🖤 05

Einen Moment lang sehe ich ihn an, wie er hier am Tisch sitzt und heult und mich sowie sein Leben hasst, dann stehe ich auf und begebe mich in den Flur um durchzuatmen. Ich bin wirklich keine Hilfe für ihn. Ich sollte mir einen neuen Job suchen. Naja, vielleicht würde es reichen, wenn ich die Abteilung wechsle, oder zumindest den Schreibtisch, denn eigentlich gefallen mir der Job und die Rahmenbedingungen. Ist das zu egoistisch? Andererseits könnten mir die privaten Sorgen meiner Kollegen auch egal sein.

Wenn es nur nicht so schlimm wäre. Ich kriege einfach nicht aus dem Kopf, wie Inho mich vor seinem Kühlschrank angesehen hat, und dass er mich anschreit und meinetwegen leidet, sorgt nicht gerade für ein ruhiges Gewissen.

Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass die zwei Minuten schon längst verstrichen sind. Ich wage einen Blick ins Büro. Inho schultert soeben seinen Rucksack. Von Tränen keine Spur, nur seine Augen sind noch leicht gerötet. "Sorry, dass ich dich ständig so angehe. Bis morgen", sagt er kalt und läuft an mir vorbei. Er ist ein passabler Schauspieler, wer Tipps braucht, wie man das eigene innere Elend vor anderen verbirgt, sollte ihn anrufen. Ich habe seine Nummer nicht, aber mir geht auch es bei Weitem nicht so bescheiden wie ihm.

Ich weiß allerdings, wo er wohnt.

Kurzerhand schaue ich nach, wie lange ich von hier aus bis zu ihm brauche. Außerdem sehe ich mir die Strecke von hier bis zum Kindergarten an, der ungefähr auf der Hälfte des Weges liegt, und überlege, wann ich am besten aufbreche, damit ich nicht viel zu früh dort auftauche.

Wird Momo sich freuen mich zu sehen? Hoffentlich.

Wird Inho mich dafür noch mehr hassen? Garantiert.

Ich muss ja nur kurz hin, die Sache aufklären, und dann wird zumindest zwischen Momo und Inho wieder alles gut. In der Bahn denke ich nach, was ich sage. "Hallo Momo, sei nicht böse auf Inho, er sieht deinen Papa NICHT jeden Tag auf Arbeit ohne es dir zu sagen. Ich bin nämlich nicht dein Papa. Der ist wirklich tot." Sche¡ße.

Das hab ich mir nicht gut überlegt, aber nun bin ich schon unterwegs. An der nächsten Haltestelle könnte ich noch aussteigen. Das ist die Haltestelle in der Nähe des Kindergartens, und vielleicht passt mein Timing in dem Sinne, dass ich unauffällig aussteigen kann und ihnen nicht über den Weg laufe, wenn ich zurückfahre.

Es passt nicht.

Inho wirft mir von außen Todesblicke zu, als die Bahn einfährt und die Kinder sofort auf und ab hüpfen, sobald sie mich an der Tür bemerken. "Papa!", schreien beide laut und stürmen auf mich zu. Inho stellt sich hinter uns und tut so, als würde er uns gar nicht kennen, während die Kinder sich an mir festklammern und freudestrahlend zu mir hochschauen.

"Du baust echt nur Sche¡ße", raunt er mir beim Aussteigen zu.

"Nis seise sagen!", empört sich die Kleine, die artig an meiner rechten Hand läuft. Ihr Bruder hat sich die linke gekrallt und Inho trägt die drei Rucksäcke.

"Du hörst auch alles!", sagt er und wirft ihr ein Lächeln zu, dass sofort abstirbt, als ich meinen Kopf in seine Richtung drehe.

"Imma alles!", bestätigt sie stolz. Momo fängt an, von ihrem Tag zu erzählen und sie gibt zwischendurch ihren Senf dazu. Kindergartenalltag ist wirklich spannend.

"Und als ich aufgewacht bin, lag die Mausi zwischen meinen Füßen!", kichert er. "Die ist wohl durchs ganze Bett gewandert beim Mittagsschlaf!"

"Klingt toll. Und wer schläft bei Teddy?"

Nun gibt er ein empörtes Geräusch von sich. "Hast du etwa den Klaus vergessen?? Den hat sie doch schon immer!"

"Oh. Achso." Peinlich. Ich räuspere mich und merke einen entsetzten Seitenblick von Inho. Okay, falscher Zeitpunkt. Erstmal Zuhause ankommen und hinsetzen. Irgendwie muss ich die Sache dann aufklären.

"Isst du heut mit uns Abendbrot?", fragt Momo, als wir uns in der Wohnung ausziehen und er mir die selben Hausschuhe reicht wie vorgestern.

"Äh?"

"Hunga!", meldet sich Teddy.

"Nono, was gibt's heut?"

"Nudelsuppe."

"Jaaaaa!" Beide Kinder rasen in die Küche. Geschirrgeklapper und lautes Scheppern ist zu hören. Inho folgt ihnen und lässt mich hier stehen. Unsicher stehe ich vor der offenen Küchentür und schaue zu, wie er heißes Wasser ansetzt und die Kinder vier Schüsseln und Besteck an mir vorbei ins Wohnzimmer schaffen.

"Ihr könnt spielen, bis das Essen fertig ist", ruft er ihnen nach, dann wendet er sich an mich: "Komm rein oder geh mit spielen, aber mach die Tür zu."

Ich entscheide mich für die Küche und sehe ihm dann beim Kochen zu. "Inho-"

"Red bitte nicht mit mir. Ich will nicht schon wieder heulen."

"Okay..."

Sicherlich bemerkt er meinen Blick auf sich, aber er konzentriert sich ausschließlich auf das Essen, während ich untätig an der Theke lehne. Seine Suppe umzurühren schafft er selbst. Irgendwann drückt er mir Kimchi in die Hand, das ich ins Wohnzimmer schaffen soll, und folgt mir mit dem heißen Topf. Die Suppe riecht gut und ich habe Hunger. Vorm Essen spricht Momo das Tischgebet: "Danke lieber Gott, dass Nonos Essen immer sehr gut schmeckt. Amen."

Wir anderen drei antworten mit Amen, dann lassen wir es uns alle schmecken. Teddy spielt mit dem Essen und Momo erzählt mir weiter vom Tag im Kindergarten. Inho ignoriert er. Und Inho ignoriert mich. Er kümmert sich um Teddy und ich mich um Momo, und so kommt es mir hier fast vor wie bei einer richtigen Familie. Jede Familie streitet doch mal. Ich bin mir sicher, das wird wieder.

"Wusstest du, dass Inho gar keine eigene Bibel hat?", fällt dem Kleinen mitten beim Erzählen ein. Sag ich doch, das wird wieder. Jetzt ignorieren die zwei sich endlich nicht mehr.

"Achso?", hake ich nach.

"Jaaa. Aber er liest in unserer Kinderbibel mit."

"Manches ist ganz interessant", meint Inho.

"Du bist wohl nicht christlich?"

"Nein. Meine Familie hat das jedem freigestellt, woran man glaubt, und da mein Schwager streng katholisch war, ist meine Schwester seiner Kirche beigetreten, damit sie dort heiraten können."

"Wir gehen auch in die Kirche. Manchmal", erzählt Momo.

"Ich versuchs, aber ich kann mir das nicht jeden einzelnen Sonntag antun", wispert Inho mir zu.

"Nono glaubt eben nicht an den Gott von uns, aber Gott hat ihn trotzdem lieb. Gott hat alle lieb."

"Das hast du schön gesagt", lobe ich Momo.

"Ja! Es gibt ganz verschiedene Religionen, und manche streiten sich, aber eigentlich könnten sich alle vertragen. Das soll jeder selber entscheiden, woran er glaubt, sagt Inho auch immer."

"Finde ich gut. Wart ihr eigentlich schonmal in einer protestantischen Kirche?"

"Nein, aber in einer Syma... Symptagobe? Symbiose? Syn... äh?", überlegt er.

"Synagoge?", helfe ich ihm auf die Sprünge.

"Ja genau. Und ich hab schon ganz viele verschiedene Jesusse gesehen, aber Gott noch nie. Den kann man nicht sehen. Hast du Gott gesehen?"

"Nein."

"Ich dachte, den trifft man im Himmel."

"Wenn man Glück hat, vielleicht."

"Aber Petrus hast du bestimmt schon gesehen!"

"Ist gut jetzt", ermahnt Inho ihn.

"Aber ich will doch wissen, wie es im Himmel aussieht!"

"Der Himmel sieht für jeden anders aus", antworte ich und damit gibt er sich fürs erste zufrieden.

"In meinem darf ich bestimmt Feuerwehrauto fahren!"

"Ganz sicher, aber bis dahin ist es noch viele Jahre hin."

"Ja, ich geh ja noch nichtmal zur Schule. Kommst du zu meinem Schuleingang?"

"Genug Fragen jetzt." Inho sieht ihn streng an.

Dann meldet sich Teddy und schiebt ihren Teller zu mir. "Mehr bitte bitte." Ich schenke ihr eine Kelle voll Suppe mit Sternchennudeln nach.

"Ich frag einfach Gott, ob er dich vorbeischicken kann", beschließt Momo und lässt sich von Inho einen Nachschlag geben. Ich will auch noch mehr und halte ihm ebenfalls meinen Teller hin.

"Es schmeckt sehr lecker."

"Danke."

"Papa, liest du uns dann was vor?"

"Äh..."

"Hast du dein Zimmer aufgeräumt?", erinnert ihn Inho, woraufhin er lautstark mault. Ich erkenne viele Eigenarten von Inho in ihm wieder und versuche nicht zu seufzen. Ich hätte auch gern Kinder. Insgeheim weiß ich tief in meinem Herzen, dass ich gern Teil dieser süßen Familie wäre, aber ich tue ihnen nicht gut. Die Erkenntnis meines eigenen Egoismus lässt mich meinen Appetit verlieren. Inho hat recht, ich sollte nicht hier sein. Und ich sollte damit aufhören, ihnen Schmerzen zu bereiten.

"Ich muss dann wieder gehen", verkünde ich leise.

"Och neiiiiin!", ruft Momo traurig.

"Tut mir leid."

"Eine Geschichte, biiiitte! Nur eine einzige!"

"Du musst das nicht machen", sagt Inho und seufzt, als er meinen Blick sieht. "Also, wenn du willst, ok, aber nur eine, und dann wird Zimmer aufgeräumt."

Zu viert setzen wir uns nach dem Essen aufs Sofa, Inho links von mir mit Teddy auf dem Schoß, rechts Momo, und in meinen Händen das Buch von Raupe Nimmersatt.

"Die Raupe ist so wie Papa", kichert Momo zwischendurch. "Immer ganz viel essen, nomnomnom."

"Nomnomnom", plappert Teddy nach.

Irgendwie klingt das nach mir. Ich esse auch gern. Die Wiedergeburt ihres Vaters kann ich aber nicht sein, ich lebe ja schon ein Vierteljahrhundert. Außerdem bin ich kein Buddhist. Als ich das Buch zuklappe, blicken mir zwei Schmollschnuten entgegen.

"So. Geht tschüss sagen", legt Inho fest.

Mit mir an der Hand schlürft Momo in den Flur, Teddy tapst uns hinterher. So wie letztens bekomme ich von beiden eine Umarmung und ein feuchtes Küsschen.

Momo will mich nicht loslassen. "Kannst du nicht hier einziehen? Wo bist du denn, wenn du nicht auf Arbeit bist? Wohnst du im Himmel? Und warum kann Mama nichtmal herkommen?"

"Momo. Nur dass du es weißt. Ich sehe deinen Papa NICHT jeden Tag auf Arbeit, hörst du?", ruft Inho aus dem Wohnzimmer. "Und jetzt hör auf, ihn mit Fragen zu löchern."

"Das stimmt", pflichte ich ihm bei. "Sei nicht sauer auf Nono, okay?"

"Bin ich schon gar nicht mehr. Ich bin nur traurig", sagt er leise.

"Trausig", bestätigt Teddy.

"Und nur dass du es weißt. Ich hab ihn trotzdem lieb, und er mich auch, auch wenn wir uns zanken. Sei du nicht böse auf mich, ja? Oder auf Nono."

"Bin ich nicht", versichere ich ihm.

"Oki. Gut. Musst du jetzt wirklich schon los?"

"Ja, leider."

"Na gut. Grüß Mama, okay? Und vergiss Nonos Küsschen nicht."

"Wir küssen uns nicht", ertönt Inhos Stimme neben uns.

"Aber warum??", fragt Momo völlig verwirrt. "Habt ihr früher doch-"

"Ab in euer Zimmer, jetzt wird aufgeräumt."

Momo zieht eine Schnute, winkt mir dann aber und geht mit Teddy in ihr Zimmer.

"Tschüss", sagt Inho kalt und schließt die Tür hinter mir.

"Ja... tschüss", murmle ich von außen. Er hasst mich wirklich, zu recht, und wird das vermutlich noch lange Zeit tun.

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