11. Kapitel: Inventarinspektion
Obwohl meine Gefühle verletzt und ich zutiefst verängstigt war, schaffte ich es aufzuspringen und in die hinterste Ecke der Baumhöhle zurückzuweichen, wo ich mich mit klopfendem Herzen zusammenkauerte.
Alles war Taghell erleuchtet und ich konnte seltsame und dennoch filigrane Stukkaturen erkennen, die in die glatte Bauminnenseite geritzt waren. Flynn blieb seelenruhig vor der Öffnung sitzen und war nur noch als schattenhafter Umriss zu erahnen- bis das grelle Scheinwerferleuchten urplötzlich abklang und einem angenehmen bläulichen Licht wich, das wie eine stärkere Version des Mondscheins wirkte.
Vorsichtig spähte ich zu der Öffnung hinüber, die inzwischen freigelegt war und blickte in ein Paar riesiger Katzenaugen, die das Licht abgaben. Entsetzt schnappte ich nach Luft, da ich sofort an den Katzenschädel über der Rattenhöhle denken musste. Der Kopf dieser Katze hatte ähnliche Ausmaße.
Ich war wie gelähmt. Sogar damals, unter dem Riesenfliegenpilz habe ich mich beweglicher gefühlt... Damals? Das ist ja erst knapp zwei Tage her. Und immer noch keine Aussicht auf Rettung. Ich möchte doch nur wieder zu meinen Eltern zurück! Doch sind das wirklich noch meine Eltern? Ich habe nichts mehr mit der alten Judeth zu tun. Rein gar nichts. Und ich werde mich auch nicht in irgendeine Rolle zwängen, nur um jemanden davon zu überzeugen, ich wäre noch die Alte. Das stimmt schon lange nicht mehr. Ich bin die Auserwählte. So hatte es Jade ausformuliert, dem ich ja angeblich nicht trauen sollte. Doch dieser Titel gefällt mir. Er ist etwas besonderes. Und ich werde es jedem beweisen, der dies infrage stellt.
Ich merkte gar nicht, wie Flynn mich mithilfe seines Näschen inrichtung der Katze drängte, wie dieser daraufhin auf den Rücken kletterte, mich an ihr extrem dichtes, weiches, langes und nach Milch duftendes Nackenfell kuschelte und schließlich einnickte.
Die Katze trug mich auf ihrem Rücken, während sie von Baum zu Baum sprang. Sie war etwa doppelt so groß wie die feuerrote Schnecke vom Vortag, aber dennoch um einiges kleiner als ihr Jäger: Der Himmelvogel, wie ich ihn getauft hatte. Mein Transportmittel sprang von Baumwipfel zu Baumwipfel, wobei das flatternde, strahlend weiße Fell den Urwald unter sich wie ein Stern gleißend hell beleuchtete. Die sehnigen Muskeln des Katzentiers spannten sich in einem konstanten Rythmus spielerisch an und federten uns dann meterweit. Es fühlte sich wie Fliegen an... Nur besser. Fast hätte ich sogar gejuchtzt, doch Flynn, der hinter mir kauerte, erinnerte mich durch seine bloße Präsenz daran, dass ich nicht freiwillig hier war.
Als die Sonne einige Stunden später leuchtend Rot hinter dem Gebirge hervorbrach, bemerkte ich, wie nah wir diesem waren. Der dichte und beängstigende Dschungel wich hier der majästetischen Erscheinung der Berge, von denen sich drei besonders hervortaten. Ganz in der Ferne, das Gebirge musste hunderte Kilometer lang und breit sein, erhob sich ein GIGANTISCHER Berg, der sogar die bisherigen Maße der Mammutbäume in seinen Schatten stellte. Er war so groß, dass seine Spitze in der Wolkendecke des Himmels verschwand, der sich sogar vom Rücken der Katze in endloser Ferne zu befinden schien.
Der zweite Berg war offensichtlich ein Vulkan, denn sein Gipfel war blutrot und spie tiefschwarze Rauchwolken aus, während sich kleine Äderchen aus Lava ihren Weg nach unten bahnten. Dennoch war auch dieser Berg imposant und die Lavaäderchen waren wahrscheinlcih so groß wie der Tropenfluss, durch den die Pappergirl geschwommen war, ehe sie verschwand. Ich vermisste sie- sogar mehr als Jade, da sie ein Stück meiner Vergangenheit war, die ich so verzweifelt zurückerlangen wollte. Ich bereute es, die Karte und das Buch, welche ich in der Truhe an Bord gefunden hatte, nicht angesehen zu haben. Nein, stattdessen schlafe ich...Toll.
Plötzlich ging mir ein Gedanke auf: Vielleicht hatte ich beides irgendwie in meinen Rucksack gesteckt?! Nervös begann ich meinem Rucksack von meiner Schulter zu zerren, den ich bisher auch noch nicht inspiziert hatte. Dabei stieß ich Flynn an, der zurückzuckte, als dächte er, ich wollte ihn mit dem Rucksack erschlagen.
Doch ich schenkte ihm keine Beachtung und öffnete die beiden Schnallen, die ihn mithilfe von Lederbändern verschlossen und begann in ihm zu kramen. Ich ertastete einige Dinge, die ich nicht identifizieren konnte: Etwas längliches glattes, dass sich wie ein Zeigestab anfühlte und eine seltsame Wärme ausstrahlte, etwas kühles, elegant geformtes, dass eine Glasphiole hätte sein können, etwas weiches, alles umgebendes, was ich als Decke identifizierte, etwas kühles, kleines schweres, das ein ziemlich unhandlicher Spitzer hätte sein können und...
Ich ertastete etwas nasses, glitschiges und zuckte zusammen. Eine graue Erinnerung an eine Banane, die ich in die Schule mitgenommen hatte und die unter meinen Schulbüchern zerquetscht und zu einer schleimigen Pampe geworden war. So fühlte sich das an. Nur, dass der Schleim sich zu bewegen schien. Ich kiekste auf, und Flynn zuckte noch weiter zurück. Dann merkte ich, dass es immer mehr Schleim zu werden schien, der meine Hand umschloss und immer weiter stieg. Entsetzt zog ich meine Hand hinaus und blickte in die Tasche.
Obwohl die Sonne bereits so weit hinter den Bergen emporgestiegen war, dass sich ein wunderschönes Farbspektrum, bestehend aus Rot, Rosa, Türkis, Hellblau, Gelb und Orange versammelt hatte, starrte mir aus der Tasche tiefste Schwärze entgegen, die alles Licht aufzusaugen und zu eliminieren schien. Ich sah gar nichts. Wie so oft seufzte ich resigniert und blickte auf meine Hand, die sauber, trocken und völlig normal schien, ehe ich den Kopf langsam schüttelte.
Dann versuchte ich es nochmal. Diesmal schien die Tasche auf einmal nur mit etwas watteartigem gefüllt zu sein, das sich rasch verflüchtete. Nun spürte ich etwas ledriges, kantiges, verschlissenes und altes an meiner Hand und zog es schnell aus der Tasche, ehe sie verschwinden konnte: Es war das alte Buch. Mein Puls begann sich zu beschleunigen. Ich griff erneut in das Innenleben meiner ausergewöhnlichen Tasche und ertastete etwas trockenes, wachsiges und zusammengerolltes und zog es ebenfalls hastig hervor.
Nun lagen die mit rotem Seidenband zugebundene, vergilbte Karte und das mit zahlreichen Leder- und sonstigen Schnüren umwickelte Buch vor mir. Beide Schriftstücke sahen sehr alt aus und ich beschloss sie vorest noch nicht zu lesen, da mir Flynn schon die ganze Zeit neugierig über die Schulter spähte, auf die er sein Kinn abgelegt hatte und kitzelte mit den Schnurrhaaren unbeabsichtigt meine Wange. Doch er schien dies nicht bemerkt zu haben.
"Buh.", er schreckte zurück und senkte beschämt den Blick. "Du bist sauer auf mich, stimmts?", ich nickte langsam und griff unauffällig in den Rucksack. "Es tut mir Leid, Judy! Ich hatte keine andere Chance gesehen und...", ich hob die freie Hand und legte sie ihm auf die Schnauze. "Schh. Dank dir habe ich bis heute überlebt. Was du mit mir vorhast, wird mir also hoffentlich nicht schaden. Ich vertraue dir. Und wenn ich dir damit helfen kann..", ich zog den Karton mit Donuts hervor, den ich irgendwie in meine Tasche gezaubert hatte und stopfte ihm einen in dem Mund. "...möchte ich keine Entschuldigung hören.", in seinen Augen begannen Tränen zu glänzen, als ich ihm auf dem Rücken einer Riesenkatze, flankeirt von Dschungel und Gebirge, die beide von der Morgensonne beschienen wurden, seinen Verrat verzieh.
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