•48 || „Ich hätte es merken müssen."•
Kapitel 48
„Ich hätte es merken müssen.“
Wir trainierten. Übten die Schlagmuster und Verteidigungstechniken. Tag für Tag gelang es mir besser, Liam abzuwehren. Ich wusste, dass er nicht seine ganze Kraft einsetzte, aber jedes Mal, wenn ich einen seiner Schläge abwehren konnte, wurde ich ein klein wenig selbstbewusster in dem was ich tat.
Heute waren wir einige Kilometer durch den Wald gewandert. Liam trug einen großen Rucksack auf dem Rücken, Niall und ich kleinere, in denen Verpflegung lagerten. Trinken und Kuchen, den der Ire unbedingt mithaben wollte. Immerhin backe er ja nicht umsonst. Liam war von der Idee zwar eher weniger begeistert gewesen, aber Niall war stur und wusste, wie er sich durchsetzen konnte.
Nun waren wir schon seit fast vier Stunden auf einer großen Lichtung weit ab des Dorfes und übten uns daran, mit einer Waffe umzugehen. Dass ich einmal eine Pistole in den Händen halten würde, hätte ich niemals gedacht. Tja, nun stand ich hier und versuchte, die Dosen zu treffen, die Liam auf einem Ast aufgestellt hatte.
Das Anvisieren an sich war schon nicht einfach. Liam zeigte mir zwar einen Trick, aber es fiel mir trotzdem schwer. Als aber auch noch der Rückstoß der Waffe hinzukam, den ich maßlos unterschätzt hatte, weshalb mir der Griff fast aus den Fingern rutschte, hob ich die Hände und reichte Liam die Pistole. »Ich brauche eine Pause«, verkündete ich und rieb mir das Handgelenk, das nun ein wenig schmerzte, während ich mich auf einen der Steine setzte, die am Rande der Lichtung lagen.
Niall reichte mir eine Flasche Wasser, bevor er mir ein kleines Lächeln zuwarf und zu Liam ging. Seufzend lehnte ich mich gegen den Stein in meinem Rücken, legte den Kopf gegen die raue Oberfläche und schaute hinauf in den Himmel. Kleine bauschige Wolken zogen weit verteilt über die endlosen, blauen Weiten. Die Sonne stand hoch, blendete mich ein wenig, doch ich schloss einfach die Augen und genoss das warme Gefühl auf meiner Haut.
Dieses wurde jedoch beinahe augenblicklich von den dunklen Gedanken, die sich in meinem Kopf wie eine bedrohliche Sturmwolke aufbäumten, getrübt. Wann immer ich glaubte, einen Moment Ruhe zu haben und mir keine Gedanken zu machen, straften sie mich Lügen. Es war egal, wo ich war oder was ich tat, sobald ich nicht genügend abgelenkt war, brodelten die Sorgen in mir hoch.
Ich konnte nichts gegen die abertausenden Szenarien tun, die sich jedes Mal vor meinem inneren Auge abspielten, außer irgendetwas zu unternehmen. Doch es gab immer Momente, in denen man nichts zu tun hatte. Die letzten Tage half ich Niall viel im Garten, erntete Obst und Gemüse, mähte den Rasen und fütterte die Hühner. Aber kaum, dass ich mich hinsetzte, um durchzuatmen, weil mir die Hitze Italiens noch immer den Schweiß auf die Stirn trieb, kam ich nicht drum herum, mir Sorgen zu machen.
Die Ungewissheit und das Warten darauf, dass Liam uns beibrachte, was wir zu wissen brauchten, um endlich los zu können, machte mich fertig. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich Harry sofort zu mir freiwünschen. Oder jedenfalls wissen wollen, ob es ihm gut ging.
Nachts hielten mich meine Gedanken wach. Ich wälzte mich in den Laken herum, fand keine Position, in der ich zur Ruhe kommen konnte.
Meine Stimmung war getrübt, als ich die Augen öffnete. Und was ich sah, ließ mein Herz sich noch weiter zusammenziehen, bis es nur noch die Größe einer verschrumpelten Erdbeere hatte. Liam und Niall standen dort mitten in der Lichtung, hielten einander in den Armen und knutschten. Ich wandte den Blick ab. Es war nicht so, dass ich ihnen ihr Glück nicht gönnte. Es war wundervoll, dass sie sich gefunden hatten und selbst zueinander standen, wenn es mal nicht so einfach war. Aber trotzdem schmerzte mich der Anblick.
Immerhin hatte ich momentan niemanden, dem ich meine Zuneigung gegenüber ausdrücken konnte. Die einzige Person, die ich in den Armen halten und küssen wollte, war entführt worden und litt gerade möglicherweise Höllenqualen.
Ich schüttelte den Kopf. Statt immer von dem Schlimmsten auszugehen, sollte ich mich darauf konzentrieren, die Techniken zu üben, die Liam mir gezeigt hatte. Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und meine Gedanken mich quälten, ging ich in einem von Harrys Pullovern und einer Jogginghose nach draußen und übte im Schein des Mondes. Oft die ganze Nacht, weshalb Liam oder Niall mich oft morgens im Gras liegend auffanden, den Blick in den Himmel gerichtet. Manchmal, wenn ich zu erschöpft war, lag ich die ganze Nacht über einfach nur da, versuchte die Sterne zu zählen oder sah den Mond an in der naiven Hoffnung, dass Harry vielleicht auch gerade zum Mond hinaufblickte.
In diesen Momenten, in denen ich nicht einmal merkte, dass der Tau meine Kleidung befeuchtete, war mein Kopf wie leergefegt. In diesen Momenten stellte ich mir vor, dass Harry neben mir im taufeuchten Gras lag, die Augen geschlossen und seine Finger mit meinen verschlungen.
Die Vorstellung war so real, dass ich ihn vor mir sah, wenn ich die Augen öffnete. Grüne Augen, die sanft und voller Liebe in meine blickten. Grüne Augen, die mir Sicherheit und Kraft gaben, mich zu Hause fühlen ließen.
Doch wenn ich blinzelte, waren sie wieder verschwunden. Nur eine Illusion, hervorgerufen von meinem schmerzenden Herzen. Sobald er verschwunden war, wie Rauch vom sanften Wind hinfort getragen wurde, schlug mir die Realität mit voller Wucht ins Gesicht. Jedes Mal kamen die Sorgen wie eine riesige Welle auf mich zu und brachen über mir zusammen. Unbarmherzig und gemein lachend, als wollten sie mich bewusst quälen.
Eine Träne kullerte über meine Wange. Schnell wischte ich sie weg und öffnete meine Augen. Niall und Liam standen nach wie vor in der Mitte der Lichtung, doch dieses Mal hielt Niall die Waffe in den Händen. Den Lauf auf den Boden gerichtet wartete er darauf, dass sein Mann die Dosen, die wir zum Üben unserer Zielgenauigkeit mitgebracht hatten, wieder aufstellte.
Dass Niall bereits einige Male geschossen hatte, hatte ich gar nicht mitbekommen, so tief war ich in meinen Gedanken versunken. Ich drehte den Deckel der Wasserflasche auf. Gierig trank ich einige Schlucke und beobachtete Niall dabei, wie er die Waffe hob, als Liam zurück bei ihm war, und eine der Dosen anvisierte.
Der ohrenbetäubende Knall, der folgte, nachdem Nialls Zeigefinger den Trigger zurückgezogen hatte, ließ mich zusammenzucken und einen Schwarm Vögel aus den Bäumen in der Umgebung fliehen. Ich würde mich nie an die Gewalt gewöhnen, die mit den Schüssen einherging.
Niall schoss noch einige Male, bis Liam mich wieder zu sich winkte. Ich stand auf und ging zu ihnen herüber. »Okay, das sieht schonmal gar nicht so schlecht aus«, sagte er und nahm Niall die Waffe aus der Hand. »Aber es ist wichtig, dass ihr die Ellenbogen durchstreckt und euren Rumpf anspannt, damit der Rückstoß euch nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Hier, Louis. Versuch du es noch einmal.«
Nickend nahm ich die Waffe entgegen, achtete darauf, den Lauf nicht auf die beiden zu richten, und stellte mich in Position. Wie Liam gesagt hatte, streckte ich die Ellenbogen durch und spannte meine Bauchmuskeln an, als ich schoss. Dieses Mal haute mich der Rückstoß nicht um. Erstaunt ließ ich die Waffe sinken, deren Lauf mittlerweile leicht rauchte, wenn man schoss, und sah Liam grinsend an.
Der nickte und deutete auf die anderen Dosen. »Sehr gut, gleich nochmal.« Wieder hob ich die Waffe und schoss gleich dreimal hintereinander. Zwei von drei anvisierten Dosen fielen von dem Ast, auf dem sie standen, und landeten klappernd auf dem Boden. Anschließend reichte ich die Pistole an Niall weiter, während Liam die Dosen aufstellte und dann schnell wieder zu uns zurückkam, als er seinen Mann mit der Waffe in den Händen sah.
Auch Niall schaffte es, nicht durch den Rückstoß nach hinten treten zu müssen. »Warum hast du nicht gleich gesagt, dass es so besser geht?«, fragte er Liam grinsend und stupste ihn mit dem Ellenbogen an. Der griff nach seiner Pistole, die Niall bei der Bewegung herumwedelte.
»Weil es mir erstmal darum ging, dass ihr das Zielen übt«, brummte er und sah Niall bedeutungsschwer an. Mit einem Wink zur Waffe, verstand der Ire und formte seine Lippen zu einem stummen „Oh“. »Ich denke, das reicht für heute. Morgen geht’s weiter.«
Ich nickte und sammelte die Dosen zusammen, die mittlerweile ziemlich durchschossen waren. »Die entsorgen wir nachher«, kam es von Liam, der sich zu mir gesellte, um das Gestell aus Ästen abzubauen.
Stumm blickte ich ans andere Ende der Lichtung. Die hohen Bäume mit ihren dichten Blätterdächern ließen nur hier und da einige Sonnenstrahlen bis auf den Erdboden kommen. Die Insekten, die herumflogen, leuchteten immer kurz auf, wenn sie durch einen Lichtstrahlt hindurchflogen. Ein Anblick wie aus dem Märchenbuch. Verwunschen und ruhig.
»Alles okay bei dir?« Liam tippte mir mit einem kleinen Stock auf die Schulter und riss mich somit aus meinen Gedanken.
Ich wandte mich ihm zu und seufzte. »Ich wünschte, das wäre es.«
»Ich habe dich heute Nacht draußen im Garten gesehen.«
Die Augen für einen Moment geschlossen, fuhr ich mir durch die Haare. »Ich kann nicht schlafen, Liam«, sagte ich leise und fing seinen besorgten Blick auf. »Wann immer ich versuche, die Augen zu zumachen, sehe ich vor mir, wie Harry gequält wird und ich kann nichts dagegen tun. Ich versuche, mich abzulenken. Irgendwie, aber das funktioniert auch eher weniger als mehr.«
Müde ließ ich die Schultern hängen und warf die Dosen in einen der Rucksäcke, die offen auf den Steinen lagen. Eine fiel daneben. Augenrollend hob ich sie auf und legte sie zu den anderen, bevor ich den Reißverschluss zu zog. Ich gab Liam den Rucksack, den er sich gleich über die Schultern warf. Ich nahm meinen in die Hand und folgte ihm. Niall war schon einige Meter im Wald verschwunden, weshalb wir ihm schnellen Schrittes folgten.
»Ich mache mir auch Sorgen«, antwortete Liam nach einigen Minuten. Sein Blick lag auf Niall, der fröhlich hüpfend zwischen den Bäumen entlanglief und unbeschwert Lieder vor sich hin pfiff. »Ich weiß, dass es andere Sorgen sind, als deine, schließlich ist Harry dein Freund, aber ich mache mir Sorgen. Ich kenne ihn fast mein halbes Leben lang und ich würde es mir nicht verzeihen, wenn er stirbt und ich nichts unternommen habe. Wir halten sonst immer Kontakt, wenn er nach Rom muss, damit so etwas eben nicht passiert, er hat schon immer Bedenken gehabt, dass das passieren könnte, aber dieses Mal habe ich nicht daran gedacht. Jedenfalls nicht, bis er nach einer Woche nicht wieder bei uns aufgetaucht ist.«
Ich stockte. »Du- Du machst dir doch keine Vorwürfe, oder Liam?«
Seine Lippen wurden schmal und er mied meinen Blick. Ich verstand. »Liam, das ist nicht deine Schuld!«, rief ich leise. »Du kannst doch nichts dafür, wie kommst du darauf?«
Er blickte nach links, um zu vermeiden, dass ich den wässrigen Schimmer in seinen Augen sah. »Ich hätte ihn anrufen sollen und direkt hinfahren müssen, wäre er nicht an sein Handy gegangen«, sagte er leise. »I-ich hätte das verhindern müssen. Ich habe ihm versprochen, ihm immer den Rücken freizuhalten und auf ihn aufzupassen. Und was ist? Ich hab’s verkackt, so richtig.«
»Du denkst, dass du ihn hättest retten können? Liam, das ist völliger Schwachsinn. Gut, vielleicht hättest du ihn noch rechtzeitig erreichen können, aber dann wärst du wahrscheinlich noch mit entführt worden. Dann wären Niall und ich auf uns allein gestellt gewesen und ich bezweifle stark, dass wir euch beide da alleine hätten rausholen können«, warf ich ein und blickte zu Niall, der von dieser Unterhaltung nichts mitbekam, sondern grinsend alle Blumen abpflückte, die ihm über den Weg kamen.
»Ich hätte es merken müssen.«
»Hättest du nicht. Ich bin mir sicher, dass Harry sein Handy schonmal in Eile vergessen hat. Dann hättest du ihn auch nicht erreichen können, und du hast es ja gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und bist direkt nach Rom gefahren.«
»Louis, darum geht’s doch gar nicht. Ich hätte es im Gefühl haben müssen. Er ist mein bester Freund, dem ich ein Versprechen gegeben habe, verdammt. Und das hab ich gebrochen, weil ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war«, zischte Liam, ein fast wütender Ausdruck auf seinem Gesicht.
Gerade, als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, sprang Niall von hinten zwischen uns und schaute uns beide grinsend an, die Arme um unser beider Schultern gelegt. »Was flüstert ihr beiden Hübschen denn hier so rum?«, fragte er mit einem breiten, Zähne zeigenden Grinsen.
Dankbar für den plötzlichen Themawechsel bedachte Liam seinen Mann mit einem verliebten Blick, der besorgte und aufgebrachte Gesichtsausdruck augenblicklich verschwunden. »Nur, wie wir Harry da rausholen wollen.«
Niall machte ein tadelndes Geräusch. »Und das besprecht ihr ohne mich? Ich mache die besten Pläne, da müsst ihr mich doch mit einbeziehen, ihr treulosen Tomaten.«
~
Später am Nachmittag saßen wir alle zusammen draußen auf der Terrasse und genossen die Wärme der Sonne, die jetzt zum Glück nicht mehr so sehr auf uns hinabknallte. Während Niall zwischen der Bäckerei und seinem Kreuzworträtsel hin und her sprang, lag Liam nur in Badeshorts auf einer der Sonnenliegen rechts neben der Sitzecke. Ich saß unter dem großen aufgespannten Sonnenschirm und scrollte durch meine Playlist, Kopfhörer in den Ohren, in der Hoffnung, dass mich die Musik ein wenig beruhigen würde.
Doch Nialls ständiges Herumgelaufe nervte so langsam ziemlich. Kaum, dass sein Hintern das Kissen des Stuhls berührte und er ein Kästchen ausgefüllt hatte, klingelte es an der Tür und er sprang auf, um die Kunden zu bedienen.
Als er das nächste Mal aus der Tür gestürmt kam, als würde er vom Teufel persönlich verfolgt werden, stand ich auf, griff mir sein Rätselheft und hielt es ihm mitsamt Stift entgegen. Er musste scharf abbremsen, um nicht in mich zu rennen. »Niall, ich hab ja nichts dagegen, dass du gerne rätselst, aber verdammt, nimm doch dein Heft einfach mit, dein Gerenne macht mich wahnsinnig«, stieß ich aus und wedelte mit dem Heft herum.
Ein wenig perplex nahm er es mir ab, blinzelte einige Male und verschwand dann wieder in der Tür zur Bäckerei. Seufzend ging ich zurück zu meinem Stuhl, ließ mich fallen und schnappte mir mein Handy. Meine Beine legte ich auf einem andern Stuhl ab, den ich mir eben extra dort hingestellt hatte. Endlich lehnte ich mich zurück, ohne von einem herumrennenden Iren gestört zu werden, und schloss die Augen.
Es wäre auch zu schön gewesen, mich hinzulegen und einzuschlafen. Denn, gerade als ich am Wegnicken war, fing mein Handy an zu summen und kündigte so einen Anruf an. Entnervt zog ich mir die Kopfhörer wieder aus den Ohren und stampfte die Füße auf den Boden. »Das kann doch nicht deren Ernst- Hallo?«, sagte ich nicht gerade freundlich. Da ich nicht auf die Nummer geachtet hatte, wusste ich nicht, mit wem ich sprach. Sollte es Mr Colsen sein, würde mich durch die flappige Begrüßung am Ende des Monats eine ordentliche Gehaltskürzung erwarten.
Mit hochgezogenen Schultern wartete ich auf eine Antwort.
»Hallo? Hier ist Louis Tomlinson, wer ist da? Haben Sie sich verwählt?«, fragte ich, als immer noch keine Antwort kam.
Ich wollte gerade mein Handy vom Ohr nehmen und sauer auflegen, als sich eine Stimme meldete. Leise und heiser, doch ich würde sie immer wiedererkennen. »Louis«, hustete sie und ich ließ beinahe mein Handy zu Boden fallen. Fuck.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top