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Isir hockte auf dem Boden vor Cajus' Bett und malte das schwarz-weiße Tattoo, das seinen kompletten linken Arm bedeckte, mit bunten Filzstiften aus. Cajus, der im Bett lag, schaute ihm seit bestimmt zwanzig Minuten dabei zu.

„Dir ist auch langweilig, oder?", fragte er.

„Nicht so langweilig wie dir scheinbar", erwiderte Isir, steckte die Kappe auf den gelben Stift und griff sich den grünen.

„Hast du nicht noch was zu tun? Vermisst Jona dich nicht?"

„Meinen besten Freund aufheitern", erwiderte Isir.

„Du sitzt auf meinem Boden und malst deinen Arm an. Ich weiß nicht, wie mich das aufheitern soll."

„Du könntest mitmachen. Maltherapie."

„Nee, danke."

„Desto schneller wir hier fertig sind, umso schneller bist du mich los."

„Willst du jetzt all deine scheiß Tattoos ausmalen?", fragte Cajus und hob die Augenbrauen, während Isir den Oberarm eindrehte, um an dessen Unterseite zu gelangen.

„Klar doch."

„Das dauert ja noch ewig", seufzte Cajus, rollte sich auf den Rücken und legte sich den Arm auf die Stirn, während er den Blick aus dem Fenster richtete, wo Äste vor blauem Himmel wogen.

„Eben. Also hilf mir lieber."

Stattdessen nahm Cajus sein Handy in die Hand und suchte Jonas Chat heraus.

Hol mal bitte deinen freund bei mir ab, schrieb er. Er wollte seine Ruhe und nicht dabei zuschauen, wie Isir seinen zugehackten Körper verschönerte.

Plötzlich zerriss ein Schrei die ansonsten ruhige Geräuschkulisse. Es war ein Ausdruck purer Wut, es klangen keine Worte mit. Cajus ließ das Handy sinken und Isir hob den Kopf. Woher kam der Schrei? Vom Flur oder doch von draußen, durch das geöffnete Fenster herein?

„Ist das bei uns?", fragte Isir, während das Gebrülle langsam verebbte. Er legte den Filzstift auf den Boden und steuerte die Zimmertür an, während Cajus sich aufrappelte und durch die Scheibe nach draußen schaute, wo er einige Mehrfamilienhäuser erblickten konnte, die von Wiesenstreifen und Fußwegen umrandet waren. „Hallo? Alles gut hier?", rief Isir den dunklen Flur runter, aber es antwortete niemand. Keine Geräusche drangen aus der Küche oder durch die Türen der anderen Zimmer.

„Vielleicht war's irgendwo nebenan", vermutete Cajus, aber jetzt war wieder Stille eingekehrt.

„Vielleicht hat sich da einfach irgendwer gestritten", meinte Isir und zog die Tür wieder zu. „Die hängen ja auch alle aufeinander und haben nicht den Luxus wie wir mit einem Haufen cooler Leute eingesperrt zu sein. Auch wenn du uns alle sofort gegen Jule eintauschen würdest, ich weiß." Er grinste, hob den Stift vom Boden auf und steckte die Kappe drauf. „Zieh nicht so'n Gesicht, Mann, du siehst sie schon noch wieder."

Cajus ließ sich in den Schneidersitz sinken und Isir nahm auf der Bettkante Platz.

„Ich weiß, aber das macht es irgendwie nicht besser. Dass ich nicht mal weiß wann ich sie wiedersehen kann, ist das härteste. Ich würde gerade am liebsten jede Sekunde mit ihr verbringen."

„Das verstehe ich. Aber lass dich nicht so hängen, das machts echt nicht besser." Er legte Cajus die Hand auf die Schulter und schaute ihm aufmunternd in die Augen.

„Ich weiß", seufzte Cajus. Er wusste es, er wusste es wirklich. Aber das änderte nichts an seinen Gefühlen und daran, dass er, als er vor wenigen Wochen mit Jule zusammengekommen war, geplant hatte, sie um einiges öfter zu sehen.


„Läuft das Plenum jetzt eigentlich online weiter?", fragte Arjan, nahm einen Schluck aus dem Bier, das er sich eben aus dem Kühlschrank geholt hatte, und nahm wieder auf seinem Schreibtischstuhl Platz.

„Ja, ich glaub, die haben's jetzt zum Laufen gekriegt", meinte Phine, die durch die Nachrichten scrollte, die auf ihrem Handy eingegangen waren.

„Wir müssen das auf jeden Fall ansprechen. Das von heute. Und wir müssen irgendeine Aktion gegen die scheiß Bullen planen", sagte Arjan, nahm einen tiefen Schluck und stellte die Flasche neben die leere auf seinem Schreibtisch.

„'ne Aktion gegen die Bullen so ganz im Allgemeinen stelle ich mir wenig vielversprechend vor", erwiderte Phine und hob dann belustigt den Blick.

„Halt die Fresse, du weißt genau, was ich meine", zischte Arjan, dem so gar nicht nach Lachen zumute war.

„Wir sollten die Situation diskutieren, ja. In Ruhe", sagte Tharin.

Arjan trank aus seiner Flasche und drehte sich zu seinem Bildschirm. Überflog die Überschriften in der Online-Zeitung, die sich alle nur um das leidige Thema Pandemie drehten und sein Blut noch mehr zum Kochen brachten. Es machte ihn jetzt schon wahnsinnig hier zu sitzen und nichts machen zu können. Warten zu müssen. Ja, verdammt, es war richtig und vernünftig zuhause zu bleiben, um die Verbreitung des Virus so gering wie möglich zu halten. Aber es gab gleichzeitig so viel, um das sich gekümmert werden musste. Es gab die Obdachlosen, die dringend Nahrung und Hygieneartikel brauchten. Es gab die Menschen in den Flüchtlingslagern auf Lesbos und den übrigen Inseln, bei denen die Scheiße am Dampfen war. Es gab Polizisten, die plötzlich sehr viele Rechte bekamen und sich nahmen, ohne irgendwelche Kompetenzen dazuzugewinnen. Das war erst der Anfang von allem. Da gabs noch tausend Themen, die durch seinen Kopf wirbelten, die sein Blut zum Rauschen brachten und ihm keine Ruhe gönnten. Vielleicht würde das Bier helfen, ein bisschen Ordnung und Ruhe einkehren zu lassen.

„Lasst uns was spielen, um die Zeit rumzukriegen", schlug Phine vor und schmiss ihr gesperrtes Handy auf die Matratze.

„Ein Trinkspiel?", schlug Arjan vor.

„Ja, genau, damit wir nachher besoffen vom Fahrrad fallen und das Essen wieder nicht in der Stadt ankommt", sagte Tharin und in ihrer Stimme klang ein gereizter Unterton mit. Sie suchte Arjans Blick und zog die Augenbrauen ein wenig zusammen, als sie sich trafen. Für einen Augenblick knisterte die Anspannung zwischen den beiden in der Luft, ehe Arjan seine Flasche griff und einen Schluck daraus nahm.

„Zerfetzt euch jetzt nicht, Leute", sagte Phine. „Wir spielen Scrabble, da könnt ihr eure Hirne mal auf ein bisschen was anderes fokussieren, als auf Eskalation." Sie stand auf und unterbrach den Blickkontakt, indem sie zwischen den beiden hindurch zur Tür ging und den Aufenthaltsraum ansteuerte. Vorne bog Jarek in den Flur ein und drückte auf den Lichtschalter an der Wand, das Deckenlicht erwachte zum Leben und vertrieb das Halbdunkel in die Ecken.

„Hey", sagte er und Phine erwiderte seinen Gruß, während er sein Zimmer ansteuerte und sie in den Aufenthaltsraum abbog. Dort war von der kleinen Versammlung inzwischen nur Malio übrig geblieben, der eine Schüssel mit Weintrauben auf seinem Bauch liegen hatte, den Arm im Nacken verschränkt und auf den Fernseher schaute, der an der Wand hing.

„Hey", grüßte er, pflückte eine Traube vom Strauch und schob sie sich in den Mund, ehe er die Schüssel griff und sie Phine entgegenstreckte. „Traube?"

„Danke", sagte sie und brach sich einen Strang ab, mit dem sie sich auf die andere Couch fallen ließ. Sie seufzte tief.

„Alles gut?", fragte Malio. Über den Fernseher flackerte ein alter Zeichentrickfilm.

„An sich schon, aber ich glaube langsam drehen alle durch. Vor allem Arjan, der kommt gerade gar nicht mit der Situation klar." Sie schob sich eine Traube in den Mund und schaute ihn an.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Er macht sich immer viel zu viele Gedanken um alles und jetzt ist da draußen nicht nur viel zu viel los, nein, er ist auch noch gezwungen zuhause zu bleiben und hat keine Möglichkeiten seinen Eifer irgendwie rauszulassen."

Phine nickte. „Wenn das so weitergeht, haben wir bald einen Fall von häuslicher Gewalt hier oder so", meinte sie.

„Ach was, dafür ist er zu besorgt um unser Wohlergehen."

„Ja, ich weiß. Aber jetzt gerade liegen seine Nerven echt blank." Phine schob sich noch zwei Trauben in den Mund.

„Das wird schon wieder. Warten wir erstmal ab, wie alles weitergeht. Er wird sicher einen Weg finden, trotzdem aktiv zu sein und was zu bewegen."

„Da bin ich mir sicher."

„Wie sieht das eigentlich nachts aus? Denkst du, da sind viele Bullen unterwegs?"

„Ich denke nicht. Deshalb wollen wir auch heute Nacht nochmal los."

„Sag mal Bescheid wie die Lage ist." Malio schob sich ebenfalls eine Traube zwischen die Zähne.

„Was hast du vor?"

„Containern. Auch jetzt wird noch Essen weggeschmissen, da bin ich mir sicher. Auch wenn's wahrscheinlich weniger ist, weil alle mit ihren Hamsterkäufen ausrasten. Aber dann schmeißen sie's halt bei sich zuhause weg, weil sie gar nicht alles verwerten können, ist auch nicht besser. Aber ich bin mir sicher, dass da trotzdem noch was in den Tonnen landet und das muss ja nicht sein."

„Nee, das muss echt nicht sein", stimmte Phine zu. „Ich sag dir morgen wie's draußen aussieht."

„Danke", lächelte Malio. Phine steckte sich die restlichen Trauben in den Mund, warf den übrigen Stil in Malios Schüssel und stellte sich auf die Couch, um Scrabble vom Regal zu ziehen.

Während Phine das Spielfeld aufbaute, leerte Arjan sein Bier und lief durch den dunklen Flur zum Stehklo, ehe er in den Aufenthtsraum trat und die leere Bierflasche in den Kasten stellte.

„Hey", grüßte er.

„Hey", erwiderte Malio und streckte ihm die Schüssel hin. „Traube?"

Arjan machte einen Schritt vor und pflückte sich zwei Stück ab, die er sich in den Mund schob, ehe er sich zum Kühlschrank wandte und eine Bierflasche rausnahm.

„Viel Erfolg nachher", sagte Malio und Arjan schloss die Tür wieder und machte einen Strich hinter seinen Namen.

„Ich sollte einfach die Bullenwache und all ihre Autos anzünden", knurrte Arjan.

„Jetzt klingst du wie der klassische Linksradikale aus den Medien", lachte Malio und streckte ihm nochmal die Schüssel hin. Arjan nahm sich noch eine Traube, öffnete die Bierflasche am Regal unter dem Fernseher, in dem die leeren Kästen standen und verließ den Raum wieder.


Als die Dunkelheit die Stadt in Beschlag genommen hatte und die Mitternachtsstunde verstrichen war, waren fünf weitere Striche hinter Arjans Namen dazugekommen. Er merkte, dass seine Bewegungen fahriger geworden waren, während er sich die schwarze Mütze auf den Kopf zog und sich den schwarzweiß karierten Schal ums Gesicht schlang. Aber seine Gedanken waren ein wenig zur Ruhe gekommen. Sie wirbelten weniger, fokussierten sich eher darauf das Wirbeln der Außenwelt abzuschalten. Viel war daneben nicht mehr zu finden. Weich und an den Kanten verschwommen lief der aktuelle Plan vor seinem inneren Auge ab. Heute Nacht konnte er sich darauf konzentrieren den Obdachlosen Essen zu bringen, morgen konnte er im Plenum über die unmöglichen Hygienebedingungen in den Flüchtlingslagern sprechen und mit den anderen überlegen, was für Aktionen sie zum aktuellen Zeitpunkt planen und durchführen konnten. Der Rest kam danach, irgendwann danach, und hatte jetzt keinen Platz in seinem Kopf.

Sein Rucksack stand noch vor der Küche. Er setzte ihn sich auf und verließ zusammen mit Phine und Tharin das Wohnheim. Sie ließen die Lichter an den Fahrrädern aus und ihre schwarze Kleidung verschmolz mit der Nacht zu einer Einheit. Phine und Tharin fuhren in zügigem Tempo voran und Arjan bemühte sich, mit ihnen mitzuhalten und sie in der Dunkelheit nicht zu verlieren.

Die Stadt war noch ausgestorbener als am Mittag schon, auch wenn er das kaum für möglich gehalten hätte. Jetzt sangen nicht mal mehr die Vögel und kein einziges Auto war auf der Straße unterwegs. Wirklich jeder schien jetzt in seinen eigenen vier Wänden zu sitzen, hoffentlich auch die Bullen. Zumindest sollten sie ihre Wagen auf den extra für sie reservierten Parkplätzen stehen lassen.

Sie schafften es unbehelligt bis in die Innenstadt und erreichten den Adenauerplatz. Dort stiegen sie von den Rädern, setzten die Rucksäcke ab und stapelten Konservendosen, Gemüse, verpacktes Brot, Gläser mit Aufstrichen, Obst und einen Karton mit selbstgebackenen Muffins zu einem kompakten Haufen. Arjan zog aus seinem Rucksack ein Stück weißes Stoff, ein altes T-Shirt, auf dessen Rückseite er mit schwarzer Farbe eine Botschaft geschrieben hatte:

Für alle, die es brauchen. Bitte zugreifen.

Anarchistisches Kollektiv 161

Er breitete es vor den Speisen aus, sodass es gut lesbar war.

„Sehr schön", lächelte Phine und richtete sich wieder auf. Der Mond beleuchtete den offenen Platz spärlich, das orangene Licht der Laternen ließ das Essen unappetitlich wirken.

Nichts wie weg hier, wir sollten unser Glück nicht herausfordern", sagte Tharin.

„Ja, Moment", sagte Phine, holte ihr Smartphone aus der Tasche und knipste ein Foto. „So, jetzt."

Sie hoben ihre Fahrräder auf, wendeten sie und schwangen sich auf den Sattel. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über Arjans Geist, während er hinter den beiden Mädels herfuhr. Mit einem Mal fiel der Stress und Frust des Tages von ihm ab. Er war nicht mehr wütend, nicht mehr aufgebracht, nur noch betrunken. Betrunken und sehr müde. Er gähnte herzhaft, verpasste den Moment, in dem sein Rad vom Bürgersteig auf die Straße rollte und biss sich fast auf die Zunge. Vielleicht würde er wenigstens gut schlafen, wenn er endlich in en Federn lag. Energie tanken für das Plenum morgen.

Auch der Rückweg verlief ereignislos und das Wohnheimsgebäude empfing sie mit warm beleuchteten Fenstern. In vielen Zimmer brannten die Lampen, im ersten Stock kochte jemand und sein Gesang drang durch das gekippte Fenster in die Nacht hinaus. Aus dem Aufenthaltsraum des Gamma-flurs flackerte bläuliches Licht nach draußen, wahrscheinlich schauten sie gerade einen Film auf der großen Leinwand, die sie sich im letzten Jahr zugelegt hatten.

Die Luft war kalt, Arjans Finger kalt und steif. Er brauchte einen Moment, um sein Fahrrad anzuschließen. Diesmal nahm er den leeren Rucksack mit in sein Zimmer, streifte sich dort die Schuhe von den Füßen, schmiss die Jacke über die Lehne seines Schreibtischstuhls, zog sich Pulli und T-Shirt über den Kopf, entledigte sich seiner Socken und Jeans und schmiss den Scrabbelkarton von seinem Bett, ehe er unter die Decke kroch. Das Kissen fühlte sich federweich an, seine Augenlider schwer wie Blei. Er schloss sie, genoss das Gefühl zu liegen. Seine Muskeln entspannten sich, seine Knochen wurden entlastet. Und obwohl er heute einen Schritt in die richtige Richtung getan hatte, wollte der Schlaf nicht kommen. Stattdessen begannen seine Gedanken wieder zu wirbeln, drehten sich um all den Scheiß da draußen der Welt, der viel zu viel war, um in einem einzigen Leben all das verändern zu können. Viel zu viel für einen alleine, um damit klarzukommen. Als der Schlaf dann doch kam, waren Arjans Träume durchzogen von Schlauchbooten voller abgemagerter, verletzter Menschen. Von feistgesichtigen Politikern, die fett und fies über allem schwebten und die Schiffe der Retter vom Meer pflückten wie Figuren von einem Schachfeld. Er sah Wellen, sah das Schlauchboot kentern und dann unendlich viele kalte, leere Augen von Menschen, die zuerst alles Lebenswerte und schließlich auch ihr Leben verloren hatte. Tote im Meer hinterließen kein Blut, das an den Tentakeln von der Festung Europa kleben konnte.

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