5

Während die drei Mitglieder des Anarchistischen Kollektivs loszogen, lag Jarek in seinem Bett, ließ einen Film auf seinem Laptop laufen, und wischte sich durch die weibliche Belegschaft von Tinder. Dicke Titten nach rechts, süßes Lächeln nach rechts, hübsche Augen nach rechts, alles, was halbwegs fickbar aussah, nach rechts. Mädels mit Katzen auf ihren Profilbildern auf jeden Fall nach links. Er konnte es nicht leiden, wenn die Viecher ihm beim Vögeln zusahen. Mit ihren berechnenden Blicken aus ihren schlitzförmigen Pupillen. Als würden sie sich ganz genau anschauen, was er da tat, und ihn dafür verurteilen.

Aber irgendwie war Tinder noch langweiliger als sonst, jetzt, wo er die Frauen nicht mal treffen und flachlegen konnte. Er konnte mit ihnen schreiben, konnte sich Nacktbilder schicken lassen, was auch nicht schlecht war. Aber war eben nicht dasselbe, wie seinen Penis in ihrem warmen Schoß zu versenken.

Er war hart untervögelt. Scheiß Ausgangssperre. Und seine Mitbewohnerinnen waren dem Geschlechtsverkehr mit ihm bisher immer abgeneigt gewesen. Dabei hatte er, im Gegensatz zu Arjan, nicht die Regel, kein Mädchen aus dem Haus zu vögeln. Er würde die meisten von ihnen in seinem Bett begrüßen, auch wenn's wahrscheinlich schon blöd laufen würde. Er war nicht auf eine Beziehung aus wie Isir und Jona. Eine, vielleicht ein paar Nächte, reichten ihm. Solange bis es emotional wurde.

Am liebsten würde er natürlich Marle neben sich liegen sehen, nackt und zart. Entjungfert von ihm. Der erste zu sein, der die Tochter des Hausmeisters ins Bett bekommen hatte, war eine Leistung, die er sich nur zur gerne in den Bettpfosten ritzen würde.

Er seufzte tief, schloss Tinder und zog seinen Laptop zu sich heran. Tippte auf die Pausetaste, minimierte das Fenster mit dem Film und öffnete den Internetbrowser. Tippte eine Adresse mit ein paar x'en ein und platzierte ihn wieder neben sich, ehe er seine Jogginghose und die Boxershorts runterschob.


Auch Hennes fühlte sich einsam, aber auf eine andere Art und Weise als Jarek. Auch er dachte an Marle, aber ebenfalls nicht so wie Jarek. Stattdessen erinnerte er sich daran, wie sie ihm das Gefühl gegeben hatte, hier drinnen Freunde zu haben. Wie sie ihn aus seinem Zimmer gelockt und mit den Anderen in Kontakt gebracht hatte. Sie waren ja alle ganz nett gewesen soweit, ja wirklich, aber jetzt lag er trotzdem in seinem Bett und wollte es nicht verlassen, um das Klo aufzusuchen. Er wollte nicht raus auf den Flur treten und mit seinen Mitbewohnern über Belangloses reden. Er wünschte sich ein Klo in seinem Zimmer, ein privates für ihn und nicht eines, das er sich mit einem ganzen Flur teilen musste.

Aber das gab es jetzt nicht mehr. Es blieb ihm nichts anderes übrig als aufzustehen und sich der Welt zu stellen. Auch all die anderen waren mal neu hier gewesen, auch sie hatten es geschafft, ihren Platz und ihren Weg zu finden. Warum sollte ihm das nicht gelingen?

Einmal tief durchatmen, dann befreite er sich von der Decke, schlüpfte in seine Jeans, verließ sein Zimmer und besuchte das Sitzklo. Auf dem Weg begegnete er niemandem.

Auch als er am nächsten Morgen aus seinem Zimmer trat, lag der Flur wie ausgestorben da. Friedlich, schweigend, wo sonst immer überall was los zu sein schien. Die Küche war aufgeräumt und sauber und Hennes schmiss als erstes die Kaffeemaschine an, ehe er den Brotkasten öffnete und den Rest des Laibes herausnahm. Mit einem großen Messer schnitt er zwei Scheiben ab und schaltete gerade den Toaster ein, als Arjan in die Küche geschlurft kam. Er sah ziemlich müde aus mit seinem zerzausten Haar, den dunklen Ringen unter halb geschlossenen Augen und der blassen Haut, die sich von seinem schwarzen Pulli abhob, der locker an seinem Körper runterhing.

„Geil, du machst Kaffee", seufzte er und strich sich das Haar aus der Stirn.

„Guten Morgen", erwiderte Hennes und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Betrachtete Arjan einen Moment, wie er stehen blieb und sich nicht im Klaren zu sein schien, was er vorhatte. „Du siehst fertig aus."

„Ich hab nicht gut geschlafen", murmelte Arjan, trat an den Schrank und holte eine Tasse raus.

„Wieso nicht?"

„Mich lässt der ganze Mist, der auf der Welt so abgeht, nicht mal in meinen Träumen los. Heute Nacht habe ich davon geträumt wie Flüchtlinge im Mittelmeer abgesoffen sind, weil wieder irgendein Schiff nicht auslaufen durfte und die Retter als Schlepper kriminalisiert wurden. Weil man sie vor Gericht stellt und ins Gefängnis steckt, statt ihnen den scheiß Orden zu verleihen, den sie verdienen würden. Kann man das überhaupt noch Alptraum nennen, wenn es ein einfaches Abbild der Realität ist?"

Hennes schwieg einen Moment, bis ihm klar wurde, dass Arjan auf eine Antwort zu warten schien. „Äh", machte er und zuckte zusammen, als das Rost im Toaster mit einem lauten Klacken wieder hochschnellte. „Träume sind ja nicht unbedingt was Unreales, nur weil sie selbst nicht in der Realität stattfinden. Eigentlich ist da schon die Frage, was wir überhaupt als Realität definieren. Wenn wir alles Wahrnehmbare als Realität einstufen, oder alles, auf das wir messbare Reaktionen zeigen, sind deine Träume genauso real wie die Flüchtlinge, die ... du weißt schon."

„Hm", machte Arjan und starrte die Kaffeemaschine an. Die letzten Tropfen der braunen Suppe tropften in die gläserne Kanne und er stand auf, um sich einzugießen. „Ich werd mal drüber nachdenken", meinte er und verließ mit der weißen Tasse in der Hand die Küche.

Er trank nach dem Kaffee noch einen zweiten und war gerade bei seinem dritten, als es an der Zimmertür klopfte. Er blickte von seinem Laptop auf, an dem er seit ... er wusste gar nicht, wie lange eigentlich, das Internet nach Infos über die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln, die Archive seines Kollektivs nach hilfreichen Artikeln (wobei er immer wieder über Themen stolperte, die Aufarbeitungsbedarf hatten) und die Seiten anderer linker Gruppen nach Kommentaren und Gedanken zur aktuellen Situation.

„Ja?", fragte er, schob seinen Stuhl zurück und steuerte die Tür an. Die Klinke wurde von außen heruntergedrückt und Isir erschien im Türrahmen.

„Guten Tag, Herr Schnapsmeister", sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Arjan hob die Augenbrauen, als er einen Blick auf Isirs linken Arm warf.

„Hast du dein Tattoo angemalt?", fragte er ungläubig.

„Aye, Sir", grinste Isir.

„Du hast auch nichts zu tun, oder?", fragte er.

„Doch, ich hab ein großes Projekt am Laufen. Projekt Cajus aufheitern. Deshalb bin ich auch hier. Ich bräuchte ein bisschen was zu saufen. 'ne Band, die wir beide feiern, macht heute einen Livestream von zuhause aus und ich würde gerne oben im Gammaflur ein kleines Konzert inszenieren. Du kannst natürlich auch dazukommen, wenn du Lust hast."

„Mal sehen", erwiderte Arjan und betrachtete nochmal das fröhlich bunte Tattoo, ehe er sich an der Stirn kratzte. „Okay, was brauchst du?"

„Eine Flasche Pfeffi und einmal Whisky."

„Preisklasse?"

„Eher günstig, ich bin gerade nicht so flüssig."

„Ich schreib's dir an und bring's dir später vorbei."

„Danke, Arjan", sagte Isir und trat zurück auf den Flur, während Arjan die Tür schloss und wieder in seine Recherche versank.


Als er später mit den Schnapsflaschen die Treppen zum Deltaflur hinaufstieg, kam ihm Jona entgegen. Sie trug das blau gefärbte Haar zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und hatte einen Korb mit schmutziger Wäsche dabei.

„Hey, weißt du wo Isir ist?", fragte er und blieb eine Stufe unter ihr stehen.

„Keine Ahnung, du weißt ja, wie er ist. Ein Meister darin von der Bildfläche zu verschwinden", meinte sie, blieb ebenfalls stehen und klemmte sich den Korb gegen die Hüfte.

„Dann such ich mal weiter." Sie liefen aneinander vorbei und Arjan nahm zwei Stufen auf einmal, bis er auf dem vorletzten Absatz angekommen war und in den Deltaflur abbog.

„Isir!", rief er laut und erntete die Aufmerksamkeit von ein paar Leuten, die gerade in der Küche zugangen waren.

„He, ist der Pfeffi für mich?", fragte jemand, aber Arjan schaute nicht mal nach wer es gewesen war. Er klopfte an Isirs Tür, aber es öffnete ihm niemand. Er seufzte tief. Natürlich, wieso sollte auch irgendwas mal funktionieren? Er klopfte nochmal, diesmal kräftiger, aber es blieb still. Also steckte er als nächstes seinen Kopf in die Küche. „Habt ihr Isir gesehen?"

Allgemeines Kopfschütteln und Arjan fluchte leise, während er die Treppe wieder runterjoggte. Er fand ihn nicht auf den anderen Fluren und erinnerte sich dann, dass er auf dem Balkon hätte schauen sollen. Dem Lieblingsort der Raucher, seitdem dafür vor die Tür gehen von der Regierung eher ungern gesehen war. Nochmal hochlatschen würde garantiert nicht.

Isir hol deinen scheiß bei mir ab, schrieb er in die hausinterne Gruppe, während er sein Zimmer ansteuerte. Dort stellte er den Alkohol auf den Schreibtisch und schnappte sich einen Jutebeutel. Zeit, etwas fürs Mittagessen einkaufen zu gehen. Fast hoffte er auf einen Polizisten zu treffen, der ihn wegen seiner fehlenden Genehmigung anstresste. Aber Papier für so einen dummen Wisch zu verschwenden sah er nicht ein. Er konnte jedem von ihnen sagen was sein Plan war, das brauchte er nicht selbst auf einen blöden Zettel schreiben. Aber niemand kam ihm in die Quere, während er Gemüse einpackte, keine Kokosmilch bekam, auch keinen Reis und selbst die Regale mit den Konserven waren geplündert.

War das eigentlich deren scheiß Ernst? Die Welt ging nicht unter. Die Versorgung würde nicht zusammenbrechen, weil die Pandemie ein paar Menschen dahinraffte, dafür ging es der Wirtschaft im kapitalistischen Deutschland viel zu gut. Die Mittelschicht würde immer genug zu essen haben, von der Oberschicht brauchte er gar nicht anfangen. Und dass die Unterschicht nicht genug hatte, lag nicht an der Lebensmittelknappheit, sondern an der ungerechten Geldverteilung, die fast so beschissen war wie die globale Güterverteilung.

Arjan mahlte mit seinen Kiefern, während er Paprika, Zucchini und Karotten aufs Kassenband legte und mit Bargeld bezahlte. Er versuchte tief und gleichmäßig zu atmen, während er zum Wohnheim zurücklief und die Tür nicht so schwungvoll aufzustoßen, dass sie eine 180° Drehung hinlegte und gegen sich selbst schlug. In der Küche traf er auf Phine, die gerade Zwiebeln schnitt. Auf dem Herd köchelte ein Topf vor sich hin.

„Hey", grüßte die beiden einander. „Hast du vielleicht 'ne Tasse Reis für mich?", fragte Arjan.

„Klar. Nimm einfach aus meinem Fach", sagte Phine.

Arjan versuchte sich zu beruhigen, während er Gemüse schnitt und ein Curry kochte, dem die essentiellen Ingredienzien fehlten. Nicht mal die Biere, mit denen er sein Mittagessen runterspülte, halfen ihm dabei, und so waren seine Nerven noch immer zum Zerreißen gespannt, als er sich am Abend ins Online-Plenum einwählte. Er war einer der ersten. Nach und nach kamen immer mehr kleine Fenster dazu, in denen all die Leute auftauchten, denen er normalerweise jede Woche gegenübersaß. Sie unterhielten sich darüber, wie die letzten Tage für sie alle verlaufen waren, bis endlich alle eingetroffen waren und das Plenum startete. Arjan öffnete das Dokument mit der Tagesordnung, an oberster Stelle stand die Aktion, die er, Phine und Tharin letzte Nacht durchgeführt hatten.

„Bei der Durchführung hatten wir ein paar Probleme", begann Phine das Resümee. „Als wir das erste Mal losgefahren sind, wurden wir von der Polizei aufgehalten, die unsere Unternehmung nicht als notwendig angesehen hat, beziehungsweise nicht mal verstanden zu haben scheint, dass auch jetzt, in Zeiten der Ausgangssperre, noch Leute auf der Straße leben. Nach Provokation von beiden Seiten haben wir uns entschlossen abzuhauen und sind entkommen. Die Spenden haben wir in der Nacht zum Adenauerplatz gebracht. Heute Morgen habe ich einen Post dazu verfasst und veröffentlicht."

„Über das Verhalten der Polizei sollten wir dringend später sprechen. Ich setze das auf die Tagesordnung", schaltete Arjan sich ein und editierte die Liste, die auf einem Server gespeichert war, zu dem alle Mitglieder des Kollektivs Zugriff hatten. Nur sie.

„Gibt's noch Ergänzungen?", fragte Klementina. Schweigen von den Übrigen. „Gut, der nächste Gesprächspunkt sind die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln. Ich denke, wir sind alle zur Genüge über die dortigen Zustände informiert?" Nicken in allen Fenstern. „Gut, dann ist die Frage: Was können wir tun?"

„Zuallererst sollten wir die Menschen auf die Situation aufmerksam machen. Dafür schlage ich vor, dass wir Transpis malen und sie in der Stadt verteilen. Am besten mit Fotodokumentation, die wir dann in den sozialen Medien verbreiten", schlug Ida vor und ihr Bild wurde, wie jedes Mal, wenn jemand das Wort ergriff, groß und erfüllte den Großteil des Bildschirms. Sie trug ein Septum in der Nase und Cheek-Piercings in den Wangen.

„Find ich 'ne gute Idee. Ich würde mich auch bereit erklären die aufzuhängen", sagte Arjan.

„Ich wär dabei", sagte Tharin und auch Phine bot sich an.

„Wir müssten die eh alle selber aufhängen, sich treffen ist gerade schlecht", erinnerte Nura.

„Aber das sollten wir ja hinkriegen, oder? Wer sich nicht der Gefahr aussetzen möchte, malt keins und bleibt zuhause. Es gibt bestimmt noch mehr, das wir machen können", sagte Ida, während Arjan „Stimmt" murmelte.

„Wir sollten einen Weg suchen, online demonstrieren zu können", meinte Mischa.

„Am besten nutzen wir dafür die sozialen Medien, die eignen sich ganz gut. Wir könnten ein paar andere Gruppen anfragen, ob sie mitmachen wollen. Zum einen andere anarchistische Organisationen in ganz Deutschland oder vielleicht sogar weltweit, wenn wir da Kontakte haben, zum anderen vielleicht andere politische Gruppierungen aus der Gegend, mit denen wir uns eine Zusammenarbeit vorstellen können", schlug Phine vor.

„Das reicht aber nicht. Wir sollten noch mehr tun, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf dieses Thema zu lenken. Transpis gut und schön, aber die kann man auch gut ignorieren. Ich bin dafür, dass wir die Stadt ein bisschen verschönern. Am besten auch die Supermärkte, weil da aktuell immer noch jeder hin darf und auch muss. Wir könnten auch Flyer drucken und in den Einkaufswagen verteilen und auf die Griffe schreiben", warf Arjan ein.

„Auch eine gute Idee", stimmte Ida zu. Sie sprachen noch eine Weile über das Thema, überlegten dann, welche Probleme die Pandemie noch aufwarf, Arjan ließ sich über das Verhalten der Polizei aus und berichtete auch von den Themen, die noch aufgearbeitet werden sollten, die er bei seiner Recherche gefunden hatte. Am Ende sprachen sie noch darüber, wie es den einzelnen Mitgliedern des Kollektivs ging und mit welchen Problemen sie zu kämpfen hatten.

„Mich macht das echt fertig. Zuhause sitzen zu müssen und nichts machen zu können", erzählte Arjan den anderen.

„Ich weiß genau wie du dich fühlst", sagte Ida und er schenkte ihr ein Lächeln. Es war ein Satz, den jeder schnell sagte, aber in dieser Gemeinschaft wusste er, dass er stimmte. Dass alle Mitglieder unter demselben Weltschmerz litten wie er, auch wenn sie alle unterschiedlich damit umgingen und er sich bei allen unterschiedlich ausprägten. Aber sie alle trugen ein nach Freiheit lechzendes Herz in dem Rippenkäfig in ihrer Brust gefangen, träumten von einer heilen Welt, während sie gefangen in der sozialen Isolation, die nicht erst mit dem Ausbruch des Virus seinen Anfang genommen hatte, von einem kapitalistischen Staat zu Sklaven der Uhren verdonnert wurden. In einer Gesellschaft, die nach Leistung strebte und Erfolg über Gemeinschaft stellte. Sie alle trugen dieselbe Wut in sich. Die Wut über all diese egozentrischen Leben voller Ignoranz und über all den Selbsthass und die Unsicherheiten, die in die Seelen geschlagen wurden wie Kometensplitter.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top