holzblüten

2029年06月26日 ○ 26. august 2029」
☆ミ 日曜日 ● nichiyobi ○ Sonntag
✎ pov。 牛島 ○ pov. ushijima

Ich habe noch nicht lange geschlafen, als ich meine Augen öffne, da mich ein Vogel von draußen geweckt hatte, der gegen meine Fensterscheibe geknallt war. Normalerweise wache ich mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher auf; dass ich von Vögeln, die gegen mein Fenster klatschen, wach werde, ist selbst mir neu.

Mein Blickwinkel liegt gerade in Richtung Fenster zum Garten, in welchem es bereits hell ist, jedoch sieht es nach einem regnerischen Tag aus.
Nachdem ich einmal meine Arme in die Höhe strecke und mich dehne, um wachzuwerden, lege ich meine Hände auf die Greifreifen und bewege, beziehungsweise rolle, mich in Richtung Fenster.

Von hier aus kann ich den Vogel sehen, der regungslos auf der Fensterbank liegt. Schade um das Tier, denke ich, jedoch muss der Kadaver nicht unbedingt gleich neben mir verwesen. Ich strecke meinen Arm, bis ich an das Fenster rankomme, öffne es und will die Scheibe gerade in meine Richtung ziehen, um es aufzumachen, da regt sich der Vogel, zuckt, flattert wie wild mit den Flügeln und fliegt dann wieder los.

Also eine kleine Dramaqueen. Ich schließe das Fenster wieder und versuche, in einer Kurve wieder zurück zu rollen, jedoch bleibe ich mit dem Reifen an etwas Schwerem hängen. Ich beuge mich nach vorne, um zu schauen, was es ist. Eine Millisekunde der Beobachtung verrät mir bereits alles, was ich wissen muss und ich sitze wieder kerzengerade im Stuhl.

Bei dem Objekt, das ich so eben angefahren habe, handelt es sich um den Karton, den Chikara mir vor wenigen Wochen mitgebracht hat. Ich habe mich bisher nicht getraut, ihn zu öffnen. Am liebsten hätte ich auch meine Meinung dazu geäußert, wie ich es fand, dass Chikara ohne irgendeine Erlaubnis einfach zu ihm gegangen war, aber auch das konnte ich nicht. Sie hat mir ihre Meinung zu dem Thema erklärt und hat sich entschuldigt und mir noch dazu die komplette Wahrheit erzählt. Außerdem rede ich sonst auch nie mit ihr, ich fände es schade, dass sie dann das erste Mal, dass sie meine Stimme gehört hätte, nur Ärger bekommen hätte.

Ich verstehe ja, dass sie es aus guter Absicht gemacht hat. Dennoch kann ich jene Nacht nicht einfach vergessen. Meine Art, mit Schwierigkeiten umzugehen, war es noch nie, darüber zu reden. Ich habe immer für mich behalten, was mich belastet und habe es mit mir selbst ausgemacht. Genauso, wie ich es jetzt auch tue. Aber diesmal ist es zusätzlich der Grund, dass ich mich nie wieder mit diesem Thema beschäftigen wollte. Darüber zu reden, hätte mir persönlich die Prozessphase nur erschwert.

Ich traue mich nicht, den Karton zu öffnen, da ich einerseits eben nicht weiß, was mich erwartet, und wie ich damit umgehen kann, aber andererseits auch, weil ich Angst habe, mir den gesamten Prozess, mit meiner Situation klar zu kommen, damit wieder zerschießen würde.

Dabei ist mein Unterbewusstsein aber neugierig und will es wissen. Eine andere Hälfte von mir, nämlich die, die immer versucht, logisch und objektiv zu sein, vergleicht das Ganze mit einem Stapel Büroarbeit. Wenn ich Dokumente durcharbeiten müsste, auf diese keine Lust hätte und ich sie einfach in eine Schublade stecken würde, damit ich sie nicht mehr sehen muss, dann sind die Dokumente schließlich für einen Augenblick unsichtbar. Das würde zunächst ein gutes Gefühl auslösen, irgendwann wäre es dann aber eine Belastung, sobald ich darüber nachdenke. Dann kommt die Phase, in der ich dessen Existenz vergesse, weil ich nicht mehr daran denke und mit anderen Dingen beschäftigt bin. Und irgendwann, ganz zufällig, mache ich die Schublade auf, sehe den nicht erledigten Papierkram und erschrecke mich erstmal zu Tode und ärgere mich dann, dass ich mich nicht doch vorher damit befasst habe. Ganz genau so ist es mit meiner Vergangenheit auch. Ich wollte mich so lange nicht damit befassen, um zu vergessen.

Ich habe geglaubt, dass darüber zu reden oder eben jetzt dieses Paket zu öffnen, mir nicht gut tun würde, weil es mir den Prozess versauen würde. Nur merke ich jetzt gerade, dass es absoluter Schwachsinn ist. Das hätte vielleicht vor ein paar Wochen viel eher als Argument gegolten, als ich in einer Art Paralyse steckte und ich nicht einen Gedanken in diese Richtung verschwendet hatte, aber jetzt? Seitdem dieser Karton hier ist, denke ich konstant an das Thema. Der Prozess des Verdrängens ist bereits abgebrochen worden, in dem Moment, als der Name Tendou fiel.

Das heißt, dass es mir eigentlich auch egal sein könnte. Wenn ich eh schon seit Tagen kaum noch deswegen schlafen kann, lohnt es sich nicht, den „Papierkram" wieder von mir wegzuschieben und mich in ein paar Jahren wieder in derselben Phase zu befinden.

Ich fasse mir also ein Herz und beschließe, den Karton zu öffnen. Deshalb bücke ich mich wieder runter, umgreife mit zitternden Händen das quaderförmige Schwergewicht und hieve es auf meinen Schoß.

An sich ist auf dem Karton nichts auffälliges oder etwas, das etwas über den Inhalt verrät. Kein Absender oder Empfänger, nicht einmal zugeklebt ist er. Ich weiß nur, dass er schwer ist und irgendetwas hölzernes aneinander schlägt.

Dann klappe ich die Deckel alle auf und zunächst sehe ich nur Papierumschläge, alle mit unterschiedlichen Daten darauf. Vermutlich sind es Briefe. Weil es sittlich ist, immer erst die Briefe zu lesen, hole ich alle Umschläge heraus, die ich finde. Dann sortiere ich sie nach dem Datum, das darauf steht und nehme den ersten vom Stapel, um sie der Reihe nach zu lesen.

16. Oktober 2022

„Ich habe keine Ahnung, wie man einen Brief beginnt und um ehrlich zu sein, fehlen mir die Worte. Das liegt nicht daran, dass ich nichts zu sagen habe, es gibt nur absolut keine Worte, mit denen ich mich auszudrücken weiß.
In der Therapie habe ich mich jedesmal mit mir, dir und uns befasst, jeden Tag wurde ich mit dem Thema konfrontiert. Es gab ganze Rollenspiele, in denen mein Therapeut deinen Part übernommen haben und ich sollte mich dann mit ihm unterhalten, ihm das sagen, was ich dir sagen würde. Und es fiel mir einfach, doch das liegt nicht daran, dass ich mal besseren Umgang mit Worten und Gefühlen hatte, sondern daran, dass ich mit jemandem gesprochen habe, der nicht du warst. Er hätte dich noch so gut imitieren können, es wäre niemals dasselbe gewesen. Wenn ich mich mit ihm unterhalten habe, dann wusste ich immer genau, was ich sagen würde, ich habe ganze vorgeschriebene Reden. Aber jetzt, wo ich wirklich damit konfrontiert werde und das erste Mal wirklich an dich schreibe, ist es etwas anderes. Ein ganz neues Gefühl.
Vielleicht sollte ich ein Datum auf den Brief schreiben, damit du ihn auch verstehst, solltest du ihn jemals erhalten, ihn geschweige denn lesen. Mir ist es hier nicht gestattet, Briefe an dich zu schreiben. Sie sagen, dass sie sie nicht abschicken, weil sie nicht möchten, dass Opfer und Täter in Kontakt stehen, sofern der Täter noch eine Gefahr darstellt.
Aber das tue ich ab jetzt nicht mehr, denn morgen beginnt ein neuer Abschnitt, eine neue Phase. Moment, ich habe ganz vergessen, dir den Zusammenhang zu erklären.
Nun ja, nach dem Prozess kam ich hierher, und zwar ins sogenannte Justizvollzugskrankenhaus. Hier habe ich auch die letzten drei Jahre mit täglicher Therapie gelebt. Ich habe bisher noch nicht daran gedacht, dir einen Brief zu schreiben, weil ich selbst nicht wusste, wie viel noch von dem Tendou in mir drin steckt, der dir das angetan hat. Ich weiß nicht, wie du aussiehst, ich weiß nur, dass du überlebt hast, mit welchem Verkrüppelungen und Narben du nun auch immer gezeichnet sein magst. Deshalb schreibe ich dir erst jetzt einen Brief, eben weil ich nun weiß, dass ich nicht mehr wahnsinnig bin, im wahrsten Sinne des Wortes. Zudem wollte ich nicht, dass andere den Brief finden und ihn lesen, und der beste Weg, etwas versteckt zu halten, ist, es gar nicht erst zu besitzen. Deshalb habe ich bis heute gewartet, denn ab morgen werde ich den Therapieplatz wechseln und auf die Geschlossene gehen.
Aber ich habe dir nicht diesen Brief schreiben wollen, nur, um über mich zu reden. Ich wollte dir einen Brief schreiben, der dir, egal, wann er ankommt, zeigt, dass ich auf dem besten Weg zur Besserung bin. Und der Grund dafür ist nicht, dass ich dir irgendwas beweisen will, alles was ich will, ist, dir dieses ungute Gefühl zu nehmen, das du vielleicht hast. Dieses Gefühl, die Situation damals nicht verstanden zu haben, mein Handeln nicht nachvollziehen zu können und Angst vor mir zu haben, weil du nicht weißt, wie alles zusammenhängt. Sicherlich bist du dir darüber im Klaren, dass ich krank war und nicht zurechnungsfähig war, das war nicht wirklich ich. Ich weiß nicht, wo ich all die Zeit über war. Aber trotzdem möchte ich dir sagen, dass egal was du spürst, es berechtigt ist. Es geht mir nur darum, dass du das weißt. Und ja, ich weiß, es ist immer nur ich, ich, ich, und ich gebe zu, ich schreibe, damit du weißt, dass ich nicht so gehandelt habe, weil du einen Fehler gemacht hast, damit die Hülle, mein wahres Ich, das du noch kanntest, sich rechtfertigen kann. Und ich hoffe, dass du zumindest das verstehen kannst, denn ich war nicht wirklich an dem Geschehen beteiligt. Ich habe es schon oft genug gesagt, aber ich bin nicht herzlos, ich war nur krank."

01. Dezember 2024

„Und hiermit melde ich mich aus der Geschlossenen. Ich gebe ja zu, dass ich immer mehr über mich selbst lerne und mir immer mehr Wissen aneigne, da Bücher hier meine besten Freunde sind, aber ich weiß bis heute noch nicht, wie man einen Brief beginnt.
Vielleicht beginne ich diesmal damit, dir grundlegende Gegebenheiten zu nennen, um dir einen Überblick zu geben.
Ich befinde mich jetzt seit etwas länger als zwei Jahren auf einer Geschlossenen Station im psychiatrischen Klinikum. Das hier ist schon was ganz anderes, schließlich ist fast alles verboten. Aber was mich rettet, sind Zettel und Stift. Zumindest ein kleiner Trost. Für mich die Gelegenheit, meine Gefühle durch Zeichnungen auszudrücken. Und natürlich die Bücher aus der Bücherei.
Der Grund, weshalb ich hier bin, ist nicht sonderlich wichtig. Wenn ich dir sage, dass der Verlust deines Lebens nicht das ist, worum du dir Sorgen machen musst, weißt, wo ich gerade bin und etwas im Kopf hast, kannst du dir mit etwas Logik den Grund erschließen. Ich möchte nicht weiter darauf eingehen.
Ich habe mir den Brief, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, noch einmal durchgelesen und seitdem hat sich an meiner Entwicklung auch etwas getan. Beim letzten Brief hatte ich durchaus egoistische Motive, und das merkt man, trotz dessen, dass ich es versucht habe, zu verstecken. Und dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen. Jetzt stehe ich zumindest zu dem, was darin stand und habe keine egoistischen Hintergedanken dabei.
Heute möchte ich dir aus einem anderen Grund schreiben. Ich habe die letzten zwei Jahre so verdammt viele Briefe wie diesen an dich geschrieben, aber jeden einzelnen davon entsorgt. Jeder davon triefte nur vor Selbstmitleid, Trauer und Entschuldigungen und ich realisierte, dass ich das nur geschrieben habe, um mich selbst besser zu fühlen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass ich in den ersten drei Jahren zunächst mein richtiges Ich wiederfinden musste, ich musste mich heilen und mich von der Persönlichkeit abspalten, die nicht da sein sollte und mich übernommen hatte. Jetzt habe ich mich die letzten zwei Jahre mit der Frage der Schuld auseinandergesetzt. Es ist schon ironisch, ich weiß. Der Täter fragt sich, wer Schuld ist, witzig. Aber nein, wenn man darüber nachdenkt, ist es eigentlich eine wirklich tiefsinnige Frage. In all den Briefen, die ich verworfen habe, habe ich mich bei dir entschuldigt, für etwas, über das ich gar keine Kontrolle hatte. Also theoretisch für eine Tat, die ich nicht begangen habe. Und trotzdem trage ich doch die Schuld, weil es mein Körper war, der handelte. Ich habe mir die ganze Zeit über die Schuld an dem gegeben, was passiert ist. Ich meine, wem auch sonst? Einer muss ja Schuld sein. Ich kann auch jetzt nicht sagen, wie ich dazu stehe. Einerseits tut es mir furchtbar Leid, was geschehen ist, jedoch weiß ich nicht, ob ich mich für die Tat entschuldigen will, die ich ja nicht begangen habe, oder für dein Schicksal. Und deshalb wollte ich deine Meinung dazu hören. Jetzt, wo du weißt, dass ich nicht die Person war, die gehandelt hat und auch von der Krankheit geheilt bin... Wem gibst du nun du Schuld, falls du über uns nachdenken solltest? Mir, dir oder niemandem? Vielleicht beiden?
Ich bin einfach verwirrt, überfordert und ratlos. Noch dazu einsam und vom Rest der Welt abgeschnitten.
Um auf den Punkt zu kommen: Wie geht es jetzt weiter und was kann ich tun, dass es besser wird? Was kann ich tun, um wieder an dem Punkt zu sein, an dem wir uns früher befunden haben? (Wie) soll ich eine Schuld auf mich nehmen, mich damit abfinden und alles verarbeiten, wenn ich nicht schuldig bin und ich keine Ahnung habe, wie?
Es tut mir Leid, dich das fragen zu müssen. Aber ich sehe dich noch immer als so etwas wie einen besten Freund, als Bezugsperson, als Stütze. Aber du bist nicht mehr da. Und ein weiteres Mal ohne dich klar zu kommen, macht mir Angst. Ich will diesen Kampf gegen meine Krankheit nicht verlieren. Ich möchte das nicht noch einmal durchleben müssen, genauso wenig wie ich mir das für dich wünsche."

25. Mai, 2029

Schau in den Karton und lies dann weiter, sonst ergibt es keinen Sinn. Du musst erst die Zwischenwand entfernen.

Ich wende das erste Mal seit den letzten Minuten den Blick wieder vom Geschriebenen ab. Ich konnte bis jetzt noch gar nicht richtig verarbeiten, was da steht und habe noch kaum darüber nachdenken können. Diese Pause hilft mir hoffentlich dabei, einen klaren Kopf zu kriegen.

Also greife ich mit der Hand in den Karton fummele darin herum, um die Zwischenwand am besten greifen zu können. Aber stimmt, nun, wo er sie erwähnt. Ich habe mich bereits gewundert, wo all das klimpernde Zeug ist, schließlich kann der Karton mit drei Briefen nicht so schwer sein und wird bei der Größe auch sicherlich mehr beinhalten.

Als ich schließlich die Zwischenwand zwischen die Pfoten kriege, ziehe ich sie mit einem Ruck heraus. Dann wage ich einen Blick in die Box.

Auf dem ersten Blick sehe ich nur violett und grün angemaltes Holz. Als ich jedoch den Karton auf dem Boden vorsichtig ausschütte, erkenne ich, was das hier ist.
Er hat tatsächlich mehrere Hyazinthen aus Holz geschnitzt. Jede Blüte wurde einzeln geschnitzt, angemalt und an den Stängel geklebt worden. Aber wofür? Vielleicht sollte ich den Brief weiterlesen.

Mittlerweile solltest du also gesehen haben, was sich darin befindet. Vielleicht wirst du es nicht verstehen, also lass es mich dir erklären.
Ich kann mich noch gut an jedes Wochenende vor 17 Jahren erinnern. Es war das Wochenende, an welchem wir das letzte Mal Kind sein wollten. Weißt du, ich bin jetzt doppelt so alt wie damals und es erscheint mir so lächerlich, dass wir damals dachten, dass unser Leben nach der Kindheit vorbei sei, und auch nach diesem Treffen war es noch lange nicht vorbei. Der Wunsch von heute, noch einmal Kind zu sein, ist viel größer als damals, als wir noch Jugendliche waren und all die Zeit der Welt hatten. Ich bin mir zwar sicher, dass ich mit sechzig wieder sagen werde, dass ich mit 34 noch längst nicht fertig mit meinem Leben war, aber für den Moment sehe ich nur Reue, ich sehe nur die Fehler, die ich in der Vergangenheit gemacht habe und nicht die Dinge, die ich in der Zukunft richtig machen werde. Ja, noch einmal Kind zu sein, wäre wirklich wunderbar. Aber ich schweife ab.
An dem Wochenende hast du mir deine Schnitzereien gezeigt, mir gezeigt, dass du deine Gefühle in Form von Blüten auszudrücken versuchst. Du hast sie nach deinem Umzug sicherlich alle zurückgelassen und sie sind aufgrund des Feuers vielleicht allesamt verbrannt. Doch selbst wenn nicht: Meine Intention war nicht das Kopieren von dem, was du erfunden hast, viel eher habe ich einen Weg gesucht, um zu dir durchzudringen, wieder Gemeinsamkeiten zu haben. Deshalb habe ich das Schnitzen in den letzten fünf Jahren gelernt und soweit perfektioniert, bis es zu dem Endergebnis kam. Das ist ziemlich schwierig gewesen mit nur einem Arm, aber es geht. Natürlich konnte das ganze nicht unentdeckt bleiben, sowas spricht sich rum. Ich habe zuerst Ärger bekommen, weil wir hier offensichtlich keine Messer besitzen dürfen, aber als sie gesehen haben, dass ich mir damit nichts angetan habe, haben sie sich dazu entschieden, das Schnitzen von Blumen, um seine Gefühle auszudrücken, in ihre Therapiemethoden mit ein zu binden, unter dem Namen „UshiTen-Methode". Das ganze ist natürlich noch in der Planungsphase, da man trotzdem keinen Patienten in einem offenen psychischen Krankenhaus mal eben mit Messern ausstatten darf. Ich habe natürlich gesagt, dass es allein deine Idee war, aber sie wollten trotzdem auch einen Teil nach mir benennen. Und als ich das gehört habe, dachte ich, dass es eine Art Zeichen sein, dass wir noch einmal zusammenkommen sollten.
Ich weiß nicht, ob du noch fit auf dem Gebiet der Blumendeutung bist, aber violette Hyazinthen symbolisieren Reue, das Bedauern einer Situation und den Ruf nach Vergebung. Und genau das ist es, was ich ausdrücken will.
Ich hege seit Jahren schon den Wunsch, wieder mit dir reden zu können, dich wieder in meinem Leben zu haben, nach wie vor meine Zukunft mit dir zu verbringen. Und das ist der Grund, weshalb ich dir die Holzblüten schenken wollte.
Ich denke, du solltest durch die Briefe verstanden haben, dass ich es ernst meine. Letzten Endes bist es immer noch du, der das entscheidet und deshalb werde ich auf dich warten, bis du dich entschieden hast oder falls du dich entscheiden wirst...Egal, welche Entscheidung du triffst, ich werde immer da sein und darauf warten, dass wir eines Tages wieder wie früher zusammen sein können. Ich liebe dich nach wie vor.
Solltest du mich noch einmal sehen wollen, habe ich dir die Adresse in den Karton geschrieben.
Sollten wir uns aber nicht mehr sehen, dann bitte ich noch einmal ausdrücklich um Verzeihung. Ich kann nicht mehr tun, als hoffen, dass du deinen Weg noch findest.

Als ich die letzten Sätze lese, verschwimmt meine Sicht immer mehr, bis schließ Tränen meine Wangen runterfließen. Ich weiß nicht einmal, warum das so ist. Ich halte den Brief nicht für besonders rührend oder verletzend. Ich glaube, dass es daran liegt, dass ich diese Gefühle die letzten zehn Jahre lang eingeschlossen habe, geschwiegen hatte und nicht daran geglaubt habe, dass unsere Geschichte jemals wieder in einem gemeinsamen Pfad münden würde.

Die Frage ist leicht zu beantworten. Natürlich will ich ihn noch einmal sehen. Mir ist bewusst, dass nicht schlagartig wieder alles wie vorher sein kann und dass wir unsere Zeit benötigen werden, um wieder zu uns zu finden, aber darüber sollte ich mir keine Gedanken machen.

Stattdessen kommt mir eine ganz andere Idee. In einem Punkt hatte Tendou nämlich sicher Unrecht. So schnell ich also kann, rolle ich mich mit dem Rollstuhl aus meinem Zimmer, aus dem Flur und schließlich durch die Haustür auf die Straße. Bis zur Farm meines Vaters ist es nicht weit, also ist es kein Akt, bis dort hin zu fahren.

Dort angekommen öffne ich also das Tor, fahre an dem renovierten Landhaus vorbei und betrete dann den kleinen Schuppen, in welchem ich immer meine Holzblüten geschnitzt und aufbewahrt hatte. Ich bin auf der Suche nach einer ganz bestimmten Blüte.

Während ich das tue, rufe ich mir ein Gespräch von vor 17 Jahren wieder ins Gedächtnis, von dem ich nicht wusste, dass ich mich noch daran erinnern kann.

„Und was wird das?'', hatte er damals gefragt, mit Blick auf eine unfertige Schnitzerei.
Eine Rose sollte es werden, daran erinnere ich mich.
„Oha, ich bin zwar kein Experte, aber die stehen doch sicherlich für Liebe, oder? Ich wusste doch, dass es zwischen uns funkt.'', hatte er damals dazu gesagt, und ich habe natürlich nicht gewusst, dass er das eigentlich ernst meinte.
„Die roten vielleicht. Aber tiefrote beziehungsweise schwarze Rosen stehen für Bedrohung.''
„Und welchen Anstrich willst du ihr verpassen und woher weißt du das dann?''
„Ich versuche, es herauszufinden. Für den Moment ist sie tiefrot. Aber vielleicht kommt es ja zu einer Verfärbung durch Abnutzung der Farbe und es bringt mich zu der Antwort auf die Frage, die ich mir stets stelle.''

Fakt ist: ich habe die Holzblüten nach ihrer Fertigstellung tiefrot angemalt. Die einzige Rose, die ich im Schuppen aber noch finde, ist normal rot. Und weil ich niemals Schnitzereien entsorgt habe, muss es ein Zeichen sein. Die Farbe der tiefroten Rose hat sich, wie von mir bereits mit einberechnet, tatsächlich durch die Abnutzung verfärbt. Was klar ist, da sie seit 17 Jahren hier drin lag und nicht angefasst wurde.

Es muss das letzte Zeichen sein, auf das ich gewartet habe. Darauf, dass die Rose rot wird und Liebe symbolisiert, keine Bedrohung mehr.
Normalerweise glaube ich nicht an so einen Kitsch, aber irgendwie fühle ich trotzdem, dass es die richtige Entscheidung wäre, der Sache mit Tendou noch eine Chance zu geben.

Ich bin also festentschlossen, ihn noch einmal wieder zu sehen.
Voller Tatendrang rolle ich mich wieder vom Hof, so mühselig das auch sein mag, immerhin ist hier überall Schotter und unebener Boden. Obwohl es früh ist, treffe ich zum Glück meinen Vater nicht, der würde auch sicherlich einen Schock kriegen, wenn sein Sohn, der nicht mehr spricht und ständig nur mit dem Rollstuhl in irgendeiner Ecke sitzt, plötzlich um sechs Uhr morgens quietschfidel über seinen Hof rollen würde. Diese Begegnung brauche ich wirklich nicht.

Ich fahre, so schnell ich kann, wieder denselben Weg zurück, wie ich gekommen war. Ich glaube, das letzte Mal hatte ich so viel Energie und so eine Motivation, als ich noch Volleyball gespielt habe. Also vor Jahren. Aber, je schneller ich dort bin, desto schneller kann ich es geschehen lassen.

Als ich die Tür öffne und mich gerade reinbegeben will, kommt jedoch eine Gestalt die Treppe runter. Ich kann nicht sagen, wer sich mehr erschreckt hat, dass plötzlich jemand vor ihm auftaucht, aber wahrscheinlich ist es Chikara, schließlich komme ich um sechs Uhr von draußen einfach ins Haus und bewege mich das erste Mal weiter als um eine 360 Grad-Drehung vor ihren Augen und bei ihr weiß ich ja, wie früh sie schon wach wird.

„Papa? Was machst du denn da? Geh wieder schlafen, es ist früh.", nuschelt sie, so verschlafen, wie sie eben noch ist.
„Ich muss zu Satori.", entgegne ich, völlig verdrängend, dass es das erste Mal ist, dass ich mit ihr rede, seitdem sie fünf Jahre alt war.
Erschrocken schaut sie mir in die Augen, als hätte sie damit gerechnet, dass ich sie weiterhin nur anschweige und blind getan hätte, was sie von mir möchte. Jedoch schafft sie es gut, ihren Schock zu überspielen, um es nicht unangenehmer zu machen, als es ist.

„Schön und gut, aber doch nicht um sechs in der früh... Die Besuchszeit beginnt erst ab 13 Uhr 30. Komm' erst mal wieder runter. Woher kommt denn der plötzliche Sinneswandel?"

„Das ist nicht wichtig. Ich muss ihn aber jetzt sehen. Es ist dringend. Du weißt doch, welches sein Zimmer ist. Wenn wir nicht rein kommen, muss er eben rauskommen."

„Wir?"

„Ja, du kommst mit. Ich weiß doch sonst nicht, wo ich hin muss und alleine ist es nicht gerade einfach."

Sie seufzt wehmütig, streckt sich dann einmal und legt dann ihre Stirn auf ihrer Handfläche ab.

„Na gut. Aber dann fahren wir mit der Bahn. Lass mich wenigstens vorher etwas essen, sonst wird mir schlecht. Du solltest auch etwas zu dir nehmen."
„Lieber nicht. Reizdarm."

Nachdem Chikara also eine Kleinigkeit gefrühstückt und sich angezogen hat, werfe ich mir eine Jacke über und begebe mich in Richtung Tür. Wenn jetzt alles so klappen sollte, wie es geplant war, dann wird heute der Tag sein, an dem ich ihn wiedersehe. Ob das eine gute Entscheidung ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass es sich für mich richtig anfühlt. Selbst wenn wir keine Beziehung führen, selbst wenn wir nicht einmal mehr Freunde sein können, ist es mir wichtig, noch einmal geredet zu haben, bevor der Kontakt gänzlich abbricht. Und es war noch nie eine schlechte Idee, ein Gespräch zu suchen.

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