Zweite Intelligenz
Was vor Jahren als minutiös geplante und weitestgehend risikofreie Besiedelung eines neuen Planeten begann, verwandelte sich in blankes Chaos. Ihre Tochter lag in einem der neun Frachtbereiche, zu denen sie keinen Status hatten. Ob sie noch lebte, würde sie frühestens nach der Landung erfahren – falls sie denn landeten. Im Moment standen die Chancen bestenfalls 50:50. Deutlich besser als ursprünglich angenommen.
„Festhalten!", rief Beppo und hustete. Dünne Rauchfähnchen quollen aus dem schrägen Steuerpult. Viele der Instrumente waren nach dem wilden Ritt durch die Gasschichten von Il Gigante schwarz geblieben und reagierten nicht mehr. Aber aktuell hatten sie andere Probleme. „Wir erreichen den Orbit Pangaeas! Letzter Bremsschub. ... Jetzt!"
Die unnatürliche Schwerkraft presste sie für wenige Augenblicke ein letztes Mal in den Sitz. Und stoppte mit einem harten Schlag. Mist. Es hätten mindestens drei Sekunden sein müssen!
„Herb! Das war zu kurz!", rief sie.
„Tut mir leid, die Zündkammer hat der Belastung nicht standgehalten und nach 1,2 Sekunden versagt."
„Analyse! Was bedeutet das für unseren Orbit?"
„Wir werden in vier Minuten in eine ungeplante Umlaufbahn einschwenken." Sie wollte schon aufatmen. Das war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Herb war jedoch noch nicht fertig: „Aber wir werden diese auf Grund der zu hohen Fliehkraft nach drei Planetenumkreisungen wieder verlassen. Die Kraft der Steuerdüsen ist nicht ausreichend, um diesen Zeitraum deutlich zu verlängern."
„Fuck", das war Milas einziger, durchaus treffender Kommentar.
„Uns bleiben damit maximal sechs Stunden im Orbit", meinte Björn und setzte nach einer kurzen Pause hinzu: „Und ich befürchte, wir haben keine Chance, den geplanten Landeplatz südlich des äquatorialen Regenwaldes zu erreichen."
„Verflucht. Der reguläre Landeplan sah vor, dass wir zunächst die Roboter und Gerätschaften herunterbringen und alles Vorbereiten. Erst im Laufe von sechs Monaten sollten die Siedler landen." Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Herb? Können wir während der Umrundungen alle Container entladen?"
„Ja. Die noch steuerbaren 46 der 50 Container mit Kryostase-Kammern, sowie 7 von 10 Containern mit Ausrüstung könnten in drei Tranchen mit jeweils kurzem zeitlichem Abstand abgeworfen werden. Kollisionen sollten damit vermieden werden."
„Das klingt doch gut", meinte sie und atmete innerlich auf. Der Zustand des Bereichs mit ihrer Tochter war weiterhin unbekannt, jedoch würde er die Oberfläche erreichen.
„Nein, klingt es nicht", warf Björn ein. „Kurze Abstände bedeuten, dass die Container teils kilometerweit voneinander entfernt landen. Außerdem muss jede Tranche mit ausreichender Entfernung abgeworfen werden, damit die Kammern am Boden nicht aufeinanderprallen."
„Mist. Aber wir haben keine Wahl. Herb? Wo liegt das Zielgebiet und auf welche Fläche erstreckt es sich?"
Ihr wurde die Luftaufnahme eines Gebietes mit rund hundert Kilometern Kantenlänge mitten im Regenwald angezeigt.
„Oh, Shit", meinte Beppo, der sich ebenfalls über die Kartendarstellung beugte. „Das verteilt sich auf über 10.000 Quadratkilometer in unerforschtem Dschungel."
„Und was ist das hier vorne?", Mila deutete auf eine nahezu quadratische graue Box am Rande des Gebietes. „Sieht nach einer künstlichen Struktur aus oder ist das ein Fehler in der Aufnahme?"
„Unbekannt. Das ausgewählte Areal bietet jedoch die besten Überlebenschancen. Die Kryo-Kammern werden wie ursprünglich geplant kurz vor der Ankunft abgesprengt und verteilen sich auf einen kleineren Raum. Der Auftauprozess startet automatisch beim Bodenkontakt und wird durch die Umgebung nicht beeinflusst. Die einzelnen Siedler sind im Anschluss jedoch auf sich selbst gestellt. Die Gerätecontainer mit den Robotern werden gleichmäßig gestreut."
Im Schnitt würde damit jeder Mensch vom nächsten nur 200 Meter entfernt aufwachen. Eine Fläche kleiner als Schleswig-Holstein, aber immer noch das Vierfache vom Saarland. Eine seltsame Vorstellung. Das würde eine humanitäre und gesellschaftliche Mammutaufgabe.
„Hat einer von euch Bedenken oder einen besseren Plan?", fragte sie ihre Brücken-Crew. Allgemeines Kopfschütteln folgte.
„In Ordnung, Herb, wir folgen deinem Vorschlag zu Notentladung in drei Tranchen", entschied sie. „Die Menschen werden nahegenug beieinander auftauen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Wir werden das Brückenschiff als letztes abkoppeln und dann selbstständig landen."
↼⇁
Im Laufe der nächsten Stunden beobachtete sie gebannt, wie sich jeweils eine Reihe der fetten Container aus dem Leib ihres Zylinders löste und der grün-violetten Mitte des Riesenkontinents entgegenfiel. Als nur noch ein leeres Gerippe mit den insgesamt sieben verlorenen Quadern sowie dem überdimensionalen Triebwerk übrig war, dockten sie mit ihrem Beiboot ab. Ein Raumschiff, das im Grunde nur aus der Brücke bestand. Die Nostromo würde sich ab jetzt mit jeder Umrundung entfernen und irgendwann im Inneren der rötlichen Sol Rosso verglühen.
Durch die Frontscheiben blickte sie auf Pangaea. Die Strahlung des Zentralgestirns war stärker in den roten Wellenbereichen als die irdische Sonne. Daher erschien ihre neue Heimat wie im dauerhaften Sonnenuntergang und hatte einen Violettstich. Der namensgebende Riesenkontinent füllte nahezu die Hälfte des Planeten, dessen Umdrehung erdähnliche 22 Stunden dauerte. Am Nord- und Südpol war er von ewigem Eis bedeckt. Durch die Mitte zog sich ein Tausende Kilometer breites Band dichter Vegetation, der Regenwald, in dem sie notgedrungen die tiefgefrorenen Siedler abgesetzt hatten. In den gemäßigten Zonen jenseits davon waren gelb-lila Wüsten, grün-violettes Flachland sowie Steppen angesiedelt. Jahreszeiten gab es hier aufgrund der ausgeglichenen Planetenachse keine. Der ursprüngliche Siedlungsplatz im südlichen Grasland war für die Container, die an Fallschirmen mit winzigen Steuerdüsen herabsegelten, unerreichbar geworden. Das simple und narrensichere Landungsprinzip war in diesem Fall ihr Verhängnis, da nur minimale Kurskorrekturen von der jeweiligen Bord-KI vorgenommen werden konnten.
Eine Stunde später erreichten sie ihr Zielgebiet über dem Dschungel und folgten deren Beispiel. Die Triebwerke stoppten und sie ließen ihr Schiff die letzten Paarhundert Meter an Fallschirmen heruntertragen. Geeignete Landepisten existierten in dem dichten Regenwald mit seinen gigantischen Bäumen keine.
Es krachte und splitterte, als das rund 500 Tonnen schwere Brückenschiff der Nostromo die Baumriesen unter sich zerbersten ließ. Sie wurden durchgeschüttelt. Dicke grün-violette Blätter und zerbrochene Hölzer schrammten an ihren Frontscheiben vorbei. Das Gefährt legte sich auf die Seite, fiel nochmals einige Meter wie ein Fahrstuhl, dessen Seile gerissen waren, und schlug dann schräg auf dem Boden des Dschungels auf.
Ruhe kehrte ein. Die Instrumente und jegliche Elektronik waren endgültig tot. Dafür krabbelte bereits ein erster unterarmlanger Tausendfüßler über die Scheiben und ein fetter gelber Vogel wie ein überdimensionaler Kolibri surrte vorbei. Hatten sie tatsächlich überlebt? Es schien ihr wie ein Wunder.
Zügig zog sie sich die Handschuhe des Raumanzuges aus, warf den Helm ab und kletterte aus dem Sitz, um zu helfen.
„Alles in Ordnung bei euch?", fragte sie in die Runde, während die anderen es ihr gleichtaten.
„Willkommen auf Pangaea. Die Außentemperatur beträgt 33 Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 %. Ihre Anschlussflüge haben Sie leider alle verpasst. Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt bis zum Ende Ihres Lebens", meinte Mila mit ihrem üblichen Sarkasmus, nachdem sie ihren Helm in eine Ecke gepfeffert hatte. Jedoch war ihr die Erleichterung anzusehen.
↼⇁
Eine Stunde später standen sie auf dem mit Laub und zerbrochenen Zweigen bedeckten Boden vor dem Wrack ihres Schiffes. Die Raumanzüge hatten sie mit brauner Outdoorkleidung getauscht und ihre gepackten Überlebensrucksäcke herausgeholt. Neben der Lichtung, die ihre Landung in den Dschungel gerissen hatte, erhoben sich meterdicke Baumriesen, deren Wipfel sich in mindestens zweihundert Meter Höhe befanden. Der sichtbare Himmel hatte einen violetten Schimmer wie kurz vor Sonnenuntergang. Die Luft war durchsetzt von einer exotischen Duftmischung aus Moder und süßlichen Blütennektar sowie dem Schreien, Zwitschern und Pfeifen ihnen unbekannter Wildtiere. Erste dicke, schillernde Moskitos versuchten bereits, ihr irdisches Blut zu kosten. Es blieb zu hoffen, dass die neuentwickelte Creme die Riesenbiester zuverlässig abhielt. Großäugige, affenartige Tiere beäugten sie misstrauisch aus der sicheren Distanz. Aufgrund der geringen Schwerkraft und des erhöhten Sauerstoffgehalts war hier alles etwas größer gewachsen. Wäre da nicht der deutliche Violettstich der Blätter, könnten sie sich auch im brasilianischen Regenwald befinden.
Beppo schaute auf sein Tablet mit einer Satellitenkarte, die sie noch im Orbit aufgezeichnet hatten. Dichte bunte Sprenkel zogen sich über den Ausschnitt. Die roten waren die geschätzten Landungspunkte der Siedler, nachdem sie von ihrem jeweiligen Container nicht unähnlich einer gigantischen Splitterbombe in ausreichender Höhe abgesprengt worden waren. Die blauen die Geräte und Roboter. Der grüne ihr ungefährer Standort. Exakte Navigation war ohne GPS unmöglich. Da das dem geplanten Landeverfahren entsprach, sollten die Kryo-Kammern und Ausrüstung unbeschädigt sein.
„Zu den nächsten Kammern, die hier im Dschungel verstreut liegen", ihre Nummer eins deutete auf einige rote Punkte, „sind es maximal 200 Meter. Zu den nächsten Robotern müssen wir uns jedoch rund drei Kilometer durch den Regenwald schlagen."
„Dann los. Hier laufen in drei bis vier Stunden eine halbe Million orientierungsloser Menschen durch das Grün. Und anstelle einer gemütlichen Siedlung empfängt sie der Dschungel ohne Ausrüstung und nötigt sie, um ihr Überleben zu kämpfen." Einen Moment hielt sie inne. „Mila und Björn, ihr errichtet hier ein Basiscamp und versucht, so viele wie möglich aus der Nähe einzusammeln und zusammenzubringen. Beppo und ich wandern zum nächsten Gerätecontainer. Die Roboter werden vermutlich bereits selbstständig mit der Rodung und dem Aufbau einer Siedlung starten. Trotzdem wäre es gut, wenn wir dort in das Standardprozedere eingreifen und sie mit dem lebensnotwendigem beginnen lassen. Einfache Hütten, Wasserfilter, Lebensmittelkonverter, usw."
Insgeheim hoffte sie, in diesem Bereich auch die Kammer von Frederike zu finden. Den Landepunkt hatte sie nicht ganz zufällig gewählt.
Ehe die beiden abdrehten, meinte sie: „Lasst uns versuchen, Führungspersönlichkeiten zu identifizieren. Wir müssen so viel wie möglich delegieren und erste Strukturen schaffen. Es haben zwar alle feste Rollen sowie das gleiche Training und Wissen über den Aufbau und die Politik unserer neuen Gesellschaft erhalten, aber speziell in dieser Extremsituation wird sich nicht jeder dran halten."
„Aye, Commander", bestätigte Mila mit einem leicht ironischen Unterton und marschierte zusammen mit Björn in den Dschungel. Die Funkreichweite ihrer Geräte sollte trotz der Vegetation zumindest für einige Kilometer ausreichend sein.
Zügig wanderten sie los, schoben breite Blätter und Farne zur Seite und drückten sich durch dichte Schlingpflanzen, die teils wie ein Vorhang bis zum Boden herab wuchsen. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf die erste Kammer. Laut Anzeige würde der Mann erst in drei Stunden aufwachen. Daher ignorierten sie diese und die nachfolgenden. Eine schweißtreibende Stunde später traten sie schließlich aus dem Dschungel.
„Madonna mia!", entfuhr es Benno und er bekreuzigte sich.
Die Lichtung war nicht, wie erwartet, von ihren Robotern gerodet worden. Vor ihnen erhob sich eine weitläufige Stufenpyramide aus einem glatten grauen Material, deren Spitze deutlich über den Wipfeln der Bäume endete.
Sie waren offensichtlich nicht die ersten intelligenten Lebewesen auf dieser Welt.
★★★ (vorläufiges) ENDE ★★★
Wahl des Titels:
„Pangaea" musste natürlich rein, weil allein die Bezeichnung des ersten Riesenkontinents bereits die Fantasie anregt, selbst wenn man nicht die Anforderungen des Awards kennt. Und „Menschheit 2.0" bringt das ultimative Ziel der Protagonisten auf den Punkt: Eine neue, verbesserte Menschheit aufbauen. Möglicherweise werden Assoziationen mit dem Web 2.0 geweckt und dem Leser wird klar, dass es um den Neuaufbau oder zumindest eine verbesserte Version geht.
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