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Irgendwann verklang die Musik vollends. Die Band beendete den Livestream und Stille drang aus den Lautsprechern. Nach und nach verabschiedeten die Konzertwütigen sich in ihre Zimmer, bis nur noch Arjan und Isir übrig waren. Der Pfeffi war leer und im ganzen Raum standen leere Bierflaschen verteilt. Auch der Inhalt des Whiskys war ein gutes Stück dezimiert worden und Arjan schwankte, als er an den Kühlschrank herantrat. Er hielt sich an der offenen Tür fest und beugte sich ins Innere, wo gerade noch drei Flaschen Export lagen.

„Für dich auch?", fragte er und erinnerte sich nicht, dass er die Frage zwei Minuten zuvor schonmal gestellt hatte. Isir auch nicht.

„Yes", sagte er und Arjan schnappte sich zwei Flaschen, warf die Tür zu und setzte einen Strich hinter seinen und einen hinter Isirs Namen. Da waren schon viel zu viele in seiner Reihe. Wann waren das so viele geworden? Er hatte ohnehin noch Bierschulden zu begleichen. Auf ungefähr jedem Flur. Wieder bei Isir angelangt, ließ er sich in die Couch fallen und reichte ihm die Flasche, ehe er seine mit der eh schon zersplitterten Ecke seines Handys öffnete.

„Ich bin echt angepisst", brachte Isir hervor. In seiner Stimme lag ein deutlich hörbares Lallen, seine Zunge stieß beim Reden gegen seine Zähne.

„Lass mal gut sein, jetz'. Du bis' echt penetrant", erwiderte Arjan und ließ etwas Bier seine Kehle hinablaufen. Scheiße, er musste schon wieder pissen, aber aufstehen war so anstrengend.

„Nee." Isir zog sein Handy aus der Hosentasche und es fiel ihm aus der Hand auf den Boden. Er bückte sich danach und hob es wieder auf, ehe er sich zurücklehnte und seinen Code eintippte. „Er hätt' mir ja weni'st'ns mal schrei'n könn'. Hatt'a aber nich'."

„Er wird schon seine Gründe haben."

„Ich fick seine Gründe."

Arjan schaute ihn an und begann dann breit zu grinsen. Zu lachen.

„Was?", fragte Isir und zog die Augenbrauen zusammen, während er seine Hosentaschen nach seinem Feuerzeug abtastete.

„Wenn Jule sein Grund ist, has' du g'rade gesagt, dass du Jule ficks'. Dann is' schon verständlich, dass Cajus kein' Bock auf dich hat", lachte Arjan.

„Ha ha. Spießer." Isir fand sein Feuerzeug und öffnete die Bierflasche. Den Kronkorken ließ er einfach auf den Boden fallen.

Arjan lachte auf und rülpste dann lautstark. „Von wegen Spießer." Einige Schlucke später drückte er sich wieder aus der Couch hoch und trat seinen Weg zum Klo an. Er zog die Tür vom Aufenthaltsraum auf und trat auf den ausgestorbenen Flur. Ein leichtes Schwanken ließ seine Schritte schwammig werden. Er nahm einen tiefen Schluck, erreichte die Tür zum Klo, trat ein und stellte sich ans Pissoir. Gleich morgen würde er den Umsonst-Schrank plündern und dort nach Stoff für Transpis suchen. Vielleicht hatte irgendwer ein Bettlaken zu viel oder eine Tischdecke übrig, die Mutti geschickt hatte, obwohl in den Zimmern gar kein Platz für großartige Tischdecken-Tische war. Für Schreibtische gerade mal, aber wer legte sich da eine Tischdecke drauf? Bei der Vorstellung grinste Arjan, während das Plätschern seines Urins laut von den Fliesenwänden zurückgeworfen wurde. Hätte irgendwie was, so ein geblümtes Spitzendeckchen unter der Tastatur. Vielleicht würde er's mal ausprobieren, wenn ihm so'n Ding irgendwo über den Weg lief.

Als er wieder in den Aufenthaltsraum trat, hatte Isir sich auf der Couch ausgestreckt. Seine Hand hielt die Bierflasche umklammert, die vor der Couch auf dem Boden stand, sein Mund war geöffnet und seine Augen geschlossen.

„Ich check's nich', wieso manche anderen Leuten beim penn' zugucken und's süß finden. Macht mich jetz' echt nich' an", sagte Arjan zu sich selbst, leerte seine Flasche und stellte sie mitten im Raum neben sich auf den Boden. „Nacht, Isir." Er machte schwungvoll auf dem Absatz kehrt und gab dem Türrahmen ein unabsichtliches High Five, ehe er auf den Flur Richtung Treppe abbog.


Malio verließ das Haus zusammen mit Phine, nachdem Hennes abgelehnt hatte mit zum containern zu kommen. Statt geradeaus das Grundstück zu verlassen und den nächsten Discounter anzusteuern, bog er nach links ab, ging um die Ecke des Gebäudes und klopfte gegen den Rollladen des dritten Fensters. Phine blieb vorm Haus stehen. Malio klopfte ein weiteres Mal, ehe der Rollladen hochgezogen wurde und warmes Licht in die Nacht hinausschien. Das Fenster wurde geöffnet und Marle erschien im Rahmen.

„Guten Abend, schöne Frau", lächelte Malio.

„Guten Abend. Wie kann ich behilflich sein? Pommes Currywurst is' aus." Marle hockte im Schneidersitz auf ihrem Bett und steckte in einem weiten T-Shirt, das den Blick auf ihre linke Schulter freigab.

„Vielleicht finden wir im Container welche", erwiderte Malio und setzte einen fragenden Blick auf.

„Ich bin gleich da", grinste Marle und schloss das Fenster wieder. Malio schlenderte zu Phine zurück und Marle kletterte wenig später aus ihrem Fenster und gesellte sich zu den beiden. Jeder von ihnen hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Schweigend verließen sie das Grundstück und überquerten die von Laternen erhellte Straße. Es war nicht weit bis zum Discounter. Phine setzte sich eine Kappe mit dem Schirm nach vorn auf die Haare, während Malio die Kapuze seiner Sweat-Jacke aufzog und Marle ihr Haar unter einer schwarzen Mütze verbarg. Sie umrundeten das Gebäude und traten zwischen Gestrüpp und Zaun. Nacheinander erklommen sie die grünen Streben, zwischen denen ein ebenfalls grüner Sichtschutz gespannt war. Bevor Marle sich als letzte nach oben zog, ließ sie ihren Blick einmal über die Straße schweifen, aber sie war ausgestorben. Es war wirklich niemand zusehen, nicht mal ein Spaziergänger mit seinem Hund, die sonst ganz gerne mal durch die Nacht schlichen. Sie zog sich also nach oben und sprang auf der anderen Seite in den Innenhof des Pennymarkts. Sie liefen nach rechts am Zaun entlang, um den Bewegungsmelder, der das Licht anschaltete, nicht auszulösen und steuerten zielsicher die großen schwarzen Container an. Malio erreichte ihn als erster. Zielsicher schob er nacheinander die beiden Deckel auf und Phine machte sich gleich am ersten Container zu schaffen. Mit eingeschalteter Stirnlampe zog sie einen großen Sack voller Abfall heraus, schaute kurz durch das durchsichtige Plastik und legte ihn zur Seite. Marle stellte sich neben ihr auf die Zehenspitzen, um im Schein ihrer Lampe etwas erkennen zu können, während Malio sich auf die Kante des zweiten Containers zog und sich hineinlehnte. Seine Füße schwebten in der Luft, während er mit beiden Händen in der nicht allzu vollen Tonne wühlte. Auch er hatte eine Lampe auf dem Kopf, deren Schein im Container verschwand.

Zusammen mit Phine wühlte Marle sich durch den Containerinhalt und stieß bald auf Brotlaibe, lose Paprika, einen ganzen Haufen davon, Möhren und komplett verpackte Joghurts. Sie verstauten alles in ihren Rucksäcken.

„Hier wäre Fleisch gewesen, aber die Wichser haben's zerschnitten", ließ sie Malios gepresste Stimme vernehmen. Mit einem Ruck sprang er wieder aus dem Container und wischte sich die Finger an der Hose ab. Der Schein seiner Lampe erhellte den Hinterhof und er knipste sie aus.

„Typisch", sagte Phine und verstaute den letzten Joghurt, ehe sie den Rucksack zuzog.

„Keine Pommes Currywurst gefunden?", fragte Marle und schulterte ihre Tasche.

„Leider nein. Aber ich hab einen Sack Kartoffeln, also wenn du Hunger hast ...", grinste Malio. Phine schaltete ihre Lampe aus und schwang sich ihren Rucksack auf den Rücken.

„Ein andermal vielleicht", sagte Marle und folgte Phine Richtung Zaun zurück.

„Sag Bescheid", meinte Malio, warf den letzten Müllsack in den Container zurück und schloss die Deckel, ehe er sich ebenfalls in Bewegung setzte. Erneut überwanden sie den Zaun und legten unbehelligt die Meter zum Wohnheim zurück, wo Marle die anderen beiden zur Vordertür hineinbegleitete. Sie schalteten das Licht in der Küche an und begannen die Lebensmittel im kommunistischen Kühlschrank zu verstauen, als jemand das Licht im Flur anschaltete und wenig später in die Küche gestolpert kam.

„Abend", murmelte Arjan und verfehlte den Türrahmen, an dem er sich abstützen wollte.

„Du siehst aus, als könntest du etwas zu essen gebrauchen. Paprika?", fragte Marle mit einem Grinsen auf den Lippen und streckte ihm ein glänzend rotes Exemplar entgegen.

Arjan beäugte das Gemüse einen Augenblick, dann zog er die Brauen zusammen und drückte es von sich weg. „Alter, nein."

„Ich könnte aber was zu essen vertragen", meinte Malio, während Arjan einen Schritt nach vorne machte und die Schranktür öffnete. Er griff sich mit einer fahrigen, aber dennoch zielsicheren Bewegung ein Glas, zog es heraus und ging zum Wasserhahn. „Was haltet ihr davon, wenn ich uns einen kleinen Nach-Mitternachtssnack mache?" Malio schaute von Marle zu Phine.

„An was hast du gedacht?", fragte Phine und nahm zwei Joghurtbecher aus ihrem Rucksack.

„Daran zum Beispiel", erwiderte Malio und nahm sie ihr aus der Hand. „Arjan?"

Das Wasser rauschte, füllte das Glas und lief über, ehe Arjan den Hahn wieder zudrücken konnte. Malio stellte die Becher auf der Arbeitsfläche ab, während er das Wasser mit wenigen Schlucken hinunterkippte und sich dann mit dem Arm den Mund abwischte. Malio nahm zwei Schüsseln aus dem Schrank.

„Willst du mitessen?", fragte er.

Arjan zog die Spülmaschine auf und hickste, während er den oberen Wagen hervorzog und das Glas hineinstellte.

Malio nahm eine weitere Schüssel heraus, stellte sie ab und schaute Arjan fragend an.

„Was? Nee. Ich geh jetz' penn'."

„Gute Entscheidung", lachte Phine und legte ihm die Hand auf den Rücken, als er sich an ihr vorbeischob. „Schlaf gut."

„Ihr auch", erwiderte Arjan, bog auf den Flur ab und verschwand aus ihrem Blickfeld, ehe das Licht anging und für wenige Minuten die Dunkelheit vertrieb.

„Dann eben nur für uns drei", grinste Malio, schnappte sich ein paar Paprika und richtete den Snack zu, mit dem sie sich in den Aufenthaltsraum verzogen und ihn zu einer Folge Scrubs verspeisten.

Arjan griff gerade nach der Klinke seiner Zimmertür, als gegenüber eine aufging. Er drehte sich und entdeckte Cajus, der ihn ansah und nach dem Lichtschalter tastete.

„Hey", sagte er.

Innerlich seufzte Arjan. Eigentlich wollte er nur in sein Bett, eigentlich war er viel zu besoffen für diesen Scheiß, aber die Klappe zu halten hatte noch nie zu seinen Qualitäten gehört.

„Ey, Cajus. Wart' mal." Er ließ seine Klinke los und Cajus drückte auf den Schalter, damit das Licht nicht ausging. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jogginghose und schaute Arjan fragend an. „Hast mitgekriegt, dass Isir bei dir war?"

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

„Er hatte da was vorbereitet. Für dich. Hat ihn echt was mitgenommen, dass da nix von dir kam."

„Ja, mein Gott, das können wir ja morgen noch machen", erwiderte Cajus, schaute den Flur runter und dann wieder auf Arjan. Er tippte mit der Schuhspitze auf den Boden. Eigentlich wollte er nur eben pissen gehen, immerhin lag sein Handy mit dem laufenden Anruf noch in seinem Zimmer und es tat so unglaublich gut, Jules Stimme zu hören. Nicht die schiefe, schleppende von Arjan, die hörte er oft genug.

„Eher nich'", meinte Arjan. „Keine Ahnung, vielleicht quatschte mal mit ihm." Er machte einen Schritt vor und klopfte ihm auf die Schulter, ehe er sich wieder seiner Zimmertür zuwandte. „Gut Nacht."

„Gute Nacht", erwiderte Cajus, drückte nochmal auf den Schalter und steuerte das Pissoir an. Um Isir konnte er sich morgen immer noch Gedanken machen, den konnte er immerhin auch jeden verdammten Tag sehen. Jetzt war Jule dran. Seine Jule, die viel zu viele Kilometer entfernt viel zu alleine war. Er wünschte, er könnte zu ihr. Sie in den Arm nehmen und sich mit ihr in ihr Bett kuscheln, die Decke über sie ziehen und den Rest der Welt aussperren. Dann wäre ihm die Ausgangssperre auch egal. Mit Jule in eine Wohnung gesperrt zu sein klang verlockend, nicht verdammt langweilig. Nur er und sie. Traute Zweisamkeit statt einem Haufen Menschen, von denen jeder jeden Tag ein anderes Problem hatte, das er unbedingt mit all seinen Mitbewohnern teilen musste. Er hatte die Schnauze verdammt voll von diesem Wohnheim. Von Isir, von dem er nicht aufgeheitert werden wollte, von Arjan, der das Weltgeschehen viel zu persönlich nahm, von Cara, Malio und Jarek, die sowieso nur das Eine im Kopf hatten, von Phine und Tharin, einfach weil er auf sie alle keinen Bock hatte.

Er eilte am gemütlich beleuchteten Aufenthaltsraum vorbei, spürte die kühlen Fliesen unter seinen nackten Füßen und sah zu, dass er schleunigst wieder in der Privatsphäre seines Zimmers verschwand, um die nächste Stunde mit Jule verquatschen zu können.


Auch, wenn Arjan sein Bett endlich erreicht hatte, der Schlaf meinte es auch heute Nacht nicht gut mit ihm. Ausnahmsweise waren es mal nicht die Gedanken, die herumwirbelten, sondern die Welt um ihn herum. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als er sich in die Waagerechte begab und drehte sich von der Seite auf den Bauch, um seinen Arm aus dem Bett zu hängen. Seine Finger strichen über den Boden, fühlten einzelne Krümel und Staubkörnchen dort. Putzen könnte er mal wieder. Er hatte eindeutig den Pegel verpasst, an dem er in die Kissen fallen und einschlafen konnte.

Fuck.

Er drückte sein Gesicht in die Matratze und schluckte ein wenig bitteren Speichel runter. Für einen Moment wanderten seine Gedanken zu Ida und er stellte sich vor, wie sie ihre schmalen Finger durch sein Haar gleiten ließ. Wie sie ihren Arm um ihn legte und ihm einen Kuss aufs Schulterblatt hauchte. Wie sie mit den gleichmäßigen Bewegungen ihrer Finger den Sturm in seinem Inneren unter Kontrolle brachte und mit ihrem festen Griff um seinen Körper das Schwanken der Welt unterband.

Keine fünf Minuten später stand er in der Tür zum Aufenthaltsraum. Malio hatte seinen Arm auf der Lehne hinter Marles Rücken ausgestreckt, während Phine sich auf einer der Couches ausgestreckt hatte. Sie zog einen Mundwinkel zu einem Lächeln hoch und streckte die Arme aus. „Komm schon her", meinte sie und Arjan warf die Tür hinter sich zu und quetschte sich neben sie. Seinen Kopf bettete er auf ihrem Oberarm, ließ seine Hand den kratzigen Teppich am Boden berühren, der abgelaufen und hart war. Auf den schon viel zu viele Menschen viel zu oft gekotzt hatten. Schloss die Augen, als sie die Hand auf seine Seite legte und ihn sanft dort streichelte, während im Hintergrund die Original-Stimme von JD erklang, der eine neue Folge einleitete.

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