinen Fingern, noch immer vor Anspannung verkrampft. Je länger meine Fingerspitzen zarte Kreise auf seiner weichen Haut ziehen, desto mehr entspannt er sich.

Er atmet tief ein und aus, dann streicht er sich mit einer Hand durch die feuchten Haare. Feine Tropfen lösen sich, ein paar von ihnen benetzen mein Gesicht.

Plötzlich legt Vito seinen Arm um meine nackten Schultern und zieht mich an sich. Er presst mich gegen seine Brust, dann drückt er mir einen Kuss auf den Scheitel und gibt mich wieder frei. "Tut mir leid", nuschelt er. "Alles gut." Ich schenke ihm ein ehrliches Lächeln, während mein Bauch wie verrückt kribbelt.

Sein spontaner Impuls, meine Nähe zu suchen, hat mich fast dahinschmelzen lassen. Heute fühlt es sich ein bisschen zu gut an, in Vitos Nähe zu sein. Ich muss das dringend wieder abstellen, schließlich neigt der Urlaub sich langsam den Ende und damit auch unsere gemeinsame Zeit.

Nicht, dass ich mich noch zu sehr an ihn gewöhne.

Erst jetzt bemerke ich, dass das Schiff steht. Mitten auf dem Meer, wenn auch in Küstennähe, hat der riesige Katamaran geankert und wippt nun sanft mit den Wellen auf und ab.

Pepe tritt zwischen uns und legt uns beiden einen Arm um die Schultern. "Es gibt jetzt Essen. Kommt ihr mit?" Ich nicke zaghaft, dann folgen wir ihm.

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