verfremdet
(Trigger-Warnung: Erwähnung von Suizid, Abschnitte fett-kursiv gekennzeichnet.)
Es ist sieben Uhr neununddreißig. Einundzwanzig Minuten, bevor es losgeht.
Es ist der erste von elf angesetzten Verhandlungstagen.
Am ersten Tag sind noch keine Zeugen nötig, jedoch wären sie das auch so nicht gewesen, wie der Richter, aufgrund seines Unwohlseins, seiner Überforderung und seiner Verwirrung gewitzt zum Abschluss sagen wird.
Der Saal wirkt leer, doch trotzdem klaustrophobisch erdrückend. Vielleicht liegt es an den weißen Wänden, die immer näher zu kommen scheinen, an der Anspannung und Nervosität, die im Saal liegt.
Der Richter wirkt zwar gelassen, jedoch weiß er noch nicht, was auf ihn zukommen wird, wie sehr man von Worten überrollt werden kann.
Der Protokollführer ist tief in sich gekehrt, wirkt wie jemand von der stillen, ernsten Sorte. Er hat bestimmt schon von vielen Verbrechen gehört, sicherlich lässt ihn mittlerweile alles kalt.
Zwei psychologische Gutachter, einer links von der Staatsanwaltschaft, einer rechts. Eine von ihnen ist weiblich, sieht aus, als könnte sie alles rein logisch erklären, so klischeehaft, wie sie da mit streng nach hinten gebundenem Zopf und Brille sitzt und am Ausschnitt ihrer Bluse rumzupft. Das Geschlecht des anderen Gutachters ist nur schwer erkennbar, aber diese Person macht einen freundlicheren Eindruck als der Rest der Anwesenden.
Links vom Tisch sitzen eine Frau mit hellbraunem Haar, dessen Hände so sehr zittern, dass ihre Fingernägel ein leises, klackerndes Geräusch auf dem Tisch machen. Neben ihr sitzt ein Erwachsener Mann mittleren Alters, dessen Augen nichts als Hass, aber auch innere Leere ausstrahlen. Sonst sitzt niemand in der Kläger-Partei, denn das Opfer selbst beruft sich auf seine Schweigepflicht und möchte nicht mit dem Täter in einem Raum sitzen.
Der Täter selbst sitzt, ganz allein, auf der rechten Seite des Saals, kippelt lässig und scheint das Ganze nicht ernst zu nehmen. Vermutlich wäre es ihm sogar egal, wenn er für seine Taten gehenkt würde- der Tod wäre sicherlich auch der schnellere Strafvollzug.
Ein paar Sekunden vor acht Uhr. Das Gewusel vorne hört nun gänzlich auf, alle sitzen und keiner bewegt sich mehr. Selbst alle vier Stuhlbeine des Angeklagten stehen nun auf dem Boden.
Es wird nicht lange um den heißen Brei geredet, bis der Richter schließlich die Anklage verliest.
''Hiermit verlese ich die Anklage in der Strafsache gegen Tendou Satori, geboren am zwanzigsten Mai neunzehnhundertfünfundneunzig, geborener Japaner, japanischer Staatsangehöriger und wohnhaft...'', seine Adresse wird genannt.
''Die Staatsanwaltschaft legt aufgrund ihrer Ermittlungen dem Angeschuldigten folgenden Sachverhalt zur Last:
Am fünfundzwanzigsten Mai zweitausendneunzehn legte der damals Vierundzwanzigjährige ein Feuer auf dem Grundstück von Utsui Takashi, während eben Genannter im Ausland arbeitete. Eine Kamera konnte das Videomaterial sichern und nach genauster Analyse konnte Tendou Satori identifiziert werden, war jedoch nach der Tat nicht auffindbar. Auf dem Videomaterial ist die Flucht über die anliegende Weide in den Wald zu erkennen. Der Brand wurde jedoch sehr schnell vom Nachbarn Okato Tsuhate bemerkt und konnte bekämpft werden.
In den darauffolgenden Stunden zwischen der Tat und der nächsten, dessen er angeklagt wird, wird der Angeklagte nicht mehr auffällig, jedoch ist er, trotz schlechter Kameraqualität, gegen dreiundzwanzig Uhr vor der Hausnummer zweiundvierzig, dem Grundstück des Opfers Ushijima Wakatoshi und seiner Ehefrau Kishiki Kunori, zu erkennen. Bei sich trägt er einen Kanister gefüllt mit Acetaldehyd, den er auf der Fensterbank des Angrenzenden Badezimmers abstellt. Nach Eintritt in das Haus des Opfers ist der Grund, weshalb es zur Tat kam, noch unbekannt.
Zurzeit hat noch niemand eine genauere Schilderung der Tat abgelegt, jedoch fand man durch medizinische Eingriffe Stichwunden im rechten Oberschenkel, der Schulter und dem Unterarm des Opfers. Da alle Beweise und Indizien dagegen sprechen, dass eine weitere Person im Haus war und laut Angaben der Angehörigen das Opfer sich selbst keine Wunden dieser Art zufügen würde, ist davon auszugehen, dass auf das Opfer eingestochen wurde. An den Wunden sowie an den Spritzspuren der Blutrückstände an den Wänden war zudem auch der ungefähre Einstichwinkel errechenbar und schlussfolgernd stammen die Wunden von einem Fremdkörper und die Angriffe wurden von Tendou Satori durchgeführt. Die Videoaufnahmen halten außerdem fest, wie der Angeklagte nur fünf Minuten nach Eintritt des Hauses das Acetaldehyd ins Innere beförderte.
Genauere Untersuchungen und Beweissicherstellungen des Tatorts konnten feststellen, dass Spuren des Acetaldehyds im Flur nachgewiesen wurden. Das entstandene Feuer wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit also gelegt. Die Explosion ist auf ein defektes Heizrohr zurückzuführen, dessen Inhalt in Berührung mit dem Sauerstoff in der Luft und einem Funken des Feuers die Explosion verursacht haben musste. Das Opfer war vor der Explosion auf der Flucht und wurde erst vor dem Bad gestoppt. Da der Angeklagte wenige Minuten zuvor das Fenster geöffnet ließ, nachdem er den Brennstoff in die Wohnung holte, konnte Kishiki Kunori ihren Ehemann durch die Öffnung des Fensters erkennen, da sie verfrüht von einer Verabredung heimkehrte. Angesprochene Zeugin und Klägerin konnte ihren Ehemann aus den Flammen ziehen. Beide erlitten Brandwunden zweiten bis dritten Grades.
Der Angeklagte befand sich im Zentrum der Explosion und verlor aufgrund dieser einen Arm und erlitt zusätzlich Brandwunden dritten Grades. Da er sich allerdings in der Nähe der Tür befand, wurde auch er von Kishiki Kunori aus den Flammen gezogen.
Sowohl der Angeklagte als auch das Opfer überlebten dies, befanden sich aber monatelang im Koma und auf der Intensivstation, weshalb der Prozess sich erst heute zutragen kann.
Wie bereits erwähnt liegt noch kein Geständnis beider Seiten vor.''
Es war still im Saal, während er die Anklage verlas. Es wurde eifrig mitgeschrieben und Notizen gemacht, Kugelschreiber klickten und Computertasten wurden gedrückt. An sich nur eine gering ausgeprägte Geräuschkulisse, für den Angeklagten jedoch eine Sinnesüberforderung.
''Wir beginnen mit der Anhörung Kishiki Kunoris. Was geschah in dieser Nacht aus Ihrer Sicht?''
Mit zitternden Fingern, an denen zwei Ringe stecken, legt Angesprochene den Kugelschreiber beiseite und ordnet die Notizen, die sie sich gemacht hat. Dann räuspert sie sich und beginnt, sich dem Prozess, der sie auch auf so vielen Ebenen betrifft, zu stellen.
''An diesem Abend war ich mit meiner leiblichen Tochter bei meiner Verlobten zum Essen eingeladen. Weil die Bahn Verspätung hatte, hat sie mich auch heimgefahren, weshalb ich früher als verabredet wieder zuhause ankam. Das Haus hatte bereits gebrannt und wie bereits angemerkt, habe ich durch das geöffnete Fenster meinen Ex-Ehemann erkannt, der in den Flammen lag, bei vollem Bewusstsein, aber nicht alleine aus dem Feuer kam, weil er humpelte und vor Schmerzen nichts tun konnte. Jedoch war er in der Lage, mir zu sagen, dass sich Tendou noch im Haus befand. Ich bin natürlich zu der Zeit noch von einem Unfall ausgegangen, da Tendou am vorigen Abend bei uns zu Besuch war, um eine Auseinandersetzung zu klären, jedoch wurde daraus nichts, da er das Haus verletzt und verärgert wieder verlassen hatte. Ich dachte, dass sie sich doch noch vertragen wollten. Ich habe Wakatoshi dann jedenfalls bei meiner Verlobten zurückgelassen, die sich dann um ihn kümmerte, bis die Rettungskräfte eintrafen. Ich bin zur Sicherheit dann durch die Wohnungstür in die Wohnung und habe Tendou ebenfalls aus dem Feuer gezogen, wodurch ich dann selbst Feuer fing, da ich an diesem Abend Synthetik getragen hatte. Die Kleidung brannte sich in meine Haut und bildete eine Einheit mit ihr, weshalb ich ebenfalls eine Zeit lang auf der Intensivstation verbrachte. So habe ich die Nacht des fünfundzwanzigsten Mais erlebt.''
Erleichtert atmet sie aus und legt die Zettel wieder auf den Tisch.
''Sie wussten also nichts von Tendou Satoris geplannter Täterschaft oder steckten gar mit ihm unter einer Decke?''
''Nein, nicht im Geringsten.''
''Und obwohl der Angeklagte ihr Haus bereits am Vortag schon wutentbrannt verlassen hatte, sind Sie nicht davon ausgegangen, dass seine psychische Labilität der Auslöser gewesen sein konnte?''
''Nein. Ich kannte ihn zwar nicht gut, aber gut genug, um davon ausgehen zu können, dass er zu so einer Tat nicht fähig wäre, und davon bin ich bis heute überzeugt.'', stottert sie ängstlich, jedoch mit fester Überzeugung.
''Sie glauben also nicht, dass der Brand willentlich gelegt wurde? Obwohl das Leben Ihres Ehemannes monatelang auf der Kippe stand?''
''Ex-Ehemannes. Und nein. Ushijima und Tendou waren beste Freunde, auch, wenn ihre Wege sich aus unschönen Gründen trennten, hätte der Tendou, den ich aus den Erzählungen meines damaligen Ehemannes kannte, keinen Finger gegen ihn erhoben. Der, der das war, war sicherlich nicht er selbst. Ich weiß, dass das naiv klingen mag, aber würden Sie ihre Geschichte kennen, könnten Sie meinen Gedankengang leichter nachvollziehen.''
''Dann erzählen Sie das, was Sie wissen.'', fordert der Richter. Als Kunori ansetzt, wird sie jedoch unterbrochen, unzwar von niemand anderem als dem Angeklagten selbst.
''Ich erbitte Gehör. Ich würde gerne selbst erzählen.''
Alle Blicke bewegen sich in die Richtung, aus der die Stimme kommt.
''Nun, es ist seine Geschichte. Es steht mir nicht zu, sie zu erzählen.'', sagt Kunori und gibt ihm somit das Wort.
Der Richter nickt und der Saal wird hellhörig.
''Wakatoshi und ich waren mal so etwas wie beste Freunde. Wir haben uns an der Oberschule aufgrund des Schul-Volleyballs kennengelernt und angefreundet und zum Ende des dritten Jahres auch immer mehr Zeit gemeinsam verbracht. Er war ein wenig anders als die anderen, auf eine Weise unnahbar, kalt und sehr auf sich selbst bezogen, aber sein Ego hatte niemals darunter gelitten. Vielleicht war es das, was mich immer so an ihm fasziniert hatte, dieser Kälte, gemischt mit dieser beruhigenden Ruhe, die er verströmte, dieser passive Egoismus und Perfektionismus und seine kaum merkliche Selbstlosigkeit. Ich habe geglaubt, er sei einer dieser Menschen, dessen Charakter so komplex ist, dass man ihn nur verstehen kann, wenn man sich intensiv mit ihm auseinander setzt. Zumindest habe ich es mir so erklärt, wenn ich mich selbst dabei erwischte, wie ich wieder und wieder an ihn dachte, je öfter wir Zeit miteinander verbrachten. Ich habe ihn aber lediglich geliebt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Den einzigen Makel, den ich fand, war seine Gewohnheit, festen Strukturen zu folgen und seine Unfähigkeit, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu leben. Und das hat mich wütend gemacht, weil ich mich dazu berufen hatte, ihn daraus zu holen. Aber als seine Großmutter an einem Herzinfarkt starb, starb auch das Zentrum, das für ihn Entscheidungen abnahm. Doch statt das zu nutzen, drehte er sich alles so, wie es ihm passte und redete nur noch davon, dass er trotzdem dieser ''Berufung'' nachgehen musste und rieb es mir noch unter die Nase, dass er mich dieser ''Berufung'' niemals vorziehen würde. Er liebte mich, aber nicht genug, um dazu bereit zu sein, seine Zukunft mir zu schenken, statt einer längst verstorbenen Frau, die ihm nichts bedeutete. Und dann wollte er jahrelang nichts mit mir zu tun haben, meldete sich nicht und ließ mich einfach im dunklen sitzen. Ich war also plötzlich allein und hatte selbst keine Perspektive mehr. Ich konnte aber auch keine Perspektive mehr haben , oder wollte es ehrlich gesagt auch gar nicht, denn dieser Schmerz, den ich verspürte, fraß mich von innen auf. Und dann fing es plötzlich an, dass ich Dinge sehen konnte, die andere nicht sehen konnten, Dinge hörte, die andere nicht hören konnten. Ich war nicht mehr allein, doch einsamer denn je. Aber diese Wahnvorstellungen trieben mich dennoch nicht in den Wahnsinn, im Gegenteil, sie brachten mich wieder zur Vernunft. Klar, es nervte, aber die Hauptsache für mich war, dass ich einen Teil Wakatoshis immer bei mir trug. Ich konnte ihn nicht loslassen und nicht abschließen und mir wurde der Zugang dazu und zu ihm an sich versperrt, also war es nicht so schlecht, ihn jeden Tag als Wahnvorstellung zu sehen, nicht ganz so allein zu sein und eine Art Sandsack zu haben. Bis es schließlich verwirrend wurde und diese Gestalten um mich herum ein Teil meiner persönlichen Welt wurden. Ich konnte echt nicht mehr von unecht unterscheiden, verlor Erinnerungen und konnte meinen Körper nicht mehr steuern, hatte das Gefühl, neben mir zu stehen. Der einzige Weg aus diesen Paralysen, diesen Panikattacken und unkontrollierten Anfällen, war Licht, besonders Feuer. Es war warm, hat mich getröstet, mich an früher erinnert. Wortwörtlich ein Lichtblick. Bis ich einen Anruf erhielt, von niemand anderem als ihm selbst, unzwar sieben Jahre nach unserer Auseinandersetzung. Er lud mich ein, um über alles zu reden, es war wie ein Traum. Ich dachte, jetzt sei ich endlich gut genug. Ich dachte, endlich hätte man die Komplexität meines Charakters auch verstanden und würde all meine Mühe zu schätzen wissen, aber nein. Mein bester Freund, der mir sagte, er würde mich lieben, liebte mich weder genug, um seinen Weg mit mir zu gehen, noch, um sich bei mir zu melden, und dann hat er auch noch eine Frau und ein Kind. Meine erste, wirkliche Liebe, hätte mich nicht mehr vor den Kopf stoßen können. Deshalb habe ich das Haus verlassen und war nicht bereit, die Auseinandersetzung zu klären. Am Nachmittag darauf fand ich dann aber durch einen Wutanfall heraus, dass ich diese Wahnvorstellungen durch physische Gewalt zerstören kann. Ich kann den Rest nicht erklären, aber jedenfalls war es so, dass ich das Bewusstsein verlor und, als ich mich wiederfand, bereits die Farm brannte. Dann hatte ich wieder Wahnvorstellungen, aber diesmal waren es Geschehnisse der Vergangenheit. Ich dachte, dass ich vielleicht eingreifen könnte, aber das konnte ich nicht. Ich wurde wütend und wollte endlich, dass es aufhört. Diese Isolation, dieser Schmerz, diese Trauer. Ich wollte damit abschließen, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, diese Wahnvorstellung von ihm, die das letzte war, das mir noch von ihm geblieben war, zu zerstören und habe es gelassen. Ich wollte einfach nicht mehr hinnehmen, dass ich so litt. Kennen Sie das, wenn Sie an einem regnerischen Tag Wassertropfen an einem Fenster herunterlaufen sehen? Es ist, als würden sie sich ein Wettrennen liefern, nicht? So hat es sich für mich angefühlt. Unsere Wege liefen nebeneinander her, wir verpassten uns ständig und es war vorbestimmt, dass wir irgendwann wieder ineinander laufen würden, genau wie zwei Regentropfen, wenn sie sich treffen. Aber es passierte einfach nicht. Und das machte mich so wütend, dass ich beschloss, dass, wenn er nicht mit mir leben wollen würde, er mit mir sterben sollte. Dann müsste ich eben dieses Ende herbeiführen, wenn es mir verwehrt war, selbst abzuschließen. Und so habe ich dann den Plan entwickelt, den ich in der Nacht ausführte. Jedoch passierte viel mehr, als Sie darüber wissen, oh ja. Er erklärte mir nämlich, dass Chikara nicht sein leibliches Kind sei und er Kunori nicht aus Liebe geheiratet hätte, und dass er jetzt bereit wäre, es mit mir zu versuchen. Das war genau das, was ich hören wollte, seit sieben Jahren voller Isolation, Trauer und Frust. Aber ich wusste auch, dass ich es nicht übers Herz gebracht hatte, die Wahnvorstellung, die ich von ihm hatte, zu zerstören. Ich glaubte nicht, dass er mir sieben Jahre später einfach so das sagen würde, das ich hören wollte. Und, eins plus eins zusammengerechnet, kommt man eben darauf, dass ich gar nicht mit dem echten Wakatoshi geredet habe. Deshalb habe ich auf ihn eingestochen. Weil ich die Wahnvorstellung endlich loswerden wollte. Aber sie verschwand einfach nicht , weshalb ich zu immer mehr Maßnahmen griff, bis ich eben das Acetaldehyd anzündete. Die Explosion war nicht geplant, aber das ist auch allein seine Schuld. Weil er sich gewehrt hatte, bin ich mit dem Hinterkopf an eines der Heizrohre geknallt. Nicht meine Schuld. An mehr erinnere ich mich selbst nicht.''
Es ist still im Saal. Es sind Jahre vergangen, aber erst heute hat man das erste Geständnis erhalten, und das detaillierter, als man es erwartet hätte. Vor allem hätte man diese Geschichte nicht erwartet.
Es ist schwierig zu sagen, ob die psychologischen Gutachter oder der Protokollführer mehr mitgeschrieben haben, es ist noch schwieriger zu sagen, wen ihre Geschichte am fassungslosesten zurücklässt, obwohl es weitgehend schlimmere schon gegeben hatte.
Der Richter packt sich aber als erster und stellt seine Fragen.
''Nehmen wir an, was Sie sagen, stimmt so. Sind Sie sich denn mittlerweile bewusst, dass das, wovon Sie berichten, auch passiert ist und dass Sie keine ihrer Wahnvorstellungen angegriffen haben, sondern die Person, von der Sie behaupteten, sie so zu lieben?''
''Dem bin ich mir bewusst. Zu schade, dass mein Plan nicht funktioniert hat.''
''Sie meinen den geplanten Doppelsuizid?''
''Nun, schwierig zu sagen. Eigentlich war es ein viel größerer Wunsch von mir, abzuschließen, der Weg, wie ich das erreicht hätte, wäre mir egal gewesen. Ob Mord oder Loslassen, spielt keine Rolle. Ich bin eigentlich nur wirklich, wirklich traurig, dass ich nicht gestorben bin. Das hätte vieles vereinfacht.''
''Ihnen war also ihr Freund sowie die potentielle Zukunft mit ihm egal geworden und letzten Endes war Ihnen nur Ihr eigener Tod noch wichtig? Weshalb haben Sie sich dann nicht allein das Leben genommen?''
''Oh nein, ganz bestimmt war er mir nicht egal. Ich liebe ihn und das bis heute, ich hätte gern gewusst, wie unsere Zukunft ausgesehen hätte. Was ich wollte, war ein Ende. Ich wollte einfach nicht mehr leiden, ich konnte das alles nicht mehr aushalten. Also war es egal, was ich getan hätte. Und an einen Selbstmord habe ich nie gedacht, weil das doch der letze Ausweg gewesen wäre. Noch dazu hätte er nicht auf viele Wege ausgehen können. Entweder tot oder nicht tot. Und das erschien mir zu vorhersehbar, zu unflexibel. Es hätte mich nicht mehr überraschen können, war mir also viel zu langweilig. Aber mein Plan wäre ungewiss ausgegangen, und diesen Adrenalinkick habe ich gesucht. Wollte spüren, dass ich noch lebe, aber das versteht jemand wie Sie nicht. Wenn er gestorben wäre, hätte ich seinen Tod betrauert, aber ich hätte nicht mehr gelitten. Wenn wir beide gestorben wären.. Erklärt sich ja von selbst. Und wenn es nur die Wahnvorstellung gewesen wäre, hätte es mich auch nicht mehr so gequält. Selbst wenn nur ich gestorben wäre, wäre das ein Adrenalinkick gewesen, da es sich dann nicht einfach um Selbstmord gehandelt hätte, sondern um ein plötzliches, aber befriedigendes Ende.''
''Würden Sie die Tat also genauso noch einmal begehen?''
''Ganz bestimmt nicht, zumal ich doch wüsste, was passiert. Wissen Sie, ich weiß, dass Sie glauben, dass ich nur egoistisch war und dass das keine Liebe ist, was ich spüre, Sie alle glauben das. Wenn man selbst nicht betroffen ist, hat man immer Vorurteile, aber das ist normal und ein menschlicher Mechanismus. Das Gehirn versucht, sich etwas zu erklären, das es nicht versteht. Aber ich bin nicht herzlos, nur krank. Meine Handlungen kann man nicht mit Logik erklären, das kann selbst ich nicht, wenn man sie nicht fühlt, versteht man es nicht. Ich habe nur mit Instinkten, meinem Herzen und nach meinem Bauchgefühl gehandelt. Was ich wollte, war kein grundloser Mord an einer zufällig gewählten Person, oh nein, viel, viel mehr als das. Ich wollte nicht mehr leiden, ich wollte nicht mehr leben. Können Sie nicht nachvollziehen, was sowas mit jemandem macht? Ich wollte doch keine Rache nehmen, das wäre ja lächerlich. Ich habe mich selbst so gehasst, dass ich nichts anderes mehr lieben konnte, ich habe keinen Weg mehr gesehen, ich wollte sterben. Mir wurde genommen, was ich geliebt habe, ich wollte es zurück, aber habe es nicht bekommen. Also wollte ich das Ende. Und, was hat es mir gebracht? Nichts als Ärger, mehr Leid und mehr Lebenszeit, die ich sinnlos und einsam verschwenden kann. Nein, ich würde es nicht nochmal tun. Deshalb versuchen Sie gar nicht erst, mein Verhalten zu analysieren, wenn Sie schon das simpelste nicht verstehen. Ich bin nicht kompliziert gestrickt, nicht mehr und nicht weniger als ein Mann, der eine Schraube locker hat. Ich bin vielleicht innerlich zerrissen, aber ich fühle noch immer mehr, als jeder von euch. Ich bin nicht verrückt, ich war nur verletzt, blind vor Liebe und verzweifelt. Ich wollte nur, dass es aufhört, ich wünsche mir noch immer nichts mehr, als seine Liebe, die mich so krank gemacht hat, welche ich aber trotzdem als einzige Heilung sehe. Dennoch spüre ich keine Reue, weil ich ihm das einzige Mal so nah gewesen bin, und das bedeutet mir etwas. Es ist das erste bisschen Glück, das ich seit Jahren gespürt habe. Ich bin nicht herzlos, nur krank.''
Dieser letzte Satz wird jedem Anwesenden noch bis zum endgültigem Urteil im Gedächtnis bleiben.
Es ist der achte von elf angesetzten Verhandlungstagen.
Es ist laut im Saal, ohrenbetäubend, ein Gegenstück zu von vor einer Woche.
Der Anklagte sitzt auf seinem Stuhl, sieht sich nur auf seine übrig gebliebene Hand, an der zwar sichtbar nichts zu erkennen ist, an welcher aber nun, mehr oder weniger, trotzdem Blut klebt. Alle sehen sein Gesicht und kennen seinen Namen, er macht schließlich auch kein Geheimnis aus seiner Tat.
Der Protokollführer schreibt eifrig mit, die Zuschauer warten gespannt auf das Urteil, die Presse wartet auf den Moment, in welchem der Angeklagte etwas sagt.
Die Psychologen tischen eine Vermutung nach der nächsten auf.
Es ist der letzte Verhandlungstag.
Der Tag, an dem Familie und Freunde erfahren werden, ob es, das, was in ihren Augen Gerechtigkeit ist, gibt.
Der Tag, an dem die Presse den Saal einrennt.
Der Tag, an welchem das Urteil fällt und der Angeklagte seine Strafen wohl oder übel annehmen muss.
Es ist ruhig im Saal, beängstigend.
Der Richter steht schließlich mit zitternden Knien und unsicherem Gesichtsausdruck auf, um das Urteil zu sprechen.
„Der Angeklagte, Tendou Satori, hat sich des versuchten Mordes am Opfer Ushijima Wakatoshi sowie der Brandstiftung schuldig gemacht. Seine Motive waren die niedrigen Beweggründe der Mordlust. Der Angeklagte ist aufgrund krankhaft seelischer Störungen, Klammer auf, Psychose, manisch-depressive Störung, permanente Hirnschäden in Folge von Medikamentenkonsum, Alkoholkonsum sowie Drogenkonsum, Klammer zu, und einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, in Klammern, Schock zum Tatzeitpunkt, Alkoholeinfluss zum Tatzeitpunkt, schuldunfähig. Somit entfällt der Gefängnisaufenthalt. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für mindestens sechs bis zehn Jahre wird angeordnet. Weitere Verfahren werden eingeleitet. Das wäre dann alles.''
Lange haben alle darauf gewartet. Ganze elf Tage und die Monate vor dem Prozess.
Lange hat die Presse nicht mehr über so ein Verbrechen, so eine Hintergrundgeschichte, berichten können.
Lange gab es schon keine so gespaltene Meinung zu einem Fall mehr. Viele konnten das Verhalten des Angeklagten nachvollziehen und hatten Mitleid, manche romantisierten sein Verhalten, wiederum andere hatten kein Verständnis und beteten vermutlich für die Erlösung seiner Seele.
Und noch länger hatte der Angeklagte seine Gefühle zurückgehalten.
Er kann nicht anders, bricht in Gelächter aus. Für die Familie ein Schlag ins Gesicht, doch für ihn ist es die Befreiung, auf die er so lange gewartet hatte.
Es ist nicht das Ende, das er gewollt hatte, aber der erste sichtbare Abschluss, das erste spürbare Ende. Das erste mal wird ihm geholfen und er muss nicht allein mit sich sein.
Doch während man Tendou helfen kann, ihn wieder auf den richtigen Weg zu bringen, bleibt ein anderer allein zurück. Ein junger Mann im Rollstuhl, dem nun das erste Mal wirklich seine Perspektive und der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Stumm sitzt er da, ganz weit oben, im Rollstuhl, um anwesend zu sein, ohne ihm unter die Augen treten zu müssen. Stumm saß er da, lauschte seinem Geständnis, ihrer Geschichte, den Zeugen bis hin zum Urteil.
Ihn so zu sehen, war zerreißend für ihn, beängstigend. Was er sah, war nicht mehr sein bester Freund, der aus einem langweiligen Wochenende einen Trip in die Vergangenheit machen wollte und sie beide dazu zwang, noch einmal Kind zu sein. Nein, das vor ihm war ein Fremder. Ein Fremder, den er trotzdem liebte.
In seinem Kopf widerholt sich immer wieder, dass er nur wollte, dass es aufhört, nichts als seine Liebe wollte. Es ist das erste Mal, dass Wakatoshi dieses Loch im Herzen spürt, diesen Schmerz, wenn es sich zusammenzieht und man nicht weiß, was man dagegen tun soll. Und es tut weh. So sehr, dass eine Träne an seinem Kinn runtertropft.
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