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Cajus schloss die Tür und sperrte Marle und Hennes aus seinem Zimmer aus. Er hatte keine Lust auf ihre Gesellschaft, hatte keine Lust auf einen lauten, feuchten Abend mit Gesprächen über Dinge, die ihm gleichgültig wichtig oder unwichtig waren. Die einzige Person, mit der er sprechen wollte, war Jule, aber die war nicht da. Die saß ein paar hundert Kilometer entfernt alleine in ihrer WG fest und er könnte auch dort sein, wäre da nicht diese verdammte Ausgangssperre, die ihm verbot, die Reise zu ihr zu unternehmen.

Er seufzte tief und legte sich wieder auf sein zu weiches Bett mit der dunkelblauen Bettwäsche, von dem aus er in den Himmel draußen schauen konnte. Er sah die wiegenden Äste einiger Bäume vor dem strahlenden Blau des Himmels, das sich bald dunkel und schließlich schwarz verfärben würde.

Eigentlich war da so viel gewesen, auf das er sich gefreut hatte. Konzerte in der Gegend, die er mit Isir hatte besuchen wollen, Konzerte weiter weg, auf denen er Jule gesehen hätte, die dieselben Bands feierte wie er. Auch in ihrem Zimmer hing ein Poster von Shinedown und so, wie es seine Lieblingsband war, war es auch ihre. Festivals, einen ganzen Sommer voll Festivals. Dass irgendwas davon stattfinden würde, war mehr als unwahrscheinlich und auch, wenn das schon genug schmerzte, war das Schlimmste die Ungewissheit darüber, wann er Jule wiedersehen würde. Wäre er doch bei ihr gewesen, als der ganze Spuk losging, dann wäre das alles jetzt halb so schlimm. Dann könnten sie die Zeit der Pandemie zusammen verbringen und es wäre ihm scheiß egal, dass er das Haus nicht verlassen durfte. Mit ihr im Bett liegen, kuscheln und Serien schauen war eh besser.

Er hob sein Handy von der Matratze und öffnete ihren Chat. Scrollte durch die Nachrichten, die sie geschrieben hatten. Die letzte war noch unbeantwortet und von ihr nicht gelesen worden, das sagte ihm der fehlende zweite Haken.

Sollten die anderen ruhig alleine saufen, er hatte nichts zu feiern. War eh irgendwie unsensibel. So vielen Menschen ging es jetzt gerade schlecht und die wollten sich besaufen wie an jedem anderen Tag.

Er schloss den Chat und öffnete seine News-App, in der jeder einzelne Artikel von der Pandemie und dem Virus handelte, als gäbe es keine anderen Themen auf der Welt. Er wusste genau, was Arjan dazu sagen würde. Er würde sich darüber aufregen, dass im Hintergrund jetzt ein Gesetz nach dem anderen durchgedrückt wurde, still und heimlich. Dass die wirklich wichtigen Themen untergingen, weil die Menschen plötzlich mal selbst von ein bisschen Scheiße betroffen waren, und dass es sie immer noch nicht interessierte, dass es anderen seit Jahren Tag für Tag sehr viel schlechter ging als ihnen jetzt.

Cajus fragte sich oft, woher Arjan diese ganze Energie nahm, die es brauchte, um sich mit der Negativität der Welt auseinanderzusetzen. Wieso er sich nicht längst aus dem Fenster gestürzt hatte, sondern immer weiterkämpfte und über eine scheinbar unerschöpfliche Quelle an Hoffnung zu verfügen schien, die in Cajus selbst eher verkümmert schien. Schon die Tatsache, dass er Jule nicht sehen konnte und nicht wusste, wie viele Monate sie gezwungen getrennt sein würden, warf ihn aus der Bahn. Aber so war es eben.


Marle und Hennes saßen nebeneinander auf der Couch und hatten beide ein frisches Bier in der Hand, als Phine die Tür zur Bar aufstieß und gleich die Anlage in der Ecke rechts von ihr ansteuerte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Haremshose und steckte das weiße AUX-Kabel in die passende Öffnung, dann öffnete sie Spotify und startete eine Playlist mit dem Namen Ich ficke deine Poesie, die linken Hip Hop beinhaltete. Ein entspannter Song bestehend aus banalen Beats machte den Anfang.

Tharin folgte als nächstes und trat an den Bierkühlschrank, ehe Arjan wenig später die Tür mit dem Oberarm aufdrückte und einen Haufen roter Becher in den Armen bei sich trug.

Die ehemals weißen Wände des großen Raumes waren von den Bewohnern bemalt worden, verschiedene, bunte Motive zogen sich über die volle Länge. Auch die Rollladen, die den Blick durch die Fenster nach draußen verwehrten, waren von innen verschönert worden. Hier schienen sich Leute mit Sprühfarben ausgetobt zu haben.

„Hab ich was von Bier Pong gehört?", fragte Arjan mit einem Grinsen auf den Lippen, steuerte einen der Tische an der Wand an, ließ die Becher darauf fallen und zog ihn von der Wand weg, an der ein bunter Kakadu zwischen sattgrünen Blättern hervorschaute, während die Tür geräuschvoll ins Schloss fiel. „Hennes, was ist mit dir? Spielen wir eine Willkommensrunde?"

Wie automatisch wandte Hennes Marle den Blick zu und sie lächelte ihm aufmunternd zu und nickte. Ihre freundlichen braunen Augen vermittelten ihm eine innere Ruhe, die er gut gebrauchen konnte.

„Ähm, ja", sagte er und erhob sich unsicher. „Wie sind denn die Regeln?" Er lief auf den Tisch zu, auf dem Arjan gerade die Becher in einer Pyramidenform hintereinander aufstellte.

„Wir werfen diesen Ball und versuchen ihn in die Becher des Gegners zu werfen. Da ist Bier drin. Wenn ich in deinen Becher treffe, musst du den austrinken, dann darfst du werfen. Ist der Ball einmal aufgetippt, darfst du versuchen ihn wegzuschlagen, sonst behältst du deine Hände bei dir", erklärte Arjan, stellte auch die Becher auf der gegenüberliegenden Seite auf, holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und strich beide auf sich. Eine drückte er Hennes in die Hand. „Verteil die gleichmäßig auf deine Becher, dann können wir anfangen", erklärte er und öffnete seine eigene Flasche an der Tischkante.

„Krieg ich mal dein Feuerzeug?", fragte Hennes und schaute in Marles Richtung, die inzwischen Gesellschaft von Phine und Tharin bekommen hatte, und aufsah, als er sie ansprach.

Tharin holte ihres aus der Tasche ihrer kurzen Hose, die sie über einer schwarzen Leggings trug, und warf es ihm zu.

„Danke", murmelte Hennes und fing es gerade noch. Er öffnete seine Flasche und füllte die Becher, Arjan war bereits fertig und wartete mit dem Tischtennisball in der Hand und einem freudigen Grinsen im Gesicht. Er wippte im Takt zu Musik hin und her und schien zu viel Energie übrig zu haben, um in diesem Haus zu stehen und nichts zu tun.

„Bereit?", fragte er schließlich und warf den Ball, als Hennes nickte. Daneben. Hennes fing ihn aus der Luft und warf seinerseits. Nach ein paar Ballwechseln stahl sich auch auf seine Lippen ein Lächeln und zwang die ständige Unruhe aus seinem Inneren. Die Konzentration kehrte langsam zurück und mit ihr erhöhte sich auch seine Trefferquote.

„Nicht schlecht", grinste Arjan, als er den dritten Becher in Folge traf. Die Vorräte auf beiden Seiten waren stark dezimiert, die auf Hennes' Seite stärker, aber er holte auf. Arjan tippte den Ball kurz in den Wasserbecher, warf und leerte dann sein Bier.

Sie spielten drei Runden, jede davon gewann Arjan.

„Ich bin eben der ungeschlagene Meister", lachte dieser, als Hennes gerade die letzten Becher trinken musste. „Aber ich bin ein guter Gewinner, ich helf dir nochmal, wenn du willst."

Hennes lächelte und schob ihm einen der Becher zu, den Arjan bereitwillig runterkippte, wie er es auch schon nach den beiden letzten Runden getan hatte.

„Noch eine Runde?", fragte er und griff sich einen weiteren.

„Nee, danke. Mir reichts erstmal", winkte Hennes ab. Die Kohlensäure blähte seinen Bauch auf, er musste dringend mal pissen und spürte so langsam das Bier durch seinen Kreislauf fließen.

„Irgendwer muss ihn heute unbedingt noch besiegen", lachte Phine von der Couch aus, auf der sie immer noch mit Tharin und Marle zusammensaß.

„Wie steht's mit dir?", grinste Arjan und hob herausfordernd den Ball.

„Gerade nicht", lachte sie.

„Ich spiele eine Runde gegen dich", sagte Marle, stand auf und zog ihre Jeans hoch.

„Mach dich drauf gefasst zu verlieren", tönte Arjan grinsend und stellte die Becher wieder in Position. Er schien bei diesem Spiel vollkommen in seinem Element zu sein.

„Zieh ihn bitte gnadenlos ab", sagte Tharin, während Hennes die Tür ansteuerte, um das Klo im Flur aufzusuchen. Mehr als eine Klokabine, eine Kabine mit einem Pissoir und einem winzigen Waschbecken gab es hier nicht. Ein alter Automat hing noch an der Wand, bei dem Hennes nicht erkennen konnte, wofür er mal gewesen war. Als er wieder auf den dunklen Flur trat und sich die Hände an der Jeans abwischte, kamen Cara und Jarek die Treppe runter. Cara drückte auf den Lichtschalter und Jarek blieb Hennes gegenüber stehen.

„Was geht hier?", fragte er und schaute ihn an.

„Bier Pong", antwortete Hennes wie aus der Pistole geschossen.

„Zieht Arjan wieder alle ab?", grinste Jarek und seine Stimme klang, als habe er ebenfalls bereits einige Biere vernichtet.

Hennes nickte. Auch, wenn er Marle dabei Recht geben musste, dass Arjan scheinbar in Ordnung war, war er sich bei Jarek da noch nicht so sicher. Hinter den beiden lief er wieder in die Bar, wo Arjan und Marle bereits am Spielen waren.

„Ey, du alter Anarchist", grinste Jarek, trat an Arjan heran und legte ihm einen Arm um die Schultern. Cara blieb neben den beiden an der Längsseite des Tisches stehen, während Hennes mit Blick auf das Grüppchen zu den Couches rüberging und sich mit Abstand zu Phine und Tharin setzte.

„Ey, du alter Aufreißer", erwiderte Arjan und traf in Marles Becher.

„Spielen wir gleich 'ne Runde?"

„Immer", stimmte er zu und befreite sich aus Jareks Umarmung, als er den zur Seite fliegenden Ball fing.


Der Abend verging mit viel Bier Pong. Jarek griff sich irgendwann Phines Handy und wechselte zu einer Dubstep Playlist. Dazu schaltete er die bunten Lampen an, die an einer Seite der Bar über ein paar Couches hingen und im Takt zum Bass ihre Farben änderten. Arjan blieb ungeschlagen und war schnell voll genug, um Hennes doch wieder suspekt zu werden.

„Okay, Leute, jetzt mal im Ernst", sagte er irgendwann mit einem Bier in der Hand und hockte sich auf die Kante des Billardtisches, der in der Mitte des Couchhufeisens stand. „Es kann doch wirklich nicht sein, dass wir hier sitzen und es uns gut gehen lassen, während da draußen Menschen um ihr Leben bangen."

„Nicht schon wieder", seufzte Jarek und ließ seinen Kopf auf die Couchlehne zurücksinken. Er saß neben Marle, die Arjan anschaute.

„Doch, schon wieder. So lange, bis was passiert."

„Was sollen wir tun, verdammt? Sollen wir zum Flugplatz fahren, 'ne Maschine klauen, sie mit Seife beladen und in dein verkacktes Moria fliegen, damit die Idioten da sich die Hände waschen können?" Jarek hatte den Kopf wieder gehoben und schaute Arjan jetzt offensiv an.

„Wär zumindest mal ein Anfang", zischte der und erwiderte den Blick. Unterschwellig aggressive Wellen gingen von ihm aus und schwappten durch den Raum, der mit einem Mal viel kleiner wirkte, die Musik viel lauter in der eingetretenen Stille.

„Gibt aber keine Seife mehr zu kaufen. Genauso wenig wie Desinfektionsmittel oder Klopapier." Jarek setzte sich auf, während Hennes etwas tiefer in die Couch rutschte. Neben ihm saß Phine, die zwischen den beiden Redenden hin und her schaute.

„Ist dir das echt so scheiß egal?", fragte Arjan und zog die Augenbrauen über seinem harten Blick zusammen. Als könne er sich nicht vorstellen, dass diese Annahme der Wahrheit entsprach. Dass es irgendwen gab, dem das Schicksal der Geflüchteten nicht die ganze Zeit im Kopf herumgeisterte, wie es bei ihm scheinbar der Fall war.

„Die Grenzen sind nicht umsonst zu", setzte Jarek an, wurde aber von Arjan deutlichen Worten unterbrochen.

„Die geben Milliarden aus, um jeden verkackten Urlauber ins Land zurückzuholen. Ich diskutier hier mit dir jetzt nicht über Grenzen an sich, das geht zu weit, aber wenn die jeden scheiß Deutschen hier einfliegen können, können sie auch Leute aus den Flüchtlingslagern holen. Dann sollen sie sie hier halt zwei Wochen in Quarantäne stecken, scheiß egal, aber es kann nicht sein, dass wir sie dort ganz alleine lassen!"

„Ich hab echt keinen Bock mit dir zu diskutieren, das geht nämlich nicht, weil du meinst immer Recht zu haben", erwiderte Jarek und drückte sich aus der Couch hoch.

„Gut, ich hab nämlich genauso wenig Bock mit dir zu diskutieren!", erwiderte Arjan und trank aus seinem Bier, während Jarek die Tür ansteuerte und aus der Bar auf den Flur verschwand.

„Was ist mit euch?", wandte er sich an die anderen.

„Was du vorhast, wird nicht funktionieren", warf Cara ein, die auf Jareks anderer Seite gesessen hatte. Sie hatte die Füße auf die Couch gezogen und lehnte entspannt an der Lehne.

Arjan schaute sie an und hob die Augenbrauen.

„Du bist zu besoffen, so kriegst du keinen auf deine Seite. Versuchs morgen nochmal in Ruhe, ernsthaft."

„Sie hat nicht ganz Unrecht", stimmte Tharin zu und erhob sich. „In meinen Kopf will's auch nicht rein, dass so vielen das Schicksal unserer Mitmenschen egal ist, aber mit Vorwürfen kriegst du keinen zum Umdenken. Geh lieber schlafen, damit du fit für morgen bist."

Man konnte sehen, wie es in Arjan arbeitete. Er schaute Cara an, dann Tharin, schließlich Phine.

„So'n Dreck", zischte er und leerte seine Flasche. „Gute Nacht." Damit stellte er sie auf dem Billardtisch ab und verließ ebenfalls die Bar, dicht gefolgt von Tharin und auch Phine, die sich in der Tür nochmal umdrehte.

„Gute Nacht", sagte sie und die anderen erwiderten den Gruß.

„Ich mach mich dann auch mal auf", meinte Marle und schaute Hennes an. „Wir sehen uns."

„Bis dann", murmelte er und blieb mit Cara allein zurück.

„'ne Runde Billard vorm Schlafen?", fragte die und Hennes stimmte zu. Wenn er schonmal dabei war, die Menschen hier kennenzulernen, konnte er auch damit weitermachen.


„Arjan, dein Zimmer liegt links", versuchte Tharin ihn aufzuhalten, aber Arjan lief weiter geradeaus zum Balkon, wo im Dunkeln nur das Glühen einer Zigarette auszumachen war. Er schob die Tür auf und Jarek draußen machte einen Schritt beiseite, um sie nicht abzubekommen. Viel Platz hatte er nicht. Rechts und links von ihm dienten alte, zersägte Europaletten mit zerschlissenen Polstern darauf als Sitzgelegenheit und ein Regalbrett war als Tisch an die Kopfseite des Balkons geschraubt worden. Ein benutzter Aschenbecher stand darauf.

„Ich sag's dir jetzt einmal ganz klar und deutlich: Wenn du keinen Bock hast, dich mit den Belangen unserer Welt auseinanderzusetzen, schön für dich, aber red nicht so verschissen arrogant über andere Menschen, sonst stopfe ich dir deine Kippe so tief in den Hals, dass du künftig nur noch durch'n Strohhalm essen kannst."

Tharin blieb neben Arjan stehen, Phine einen Schritt hinter ihr. Sie stemmte die Arme in die Hüften und ihr Blick traf Tharins, ehe sie sich wieder auf die Situation fokussierte.

„Deine Drohung macht übel keinen Sinn", erwiderte Jarek und zog an seiner Zigarette.

„Hast du verstanden?", knurrte Arjan und verspannte sich sichtlich.

Stille.

„Geh pennen", sagte Jarek.

„Es bringt nichts, Arjan", sagte Tharin mit klarer Stimme.

„Hast du verstanden?", wiederholte Arjan und machte Pausen zwischen den einzelnen Worten.

Stille.

„Jarek", sagte Phine.

Jarek schaute sie kurz an, dann wieder zu Arjan, dessen Atmung sich ein wenig beschleunigt hatte. „Ja. Ist gut", erwiderte er genervt und zog an seiner Zigarette. Arjan fixierte ihn noch einen Moment mit seinem Blick, zog sich zurück und ließ die Tür zufallen.

„Nacht", sagte er und verschwand dann hinter seiner Zimmertür.

Phine seufzte und Tharin schüttelte leicht den Kopf, dann umarmten die beiden sich.

„Bis morgen", sagte Phine, dann verschwanden auch sie jede in ihrem Zimmer.

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