•38 || „Ich will nicht, dass ihr euch verliert."•

Und hier gleich das zweite Kapitel hinterher.
Hier möchte ich eine kurze Triggerwarnung geben. In diesem Kapitel wird häusliche Gewalt beschrieben. Wenn dieses Thema euch triggern könnte, lest auf eigene Gefahr oder überspringt es einfach, wobei es für den Handlungsverlauf doch recht wichtig ist.
Lasst gerne Rückmeldung da, was ihr über dieses Kapitel denkt.
Bis dann,
Lea


Kapitel 38

„Ich will nicht, dass ihr euch verliert.“

Ich nickte und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, um ihr Kraft zu geben. Um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. »Ja, als ich das erste Mal bei ihm war. Ich habe in seinem Zimmer ein Bild von ihr gesehen. Im ersten Moment hatte ich angenommen, es wäre seine Freundin, aber dann hat er mir erzählt, dass es seine Schwester war und was passiert ist.«

»Er redet nie mit jemandem, dem er nicht zu einhundert Prozent vertraut, über das, was passiert ist. Was hat er dir erzählt?« Unglauben spiegelte sich in Beckys Stimme wider.

»Die ganze Geschichte, denke ich zumindest. Dass er sie gefunden hat. Fuck, ich weiß nicht, ob ich es überleben würde, wenn ich eine meiner Schwestern tot im Bad finden würde.« Ich fuhr mir durchs Gesicht und schluckte die Tränen hinunter. »Es muss ein schreckliches Gefühl sein. Das Schlimmste. Ich wünschte, es wäre nie passiert. Als Harry meinte, dass sie und ich uns sicher gut verstanden hätten, brach es mir das Herz. So, wie er von ihr erzählte, hätte ich sie gern getroffen…«

»Hat er dir auch erzählt, warum sie sich das Leben genommen hat?«

»Wegen ihrem Vater«, antwortete ich ziemlich sicher.

Becky seufzte tief und wischte sich eine einsame Träne von der Wange. »Ja, das war auch ein Grund.«

Ich stockte. »Es gab noch einen weiteren?«, fragte ich.

»Das nehmen wir jedenfalls an. Zu dem Zeitpunkt war es nicht sicher, ob Anne den Kampf gegen den Krebs überleben würde. Sie war sehr krank und war sich sicher, dass sie es nicht schaffen würde. Ich war bei Harry und Gemma an dem Tag, um ihnen den Trost zu spenden, den Des ihnen nicht geben konnte. Gemma hat bitterlich geweint, den ganzen Abend lang, während Harry schweigend und wie paralysiert in der Ecke saß und sich nicht von der Stelle bewegt hat. Irgendwann war es Desmond genug und er schrie Gemma an, dass sie doch aufhören solle, zu weinen wie ein schwaches Kind. Ich war in dem Moment gerade in der Küche, um den beiden etwas leichtes zu essen zu machen. Da habe ich die Schreie gehört. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, sah ich, wie dieser Arsch auf seine Tochter einschlug.«

»Ach du scheiße«, entfuhr es mir geschockt und ich schlug mir die Hand vor den Mund. »Was für eine kranke Scheiße! Wer schlägt bitte schön sein Kind, weil es Angst um seine Mutter hat? Das ist einfach nur krank.«

Becky nickte und trank ihren Espresso in einem Zug aus. »Ich habe ihm eins mit einer Flasche übergezogen, was ihn zum Glück ziemlich aus dem Konzept gebracht hat, sodass ich mir Gemma und Harry schnappen konnte und nach oben gebracht habe. Ich war erleichtert, dass ich einigermaßen rechtzeitig gekommen war und Gemma vor Schlimmerem beschützen konnte. Sie hatte „nur“ einige blaue Flecken und eine Schramme im Gesicht. Ich habe die beiden dann in Gemmas Zimmer eingesperrt und die Tür zum Bad abgeschlossen, damit sie noch Wasser hatten, falls etwas passieren sollte. Dann bin ich wieder runter und hab versucht, mit Des zu reden, dass das so nicht ging, aber er hat dicht gemacht und ist abgehauen.«

Zitternd holte sie Luft und klammerte sich an den Henkel der Tasse, die sie noch immer in der Hand hielt. »Also bin ich wieder nach oben gegangen und habe Harry in sein Zimmer gebracht und bei ihm aufgepasst, weil Gemma gemeint hatte, dass mit ihr alles okay sei. Ein scheiß war es. Sie hat gelogen, um allein zu sein und… dann weißt du ja, was passiert ist.«

Für eine ganze Weile herrschte betretene Stille zwischen uns. Die einzigen Geräusche waren das leise Gespräch eines älteren Pärchens und das Surren der Kaffeemaschine.

»Fuck«, durchbrach ich die Stille. Hätte ich gewusst, wie verfickt diese ganze Scheiße gewesen war, die vorgefallen war, hätte ich… Tja, was hätte ich gemacht? Ich hätte nichts tun können, weil ich weder Harry noch Gemma zu dem Zeitpunkt kannte. »Ist sowas schon früher passiert? Dass Desmond seine Kinder geschlagen hat?«, wagte ich es mich zu fragen.

Becky schluckte und nickte dann. »Er ist ein sehr strenger Vater gewesen, der eigentlich nur Kinder wollte, damit sie sein Erbe fortführen konnten, wenn er sterben sollte. Ich denke nicht, dass er jemals wirklich Empathie ihnen gegenüber verspürt hat. Das tut er Harry gegenüber jetzt noch nicht. Und ja, er hat sie geschlagen. Bis zu dem Zeitpunkt, als Harry alt genug war und zurückgeschlagen hat. Es wundert mich bis heute, dass er sich noch nicht gerächt hat für das, was Desmond ihm und seiner Schwester angetan hat.«

Wenn ich das so hörte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Eigentlich mein ganzer Körper. Es fühlte sich an, als würde man mir alle Luft wegnehmen und mich erdrücken. Zu wissen, dass Harry und Gemmas Kindheit nicht einmal ansatzweise so unbeschwert gewesen war, wie meine, tat weh. Und zwar richtig. Kein Kind der Welt verdiente es, so aufwachsen zu müssen.

»A-aber wie konnte dann aus Harry so ein wundervoller Mensch werden? Wie hat er geschafft, trotz der ganzen Kacke, die er erlebt hat, zu leben? Und wie kann er es ertragen, jetzt noch für dieses Arschloch von einem Vater zu arbeiten?«, sprudelten all die unausgesprochenen Fragen aus mir heraus.

Das wollte sich mir einfach nicht erschließen. Wie konnte Harry all diese Last in sich tragen und trotzdem so sein, wie er war? Herzensgut, liebenswürdig, freundlich, zuvorkommend, wunderschön von außen wie von innen? Wie konnte er nicht daran zerbrechen?

»Er ist gegangen, als er konnte. Ich weiß, dass es ihm schwerfiel, Anne allein zu lassen, aber der Drang, diesen Ort, an dem so viel Schreckliches passiert ist, zu verlassen, war größer. Seit er gegangen ist, ist er nie wieder zurückgekommen. Hat sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf englischen Boden zu setzen.«

Das verpasste meinem Herz einen Stich. Eigentlich sogar zwei. Den ersten, weil der Drang, abzuhauen, wichtiger gewesen war, als seiner kranken Mutter beizustehen – was ich nachvollziehen konnte, aber trotzdem war es schmerzhaft. Und den zweiten, weil er mir gesagt hatte, dass er für mich überall hin gehen würde.

Ob er das auch wirklich so gemeint hatte? Natürlich wollte ich, dass er mich besuchen kam. Aber nach dem, was ich jetzt gehört hatte, nach dem, was er hier für grausame Dinge erlebt hatte… Wollte ich da überhaupt, dass er herkam? Dorthin, wo er sich schwor, nie wieder zurückzukehren? Nur für mich? Das… konnte ich ihm noch nicht zumuten.

Wenn er für sich beschlossen hatte, nie wieder nach England zurück zu kommen, dann war das okay für mich. Es musste okay für mich sein, denn die Verbindung, die wir zueinander hatten, überwog den Schmerz des Geschehenen nicht mal im Ansatz.

Harry musste nicht zu mir kommen, wenn er nicht wollte. Dann flog ich eben zu ihm. Ich kriegte Mr Colsen bestimmt irgendwie davon überzeugt, einen Vorschuss zu bekommen…

»Weißt du, Louis«, unterbrach Becky meine Gedanken. »Ich mache mir ziemliche Vorwürfe.«

»Was? Warum? Das war doch nicht deine Schuld?«

Sie seufzte. »Ich hätte einfach viel früher merken müssen, dass da etwas nicht stimmt. Ich meine, ich war oft da, als Anne im Krankenhaus war. Aber anscheinend nicht oft genug. Ich hätte die Kinder nicht mit ihm allein lassen sollen, ich…«

»Rebecca«, sagte ich bestimmt und nahm beide ihrer Hände in meine. »Es. Ist. Nicht. Deine. Schuld. Es ist allein die Schuld von diesem Wichser, der es nicht verdient, überhaupt zu leben. Sorry, ich weiß, dass er dein Bruder ist, aber er hat dem Mann, den ich li… sehr mag, und seiner Schwester so viel verfickte Scheiße angetan, dass ich nicht anders kann, ihn so zu nennen. Es ist seine Schuld, nicht deine. Bitte, Becky, bitte mach dir keine Vorwürfe. Du bist toll und hast alles versucht, was du konntest. Wer weiß, wie es den beiden ohne dich ergangen wäre.«

Becky schniefte und sah mich mit warmen Augen an. »Danke, Louis. Ich kann dir nichts versprechen, wahrscheinlich werde ich mir immer Vorwürfe machen, aber es tat gut, das zu hören.«

Nach einem Moment ergriff ich wieder das Wort. »Harry hat mir erzählt, dass Anne wieder im Krankenhaus ist und er deswegen mit seinem Vater zusammenarbeitet. Wie geht es ihr?«

»Es könnte besser sein. Ich besuche sie einmal in der Woche, früher öfter, aber die Ärzte haben ihr viel Ruhe verschrieben und deshalb viel Besuch untersagt. Ich bin die einzige, die sie besucht.«

»Das tut mir leid«, murmelte ich leise und senkte den Blick.

»Jedes Mal erkundigt sie sich nach Harry, will ihn sehen oder wenigstens mit ihm telefonieren, aber er weigert sich. Immer wieder diesen Schmerz in ihren Augen zu sehen, ist hart. Ich weiß nicht einmal, ob sie mir glaubt, wenn ich sage, dass ich sie grüßen soll, oder ob sie das schon längst durchschaut hat. Das einzige, was sie von Harry hat sind die Ärzte, die er dank des Geldes, das er durch seine Kunst verdient, einfliegen lässt, um ihr zu helfen. Aber es bringt alles immer weniger, sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen«, sagte Becky mit trauerbelegter Stimme. »Ihr einziger Wunsch ist doch nur, ihren Sohn ein letztes Mal zu sehen, bevor… es zu spät ist.«

Es tat mir alles so leid. Niemand verdiente so etwas.

»Vielleicht kann ich ja versuchen, Harry zu überre-«

Becky schnitt mir das Wort ab. »Nein, auf keinen Fall. Halt dich da bitte raus, Louis. Anne würde das zwar sicher zu schätzen wissen, aber sie würde nicht wollen, dass du ihretwegen deine Bindung zu Harry aufs Spiel setzt. Er ist sehr sensibel, was das Thema angeht, und stößt jeden von sich, der versucht, ihn zu etwas zu überreden, was er auf keinen Fall möchte. Und wenn er davor Angst hat, ist das noch schlimmer. Ich will nicht, dass ihr euch verliert. Das zwischen euch hat doch gerade erst angefangen und ist viel zu kostbar, um es gleich wieder zu riskieren. Bitte, Louis. Was du auch tust, lass es bitte. Sei für ihn da, aber versuch nicht, ihn dazu zu bewegen. Um deinetwillen, ja?«

Betroffen nickte ich und brauchte einen Moment, um diese Worte zu verdauen. »Okay, ich versuche, mich zurückzuhalten.«

»Ich rate es dir«, sagte sie mit gutmütigem, aber gleichzeitig strengen Tonfall. »Okay, ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen. Der Tag war ganz schön anstrengend.«

Zustimmend nickte ich und legte meine Hand auf ihre, als sie ihren Geldbeutel aus der Tasche holen wollte. »Ich lade dich ein. Als Dankeschön, dass du so offen zu mir warst.«

»Das ist doch nicht nötig.«

»Nimm es an, Becky, und geh nach Hause. Ruh dich aus und mach dir einen schönen Abend, ja?«

»Okay. Danke dir«, gab sie nach und stand auf, nachdem sie nach ihren Sachen griff.

Ich tat es ihr gleich und umarmte sie zum Abschied.

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