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Es war langweilig. So unglaublich langweilig. Jarek lag auf seinem Bett, hatte gefühlt ganz Netflix und Tinder schon durch und genug gewichst hatte er auch, dabei war es gerade mal Mittag. Wie sollte er den Rest des Tages rumkriegen? Er könnte noch ein bisschen schlafen, aber eigentlich war er nicht müde, denn das hatte er auch schon ausreichend getan.

Er nahm sein Handy und schaute, ob jemand in der Haus- oder Flurinternen Gruppe etwas geschrieben hatte, aber nichts. Tote Hose. Diese Pandemie war wirklich zum Kotzen. Er könnte was kochen, aber dazu hatte er eigentlich auch keine Lust. Aber etwas essen war schon eine gute Idee.

Seufzend klappte er seinen Laptop zu, schälte sich aus dem Bett und zog sich eine kurze Trainingshose, ein T-Shirt, das er vom Boden auflas und das nicht allzu sehr stank, und ein paar Socken über, ehe er sich vorm Spiegel einmal durch die braunen Haare fuhr und dann auf den Flur trat. Er trat an den Gefrierschrank, der neben der Küchentür im Flur stand, und holte sich eine Tiefkühlpizza daraus hervor, ehe er die Küche betrat, in der Malio mal wieder barfuß einen RnB Song mitsummte und Gemüse schnitt.

„Was geht?", sagte Jarek, riss die Plastikverpackung von der Pizza und stopfte sie in den Mülleimer, ehe er zum Ofen rüberging.

„Hey", grinste Malio und schnitt die Knoblauchzehe in beeindruckender Geschwindigkeit in hauchdünne Scheiben, während er seinen Oberkörper im Takt zur Musik bewegte.

„Machst du auch noch was anderes außer Kochen?", fragte Jarek und zog die Ofentür auf, die tiefgefrorene Pizza legte er auf der Arbeitsfläche ab.

„Ja, vieles. Vorhin hab ich zum Beispiel gezockt."

„Mir ist so langweilig, ne." Jarek griff sich die Packung mit dem Backpapier aus Regal rechts von ihm und zog einen Streifen heraus.

„Ich kann kochen empfehlen", grinste Malio und ließ sein Messer als nächstes auf eine Zwiebel niedersausen. Auf dem Herd kochte bereits ein Topf mit Nudeln.

„Pizza in den Ofen schieben ist auch irgendwie kochen, oder nicht?" Jarek nahm ein Blech aus dem Ofen, breitete das Backpapier aus, legte die Pizza drauf, schob es in den Ofen zurück und stellte Umluft, 180° ein.

„Nein", lachte Malio. „Was hast du heute gemacht?"

„Nich' viel." Jarek lehnte sich gegen den großen Schrank bestehend aus einzelnen Fächern, in denen jeder Zimmerbewohner eines hatte, in dem er sein Zeug aufbewahren konnte, und fuhr sich durchs Gesicht. „Was hast du noch vor?"

Malio zuckte mit den Schultern, legte das Messer weg und schob den Bioabfall in seine Hand. „Mal sehen." Er trug ihn zu einem kleinen Mülleimer rüber, der links vom Herd unter der Arbeitsplatte stand, öffnete ihn mit dem Fuß und warf ihn hinein.

Jarek verfolgte seine Bewegungen mit seinem Blick und nickte. „Na ja, dann. Ich geh mal eine rauchen." Mit einem Blick auf die Uhr über der Tür stieß er sich ab und tastete seine Taschen nach seinen Zigaretten ab. Machte einen Ausflug in sein Zimmer, um sie dort vom Schreibtisch zu nehmen und setzte sich auf den Balkon.

Als er wieder in die Küche trat, hatte Malio all sein Gemüse in einer Pfanne untergebracht.

„Es ist echt nicht los auf der Welt. Überall nur Corona, Corona, Corona", seufzte er und ging in die Hocke, um durch die Scheibe einen Blick auf seine Pizza werfen zu können. Sah noch nicht fertig aus.

„Hast du schon auf den anderen Fluren gefragt, ob da irgendwas ansteht?", schlug Malio vor.

Jarek seufzte und richtete sich wieder auf, während Arjan in die Küche trat. In der Hand hielt er eine Bierflasche.

„Sorry", sagte er und Jarek machte einen Schritt nach rechts, um die Besteckschublade freizugeben, aus der Arjan sich eine Gabel nahm und mit ihrem Stiel die Flasche öffnete.

„Bist du immer noch am Trinken oder schon wieder?", fragte Malio und zog sich auf die Arbeitsplatte.

Arjan nahm einen Schluck, ehe er antwortete. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. „Schon wieder", sagte er und schaute dann Jarek an. „Wenn dir langweilig ist, kannst du mit mir Bullen boxen kommen."

Jarek erwiderte seinen Blick, als würde er tatsächlich über die Antwort nachdenken.

„Warum willst du sie boxen?"

„Weil sie die Essensspenden, die wir für die Obdachlosen auf den Adenauerplatz gelegt haben, vernichtet haben."

„Wieso?", fragte Jarek, während Malio die Augenbrauen hochzog.

„Die haben was gemacht?", fragte er empört.

Arjan nickte und schmiss die Gabel in die Schublade zurück. „Keine Ahnung. Weil sie scheiße sind, deshalb."

„Das ist mal echt ein guter Grund, denen auf die Fresse zu hauen. Da wäre ich aber auch dabei", sagte Malio und ein leichtes Grinsen zog sich über Arjans Gesicht.

„Ich hätte da 'ne Idee", meinte er und die drei rückten ein wenig enger zusammen.


Isir schlug die Balkontür hinter sich zu und ließ sich auf einen der beiden weißen Plastikstühle fallen, die dort standen. In nach innen hängenden Blumenkästen sprossen Kräuter, die ein paar Bewohner hier anbauten und in der Ecke hinter dem zweiten Stuhl stand eine Yucca-Palme, die dringend mal wieder ein bisschen Wasser gebrauchen konnte.

Er holte seinen Tabakbeutel hervor und drehte sich eine Zigarette, während der Schmerz von innen gegen seinen Kopf hämmerte und die Übelkeit sich in seinem Magen festsetzte. In Gedanken lag er schon in den Federn, als die Tür aufgezogen wurde und Jona auf den Balkon trat.

„Hey", sagte sie und Isir bemerkte einen leicht säuerlichen Unterton in ihrer Stimme, obwohl sie sich um einen offenen Blick bemühte.

„Hey", sagte er, schob sich die Kippe zwischen die Lippen und zündete sie an.

„Wie war's gestern?" Sie hockte sich auf die Kante des zweiten Stuhls und steckte die Hände zwischen ihre Knie.

Er zuckte mit den Schultern. „Okay." In seinem Mund sammelte sich ein wenig bitterer Speichel und er schluckte ihn runter, während die Kopfschmerzen sich ein wenig intensivierten. Er schloss die Augen, zog an er Zigarette. Spürte die beruhigende Wirkung des Nikotins und würde am liebsten einfach direkt hier schlafen. Gleichzeitig sehnte er sich nach seinem gemütlichen Bett, nach seinem Rollladen, mit dem er die Helligkeit aussperren konnte.

„Wie hat's Cajus gefallen?"

Konnte sie nicht bitte einfach den Mund halten?

„Er war nich' da." Er inhalierte tief. Er sollte Jona jetzt nicht anmeckern, sie hatte nichts falsch gemacht. Sie erkundigte sich nach ihm, das war nett.

„Oh, echt? Wieso nicht?"

„Wenn ich das wüsste", knurrte er, öffnete die Augen wieder und fixierte Jona mit seinem ablehnenden Blick. Verstand sie nicht, dass er Ruhe wollte? Sie sollte ihn gut genug kennen, um erkennen zu können, dass er verdammt verkatert war.

Jona hob die Augenbrauen ein wenig an, schaute erschrocken drein. „Okay, sorry. Ich lass dich mal", murmelte sie, stand langsam auf und drückte die Tür auf. Schien zu hoffen, dass er sie zurückhielt und er würde ja gerne, aber es war besser, wenn sie jetzt ging. Bevor er sie noch richtig anmaulte, obwohl sie nichts falsch gemacht hatte.

Cajus war ein Wichser.

Jona ging nach drinnen und Isir rauchte seine Zigarette auf. Er würde jetzt ins Bett gehen. Fertig.


Aus Hennes' Vorhaben, sich unter die Wohnheimbewohner zu mischen, wurde nichts. Nach dem Frühstück, dass er dank dem im Aufenthaltsraum schlafenden Arjan doch in seinem Zimmer eingenommen hatte, blieb er direkt vor seinem Computer sitzen und ging nochmal seinen Kursplan durch, den er mit Malios Hilfe erstellt hatte. Hoffentlich hatte die Situation sich wieder normalisiert, wenn die Vorlesungen starteten. Sonst würde er sich wahrscheinlich gar nicht zurechtfinden. Er hatte so schon keine Ahnung, was auf ihn zukam und wie das alles laufen würde. Zwar hatte er sich bereits einige Informationen zu seinem Studiengang und seiner Uni aus dem Internet gesaugt, aber das konnte ihn eben nicht vollends auf die Realität vorbereiten, in der er selbst agieren musste.

Wobei ... Wenn die Lage sich nicht beruhigt hätte und die Universitäten ihre Veranstaltungen von Präsenz- auf Online-Unterricht verlegen müssten, wäre das vielleicht gar nicht so schlecht. Er müsste nicht über den Campus laufen und zu spät kommen, weil er irgendeinen Raum nicht gefunden hatte, musste sich nicht den Blicken seiner Kommilitonen ausgesetzt fühlen und sie nicht kennenlernen. Versuchen, Freundschaften zu schließen und am Ende doch alleine da sitzen, immerhin gab es ja sogar hier in seinem Wohnhaus noch einen ganzen Haufen Menschen, die er nicht kennengelernt hatte. Er hätte mehr Raum hier zurechtzukommen, statt zusätzlich noch mit hunderten anderen konfrontiert zu sein.

Damit befassen, im Wohnheim zurechtzukommen, tat er sich an diesem Tag aber nicht. Stattdessen öffnete er den hausinternen Server, auf dem eine Vielzahl an Filmen, Serien, Musik, Büchern und Pornos lagerte, klickte sich in den Ordner mit den Anime und wählte einen aus, mit dem er die nächsten Stunden verbrachte. Es klopfte niemand an seine Tür, also hielt ihn nichts davon ab.

Nachmittags ging eine Nachricht in der Gruppe ein, die er mit seinen Schulfreunden zusammen hatte. Sie unterhielten sich darüber, wie es bei ihnen lief, wie langweilig sie es alle zuhause fanden. Hauptinteressenpunkt war das Wohnheim, denn sie hatten scheinbar alle zu viele Hollywood-Filme geschaut. Sie fragten Hennes nach den heißen Mädels und ob er sich mit einer ein Zimmer teilte. Fragten ihn, ob er schon eine flachgelegt hatte oder wenigstens eine im Auge hatte. In ihrer Vorstellung schien das Wohnheim ein Ort voller hübscher Frauen zu sein, die den ganzen Tag lang nackt rumliefen und nichts Besseres zu tun hatten, als sich vögeln zu lassen.

Gibt's wenigstens krasse partys?, fragte ein Kumpel, als Hennes ihre Vorstellungen zunichte gemacht hatte. Hennes dachte daran zurück, wie er mit Arjan Bierpong gespielt hatte, wie sie alle zusammen den Abend in der Bar verbracht hatten, bis die betrunkenen, politischen Gespräche ein wenig eskaliert waren. Wie er dann mit Cara zurückgeblieben war, die seine Freunde definitiv als heiß einstufen würden, und mir ihr Billard gespielt hatte, bis es fast wieder Morgen gewesen war. Auch von der Party, die im Gammaflur letzte Nacht stattgefunden hatte, hatte er gehört.

Ja, das schon, tippte er. Vielleicht könnte es ja doch ganz cool sein, sich mehr einzubringen und an solchen Ereignissen teilzunehmen. Ein bisschen wie im Film. Aber wahrscheinlich wollten die ihn eh nicht dabeihaben und empfanden ihn nur als Spaßbremse.

Gegen Abend schrieb er sich einen Zettel, der es ihm erlaubte den Supermarkt aufzusuchen, um für sein Abendessen einzukaufen. Er zog sich eine ordentliche Hose an und trat auf den Flur. In der Küche erblickte er Tharin und Phine, die gemeinsam kochten, verließ das Wohnheim und steuerte den Discounter gegenüber an. Im Eingangsbereich traf er auf Arjan, der seinen Einkauf gerade bezahlt hatte.

„Hey", grüßte Arjan und nickte ihm zu.

„Hallo", erwiderte Hennes, rang sich ein Lächeln ab und trat dann durch die Schranke in den Einkaufsbereich. Als er schließlich in die erwärmte Küche trat, war dort einiges los. Tharin und Phine waren noch da und unterhielten sich über die laute Hip Hop-Musik hinweg mit Arjan, während das gekippte Fenster vom Wasserdampf der kochenden Nudeln beschlagen war und irgendwas laut zischend in einer Pfanne brutzelte. Arjan lehnte daneben an der Arbeitsfläche und hatte die Arme verschränkt. Cajus stand mit In-Ear-Kopfhörern in den Ohren an der Arbeitsfläche und schnitt Zwiebeln.

„Hallo", sagte er und blieb in der Tür stehen. Sollte er vielleicht noch warten bis die anderen fertig waren? Später kochen und essen?

Phine, Tharin und Arjan erwiderten die Begrüßung, Cajus hatte ihn wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt.

„Hast du das eigentlich schon mitgekriegt?", fragte Phine, während Arjan seine Bierflasche von der Arbeitsfläche nahm und einen Schluck trank, ehe er mit dem Pfannenwender die Pattys wendete.

„Was?", fragte Hennes und schloss die Hand fester um seine Einkaufstasche.

„Die Bullen haben die Essensspenden, die wir zum Adenauerplatz gebracht haben, vernichtet."

„Oh", machte er. Was sollte er dazu sagen?

„Richtige Wichser, was, Hennes?", fragte Arjan und warf ihm einen Blick zu.

Er nickte. „Ich glaub, ich warte noch, bis ihr hier fertig seid", meinte er. Er fühlte sich nicht wohl in Arjans Gegenwart. Unter seiner forschen Art und seinem Willen ständig und überall über Politik zu reden und Menschen nach ihrer Meinung dazu zu fragen, obwohl er nur seine für richtige erachtete. Auf so ein Gespräch konnte er gerne verzichten, nicht dass er nachher auch so angegangen wurde wie Jarek. Immerhin war Arjan auch schon wieder am Saufen, vielleicht schon betrunken.

„Ist doch noch genug Platz", meinte Phine, rutschte ein Stück und deutete auf das freie Stück Arbeitsfläche.

„Ja, aber mir ist es einfach ein bisschen zu voll", erwiderte Hennes und spürte, wie ihm warm wurde. Es war nur nicht die Hitze in der Küche, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, sondern auch das unangenehme Gefühl in seinem Inneren.

Würde er sich hier eines Tages zuhause fühlen, wie Marle es ihm prophezeit hatte? Die Menschen hier als seine Freunde betrachten? Jetzt gerade konnte er sich das nicht vorstellen, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Jetzt gerade überforderte ihn die Situation einfach nur. Fast fluchtartig verließ er die Küche und eilte den Flur runter zu seinem Zimmer, das glücklicherweise nicht weit entfernt lag.

„Arjan, Mensch, du hast ihm Angst gemacht", sagte Phine halb scherzend und schaute Arjan an, nachdem Hennes geflohen war.

„Hä, hab ich?" Arjan hob den Blick von seinen Pattys und schaute ein wenig überrascht zur Tür, in deren Rahmen Hennes eben noch gestanden hatte.

„Irgendwie schon", sagte Tharin und schaute ihm ebenfalls hinterher.

„Was hab ich gemacht?" Arjan nahm einen Schluck aus seinem Bier und schaute fragend zu den beiden Mädels.

„Ach, nichts wirklich", winkte Phine ab. „Ich glaube, er ist einfach ein bisschen schüchtern und überfordert."

„Von mir?", fragte Arjan.

„Schon. Du bist halt 'ne Persönlichkeit", meinte Phine.

„Was soll das jetzt heißen?" Arjan stellte seine Herdplatte ein wenig runter, während Tharin die Gabel, die rechts neben dem Kochfeld lag, aufnahm und eine Nudel aus dem Wasser fischte.

„Man merkt, wenn du da bist. Du nimmst den Raum irgendwie für dich ein", erklärte Phine.

„Ist das was Schlechtes?"

„Nein, aber es kann Menschen wie Hennes einfach ein bisschen überfordern." Sie zog die Schultern hoch und legte ihren Kopf ein wenig schief. „Mach dir keinen Kopf, du hast nichts falsch gemacht", fügte sie hinzu, als Arjan nachdenklich den leeren Flur anstarrte. Seine Blickbahn wurde unterbrochen, als Cajus an sein Fach trat.

„Ich red trotzdem später mal mit ihm. Ist doch scheiße, wenn er nicht kochen kommt, weil ich hier bin."

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