🖤 01

Hektisch drängeln sich die Kollegen im Kopierraum. "Aktuelle Quartalszahlen für Projektleiter?", ruft einer und hält ein paar Blätter hoch.

"Hier! Das sind meine!" Ich strecke den Arm aus und bekomme sie durchgereicht. Ausgerechnet heute, an dem Tag, an dem üblicherweise die Berichte abgegeben werden müssen, sind zwei Drucker auf einmal kaputtgegangen, und nun drehen alle Kollegen durch, weil sie kurz vor der Mittagspause noch schnell was drucken müssen.

Froh, aus diesem Gewirr entkommen zu sein, begebe ich mich auf den Weg zu meinem Projektleiter, kurz PL, dem ich den Bericht vorlegen muss, damit er ihn unterschreiben und dem Chef geben kann. Ich finde, dieser Prozess sollte abgeschafft werden. Wozu gibt es E-Mails? Die kann man auch digital signieren, aber statt die entsprechenden Zertifikate zu kaufen, gibt man hier lieber Geld für Papier aus. Wenigstens sind sie so fortschrittlich, dass sich alle mit Du ansprechen.

Leider bin ich noch nicht lange in diesem Unternehmen und konnte dem Chef das Vorgehen meiner alten Firma noch nicht schmackhaft machen. Und mit meinem PL komme ich auch noch nicht gut aus.

Untergeben stelle ich mich neben seinen Schreibtisch und halte ihm wortlos die Dokumente hin, da er, wie so oft, mitten in einer Telefonkonferenz steckt. Nickend nimmt er sie mir ab, ohne mich eines Blickes zu würdigen, blättert kurz durch und schaltet dann das Mikro seines Headsets stumm, eh er frustriert seufzt. "Da fehlen Seite 5 und 7", meint er knapp und widmet sich sofort wieder seiner Telko.

"Ähm. Entschuldige." Nochmal auf zum Drucker, toll.

Nun ist der Raum wie leergefegt, zumindest was Menschen betrifft. Der Fußboden hingegen sieht aus wie ein Schlachtfeld, überall liegen Blätter auf dem Boden, viele zerissen oder mit schwarzen Fußabdrücken, weil offenbar das eine Tintenfach des Druckers ausläuft. Der Hausmeister wird sich freuen. Ich folge der Schneise, die mitten hindurch führt, und schaue auf dem Tisch nach, ob irgendwo noch lesbare Papiere rumliegen. Jemand war tatsächlich so nett, alle übriggebliebenen Blätter säuberlich zu stapeln. Darunter befinden sich meine gesuchten Seiten.

Ich kehre zurück in mein Büro und sortiere sie zwischen die anderen Seiten, die noch auf Inhos vollgepacktem Schreibtisch liegen, während er am Telefon diskutiert. Organisiert sieht anders aus, aber das werde ich sicher nicht ansprechen. Inho hasst mich sowieso schon, seit ich vor einem Monat hier angefangen habe, und ich weiß absolut nicht, warum. Er wirft mir nur einen genervten Blick zu, als ich den Bericht wieder neben seine Tastatur lege.

Tief durchatmend mache ich mich auf den Weg zur Kaffeeküche.

"Oh, Hyunuk! Wann gehst du heut essen?", fragt die Kollegin, die mir letzte Woche Bilder von ihren beiden süßen Kindern gezeigt hat, als sie an der Küche vorbeiläuft und stehenbleibt, sobald sie mich am Kaffeeautomaten sieht.

"Weiß ich noch nicht. Hab viel zu tun", erwidere ich schulterzuckend.

"Achso. Ok. Ertränkt dich Inho wieder in Aufgaben?"

"Es geht. Er hat ja selber viel zu tun."

Wheein seufzt. "Du bist so nett. Ich weiß genau, wie er zu dir ist, ich hätte längst gekündigt, wäre ich an deiner Stelle."

"Naja. Ich will mich hier nicht vermaulen. Als PL ist er nunmal gestresst. Es wäre nur schön... naja, er müsste es nicht immer an mir auslassen. Nur, weil ich der Neue bin oder was?" Ich muss aufpassen, was ich sage. Ich bin noch in der Probezeit und will mich hier nicht aufregen.

"Früher war er nicht so. Vielleicht ist es nur der Stress, er redet ja kaum noch mit jemandem, und er kriegt auch alles vom Chef ab, wenn es nicht so gut läuft."

"Ja... ich hoffe, nächsten Monat, wenn weniger los ist im Projekt, wird's besser."

"Ja, hoffentlich." Ermutigend lächelt sie mich an. "So, ich muss zur Kantine, die anderen warten schon. Sag Bescheid, wenn was ist, ja?"

"Ja, danke. Bis später."

Ich hasse es, den Platz direkt neben Inho zu haben. Die meiste Zeit ignorieren wir uns. Oft ist die Stimmung unangenehm. Mit einem Klonk stelle ich meine Tasse auf meinem Schreibtisch ab und er wirft einen kurzen Blick rüber. Ich habe auch schon gesehen, dass die Praktikantin ihm Kaffee gebracht hat, aber ich finde, das muss nicht sein. Er kann sich seinen sche¡ß Kaffee selber holen.

Ich hätte doch mit den Kollegen essen gehen sollen. Jetzt sitze ich hier allein mit Inho im Büro. Seine Telko ist wohl schon vorbei, jedenfalls sitzt er ohne Kopfhörer hier, tippt nervös auf seinem Handy herum und flucht die ganze Zeit leise. "Sche¡ße!", sagt er irgendwann laut und springt auf. Eilig verlässt er das Zimmer. Ich mache das Fenster auf. Die Luft hier ist so stickig.

Aus dem Büro des Chefs, wo man auf dem Weg zum Klo vorbeikommt, dringen laute Stimmen. Eine davon gehört Inho. Hört sich nicht gut an, dabei war der Bericht gar nicht so schlecht.

An den Spiegeln hängen Anweisungen, wie man sich richtig die Hände wäscht. Mit Seife, gründlich, mindestens 30 Sekunden, und außerdem ordentlich abtrocknen. Nicht alle halten sich daran. Ganz schön eklig. Selbst wenn man nur pissen war, die dreckigen Klinken fasst man trotzdem an. Wenigstens werden diese zurzeit viermal täglich vom Reinigungspersonal desinfiziert.

Auf dem Rückweg stürzt Inho aus der Tür und stolpert direkt mich rein. Reflexartig fange ich ihn auf. "Sche¡ße, sorry", sagt er hastig und es hört sich an wie ein Schluchzen. Erschrocken sehe ich ihn mir genauer an.

Seine Wangen sind tränenüberströmt und er wird von einem weiteren Schluchzer durchgeschüttelt. So aufgelöst habe ich ihn noch nie gesehen. Es tut richtig weh, jemanden so zu sehen, selbst wenn es ein Arsch wie Inho ist. "Was ist los?", frage ich vorsichtig. Er schüttelt heftig den Kopf.

Erstmal weg hier. Ich ziehe ihn zu unserem Büro, platziere ihn auf seinem Stuhl und biete ihm sogar meinen Kaffee an. Inho verzieht weinend das Gesicht und fängt an seine Sachen zu packen. "Danke, aber ich muss dringend los."

"Was ist denn passiert?"

"Ist... nicht der Rede wert. Vergiss es." Nach 'nicht der Rede wert' sieht mir das aber nicht aus. Inho packt seine ganzen Sachen ein. Bevor er auch seinen Laptop und das Headset in seinen überquellenden Rucksack stopft, schießt mir kurz "Kündigung" durch den Kopf, aber jetzt sieht es eher so aus, als würde er sich einen Haufen Arbeit mit nach Hause nehmen. Mittendrin klingelt sein Handy. Er lässt einen Stapel Zettel fallen und angelt nach dem Gerät, wobei ihm alles vom Tisch fällt. Ich hebe das Handy auf und halte es ihm hin. Kita ruft an.

"Sche¡ße, was denn jetzt noch, ja hallo? Ja, ich bin schon unterwegs", schnauzt er genervt in den Hörer und ist schon wieder den Tränen nahe. "Ja!" Vehement legt er auf und atmet dann tief durch.

"Kita?", frage ich besorgt. Ich wusste gar nicht, dass er ein Kind hat. Oder sogar mehrere.

Inho nickt und wischt sich energisch durchs Gesicht. "Ich muss die Kleinen abholen. Da geht grad die Seuche um", sagt er gefasst.

"Etwa Corona??"

"Bei Gott, nein! Irgendwas mit Magen-Darm. Teddy ist da sehr empfindlich, keine Ahnung, ob sie es auch hat oder nur solidarisch mitgekotzt hat. Ich hoffe letzteres, ich will nicht, dass mir das Jugendamt auf die Pelle rückt." Seine Stimme wird immer leiser und das Handy in seiner Hand fängt an zu zittern.

"Von einmal krank sein wird doch nicht das Jugendamt...", fange ich an und werde auch immer leiser, da sein angsterfüllter Blick mich zum Schweigen bringt. Was ist da nur los bei ihm? Nervös räuspere ich mich. "Brauchst du... vielleicht Hilfe von...?" Mitten in der Frage reißt jemand die Tür auf.

"Hilfe? Braucht ihr was?", fragt die Assistentin vom Chef.

"Ähm, nein, es geht um... die Kinder...", brabbele ich.

"Du wirst doch wohl nicht sein Kindermädchen spielen wollen? Naja, obwohl... bevor er wieder bis abends ausfällt und dann die Nacht durcharbeitet", überlegt sie und wendet sich streng an Inho: "Du weißt, was dir blüht, wenn du so weitermachst! Der Chef erwartet dich morgen früh pünktlich in seinem Büro!" Schon ist sie wieder verschwunden. Inho steht wie ein Häufchen Elend vor seinem Tisch.

"Also äh, brauchst du Hilfe?" Eigentlich meinte ich professionelle Hilfe, ein richtiges Kindermädchen oder so, und hoffe, dass er höflich ablehnt.

Genau das tut er auch. "Lass gut sein, Hyunuk. Das geht dich nichts an und braucht dich nicht zu sorgen." Mit herabhängenden Schultern greift er seinen Rucksack und schlurft zur Tür. Ich bleibe hier mit schlechtem Gewissen zurück.

"Warte", rufe ich, schnappe mir Tasche und Laptop und renne ihm hinterher. Nebenbei fahre ich den Rechner runter und verstaue ihn, damit ich das Ding nicht unterm Arm tragen muss.

"Hyunuk. Ich hab kein Auto, das heißt ich fahre Bahn bis zum Kindergarten und schleppe dann zwei nörgelnde, vielleicht kranke Knirpse in die nächste überfüllte Bahn. Sicher, dass du dir das antun willst?" Das klingt sehr anstrengend und durchaus so, als könne man dabei Hilfe brauchen, aber er wirkt beinahe, als würde er mich überreden wollen abzulehnen.

"Bin doch schon unterwegs", entgegne ich lapidar.

Inho schluckt und sieht aus, als wäre ihm das überhaupt nicht recht. Klar, er kann mich ja nicht leiden. Aber so wie es vorhin klang, steckt er in Schwierigkeiten und ist nicht in der Lage, von sich aus jemanden zu fragen.

Schweigend laufe ich neben ihm her zur Bahn. "Soll ich was für dich einpacken?", biete ich ihm an der Haltestelle an und klopfe auf meine Tasche, da sein Rucksack aus allen Nähten zu platzen droht.

"Geht schon", winkt er ab. Da ertönt ein leises Ratschen. Peinlich berührt stellt er seinen Rucksack ab und kramt darin herum. Ich nehme ihm seine Sachen ab, darunter eine dicke Zettelmappe, ein flauschiges Schnuffeltuch und eine Thermosflasche. "Danke", sagt er leise und sortiert seine Besitztümer.

"Kein Ding", erwidere ich und packe die Zettelmappe in meine Tasche. Den anderen Kram nimmt er mir wieder ab und räumt sie ordentlich ein. Wundersamerweise geht sein Rucksack nun problemlos zu. Er ist in exakt dem Moment fertig, als die Bahn einfährt. Während der Fahrt schweigen wir wieder.

"Was ist eigentlich mit deiner Frau?", frage ich irgendwann.

"Hab keine", erwidert er knapp.

"Bist du alleinerziehend?"

Er nickt. Ich nicke auch. Jedes Wort aus der Nase ziehen muss ich ihm nicht unbedingt, also lasse ich die Fragen einfach. Er sieht fertig aus und es ist ihm unangenehm, also schweigen wir einfach weiter. Nach drei Haltestellen steigen wir aus und laufen ein Stück. Mit jedem Meter wird Inho nervöser. Ich bin fast versucht, ein paar belanglose, beruhigende Worte zu murmeln, da bleiben wir vor einem Grundstück stehen. Der Kindergarten.

"Deine letzte Chance nach Hause zu gehen", sagt er ohne mich anzusehen.

Ich öffne das Tor und laufe den Weg entlang. Inho folgt mir. Von außen ist das Gebäude unscheinbar, aber in den Fenstern hängen bunte Bilder. Ich halte Inho die Tür auf und werde mit einem entsetzten Blick begrüßt. Die Frau, die mich anstarrt, lässt die Kiste, die sie in der Hand hat, fallen. Hundert Buntstifte purzeln heraus und aus dem ersten Raum links kommen Kinder angerannt, um sie aufzuheben. Wie lieb die sind. Ich bin begeistert!

"Das ist mein Kollege", murmelt Inho. Die Frau nickt und fummelt einige Haarsträhnen hinters Ohr. Dann räuspert sie sich.

"Die Kinder warten oben in der Bienchengruppe. Ich geh kurz Bescheid sagen." Sie schickt die Kinder mit den Stiften ins Zimmer und eilt dann den Gang entlang, um zur Treppe zu gelangen. Inho und ich stehen hier unschlüssig rum. Er hat einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, als würde er sich gleich übergeben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er keinen Magen-Darm-Infekt hat.

Von oben tönt Geschrei und Getrappel. "Nonoooo!"

Dann weiteres Geschrei, diesmal von einer erwachsenen Person: "NICHT die Treppe runterrennen!"

Die Schritte werden langsamer, aber kaum ist das Kind unten angekommen und biegt um die Ecke, rennt es los, stockt kurz, stolpert, steht sofort wieder auf und rennt weiter. Tapfer. Und schon irgendwie süß, wie sehr der kleine Junge sich freut, Inho zu sehen.

Nur komisch, dass er plötzlich an meinem Bein klebt statt an Inhos.

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