Kapitel 9

Eurus und Sherlock wirkten ruhig und gelassen, dafür, dass sie seit zwei Tagen eingesperrt waren. Vielleicht zu ruhig.

Aber er konnte keinen seiner Wachen den beiden ausliefern. Eurus hätte ihn im Handumdrehen um den Finger gewickelt. Und er selbst konnte sie schließlich nicht ununterbrochen beobachten.

Was auch immer sie planten, Mycroft hatte jetzt keine Zeit sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Er war im Thronsaal, inmitten seiner Wachen, wie zu jeder Saison. Die Menschen fanden Gefallen daran zu bestimmten Zeiten einen riesen Auslauf an Schiffen zu machen.

Sie mussten das gesamte Gebiet um den Hafen evakuieren. All seine Einsatzkräfte müssten mithelfen, doch dann wären die Grenzen unbewacht. Es war jedes Mal eine äußerst heikle Angelegenheit. Sie mussten schnell und gezielt handeln, bevor die Schiffe ablegten.

Einer seiner Kundschafter drängte sich durch den Kreis seiner Soldaten. Er hatte offenkundig keine guten Nachrichten. "Herr, es sind mehr Schiffe, als wir erwartet haben. Außerdem scheint ein besonderes ohne Besatzung auf See gesetzt werden." berichtete der Meermann außer Atem.

"Wie sieht das Schiff aus?" hakte Mycroft nach.

"Schlichtes Holz, neu, überwuchert mit Blumenkränzen und Schwarzen Flaggen, beschriftet." keuchte der Bote so aufrecht wie möglich.

Ein Schiff zum Gedenken an die Toten. Mycroft hatte gewusst, dass dieser Schiffbruch Probleme bereiten würde. Immerhin hatten sie alle Menschen aus dem Gebiet gebracht. Vielleicht hätten sie darauf achten sollen, dass sie auch überlebten. Dann wären sie jetzt nicht in dieser Situation. Mycroft ärgerte sich über sich selbst, doch konzentrierte sich schnell wieder auf die Pläne. Er hätte im Endeffekt wieder genauso gehandelt.

Nach einigen Stunden war sein Plan nahezu perfekt. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl, als er den Kontrollbesuch bei seinen Geschwistern machte.

Er bog in den Kerker ein.

Da lagen sie, an die bröckelige Wand gelehnt. Das Wasser war hier kaum nährwert und trotzdem wirkten beide erfrischt. Doch es war unmöglich aus dieser Zelle auszubrechen, außer man hatte den Schlüssel. Und den trug Mycroft ständig um seinen Hals.

Er hatte wirklich keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Als Eurus ihn bemerkte tat sie überrascht lächelnd. "Schon wieder da?"

Mycroft sah nur gelangweilt auf sie herab. Sie wusste, dass er kommen würde bevor die Saison begann. "Ich werde eine Zeit lang weg sein. Aber das wisst ihr ja schon." sagte er schief lächelnd. Er sprach so kalt wie möglich, doch es fiel ihm schwer. Er konnte es nicht sehen, wie seine Familie eingesperrt war und auch noch von ihm festgehalten wurde. Allerdings war das besser, als sein ganzes Reich zu gefährden.

Eurus sah ihn missmutig an, doch da war etwas anderes. Ruhe. Als würde es ihr nichts ausmachen hier zu sein. Und diese brodelnde Leere in ihren Augen. Mycroft versuchte keine Miene zu verziehen. Er ließ seinen Blick zu Sherlock schweifen, der sich nicht geregt hatte, seitdem er aufgetaucht war. Sein Bruder sah verwirrt auf die Felswand gegenüber. Er hatte die Flosse angezogen, die er mit dem einen Arm umklammerte. Seine rechte Hand lag an seinem Hals. Nein, er sah genauer hin und erkannte wie sein kleiner Bruder eine seiner dunklen Locken um den Finger wickelte und wieder losließ, wieder umwickelte und losließ. Das hatte er seit der Hexe nicht mehr getan. Mycroft ahnte das Schlimmste.

Er schluckte schwer. "Bringt euch nicht gegenseitig um, bis ich wieder zurück bin."

Damit verließ er die beiden. Er würde sie später zu Rede stellen, jetzt war keine Zeit.


"Er weiß es." sagte Eurus.

Sherlock zupfte unbeirrt die Algen zurecht. "Trotzdem hält er uns nicht auf."

"Das meine ich nicht." erklärte sie ruhig. Sie versuchte den Ärger herunter zu schlucken.

Jetzt hielt ihr Bruder inne. "Was dann?" fragte er mit dem Rücken zu ihr.

Sie hörte an seiner Stimme, dass er es genau wusste.

Genauso hatte er sich angehört, als sie herausgefunden hatte, dass er eines der Tücher, die an den großen Stämmen auf den Menschenschiffen hingen, bei sich im Raum versteckt hatte. Er hat Stein und Bein geschworen, von nichts zu wissen. Doch Eurus hatte ihre Brüder schnell kennen gelernt - sie erkannte es sofort, wenn sie sich von Gefühlen leiten ließen. Er hatte sich in diesen Totenkopf darauf verliebt und alles daran gesetzt ihn zu behalten. Diesmal war es kaum anders. Sie sah wie der keinen Sherlock vor ihr auf dem Boden saß. Statt dem Schlüssel hielt er den Stofffetzen in den Kinder-Händen und versuchte ihn vor Mycroft zu verbergen.

Eurus hatte ihn nicht verraten. Sie hatte ihm stattdessen geholfen eine Strategie zu entwickeln, dass Mycroft ihn niemals finden würde.

Es ärgerte sie, dass er ihr nicht davon erzählt hatte. Von dem Totenkopf und den Beobachtungen und jetzt dem Menschen.

"Wir haben uns immer alles anvertraut." sagte sie enttäuscht.

Jetzt drehte sich Sherlock zu ihr um. "Und wann hattest du vor, mir von deinen Racheplänen zu erzählen?" entgegnete er.

Eurus wand den Blick ab.

"Du hast dich verändert, Eurus." fuhr er fort. Es hatte etwas Trauriges, so wie er es sagte. Sie wusste, dass es eine indirekte Aufforderung war, wieder lieb und brav zu werden, so wie früher.

Aber er hatte recht. Sie hatte sich verändert. Und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

"Werd erwachsen, Sherlock." meinte sie mit belegter Stimme. "Das Leben ist kein Märchen."

Damit nahm Eurus ihm den Schlüssel aus der Hand, öffnete das Tor und schwamm in ihren Raum. Die Grenzen würden heute nicht bewacht werden. Moriarty würde zu ihr finden.


Was nun?

Diese Frage geisterte seit Stunden in seinem Kopf herum. Einerseits konnte er an nichts anderes mehr als John Watson denken, andererseits drängten sich alle Drohungen und Predigen von Mycroft dazwischen. Und sobald Mycroft zurück kommen würde, würde er ihn bestimmt auf sein Verhalten ansprechen.

Sherlock schwamm unruhig hin und her.

Er wollte zur Grotte - aber was würde der Mensch sagen? Wenn er überhaupt da war ... Sherlock war nach der intensiven Berührung sofort verschwunden. Er war so überwältigt gewesen, er hatte einen Moment für sich gebraucht. Schließlich hatte er eine bedeutende Entscheidung getroffen.

Wenn der Mensch jetzt nie wieder kommen würde? Sherlock machte eine Kehrtwendung zurück zum Schloss. Das konnte er nicht ertragen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er sah John vor seinen Augen und drehte wieder in Richtung Grotte. Er wollte mit dem Menschen irgendwo hin fliehen, einfach weg.

Sherlock fand keinen klaren Gedanken.

Seine spitzen Fingernägel waren vollkommen abgekaut, als er letztendlich doch zu seinem geheimen Ort schwamm.

Er konnte sich nichts mehr vormachen, dieser Mensch hatte ihn vollkommen verzaubert.

Sherlock tauchte vorsichtig auf. Die Kuppel leuchtete golden im Sonnenlicht. Es mussten Stunden vergangen sein, seitdem Mycroft zur Evakuierung los ist.

Die Grotte war leer.

Sherlock wusste nicht ob er erleichtert sein sollte. Gedankenverloren glitt er durchs Wasser, bis er schließlich betrübt die Arme verschränkte und auf einen der glatten Steine am Ufer legte. Nach kurzer Zeit schloss er die Augen und träumte von den Menschen.


Sherlock lag so friedlich da, dass John sich nicht rühren wollte, aus Angst ihn aufzuwecken.

Langsam schlich er über den Sand zu dem schlafenden Wesen. Er betrachtete Sherlock lächelnd. Tief und gleichmäßig atmete er, während sich seine dunklen Locken auf der Stirn kräuselten. Jetzt, da sie trocken waren, hatten sie an Volumen zugenommen und wehten wuschelig im leichten Zugwind, der durch den Eingang der Höhle wehte.

Gott, er wollte sein Gesicht darin vergraben.

Was auch immer dieses Wesen mit ihm gemacht hatte ...

John schüttelte ungläubig den Kopf.

Nach gestern war er mehr als nur verwirrt gewesen. Da dachte er, er würde verfolgt werden und dann hatte er ihn geküsst. Der Tag den John zum Nachdenken gehabt hatte, hatte nicht annähernd für das Chaos, das in seinem Kopf wütete gelangt.

Die Fisch-artigen Ohren zuckten leicht. John hielt die Luft an. Sherlock schnaufte laut aus, dann rollte er den Kopf zur Seite und blickte John an. John sah in das Ozeanblau und vergaß fast weiter zu atmen. Er wusste nicht was er sagen sollte. 

Immerhin ging es Sherlock genauso.

"Hallo John." grollte er mit dieser tiefen warmen Stimme.

Als sich Johns Gänsehaut gelegt hatte brachte er ein brüchiges "Hallo, Sherlock." hervor.

Der Meermensch legte das Kinn auf den verschränkten Armen ab, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

John musste etwas sagen, um das gespannte Schweigen zu unterbrechen. "Machen das alle Meermenschen?" zitierte er unsicher, musste aber schmunzeln.

Sherlock zog fragend die Augenbrauen zusammen.

"Verschwinden." klärte John ihn auf. Sherlock begann zu grinsen, als er es verstand.

"Das kommt nicht mehr vor." meinte er zuversichtlich.

"Wieso habe ich das Gefühl, das das nicht wahr ist?" konterte John ebenfalls grinsend. Er wusste nicht wie er sich dem Wesen gegenüber verhalten sollte. Er fühlte sich mit ihm verbunden, auf eine Art und Weise, wie er es noch nie erlebt hatte.

Sherlock lachte. Es war ein tiefes dunkles Lachen, dass John wie ein Schwarm Schmetterlinge durchfuhr.

Das Licht tanzte glitzernd auf den vielen kleinen Schuppen auf Sherlocks Nase und um die Augen herum. Und diese Augen ... seine Augen leuchteten wie Saphire, während die dunklen Locken sich in den langen Wimpern verfingen.

Verdammt. 

Er fand Sherlock attraktiv. So wie er für die Mädchen in den vielen Handelsstädten geschwärmt hatte. Nur war es diesmal ... bei Sherlock war es ... es war ... mehr.

"Sherlock,  ähm ..." Warum war es so schwer das auszusprechen? "Warum bist du gestern einfach verschwunden?" Das war nicht, was John eigentlich fragen wollte, aber immerhin kam etwas aus ihn heraus.

Jetzt verstummte Sherlock. Seine Arme rutschten ins Wasser, als er den Blick abwand. "Das ist nicht so einfach." murmelte er.

Wem sagst du das. John musste immer noch verarbeiten, dass es menschliche Lebewesen im Meer gab. Und dass er auch noch vor einem saß, mitten im Sand in einer Höhle, die niemand kannte.

"Eine Berührung hat eine andere Bedeutung bei uns." sagte Sherlock, etwas lauter.

"Das sagtest du bereits." erinnerte sich John.

Jetzt hob Sherlock den Kopf und sah John direkt an. "Du verstehst nicht ..."

"Dann klär mich auf." forderte John verwirrt.

"Nein, John, es ist ... "

John sah ihn abwartend an. Sherlock atmete tief ein.

"Es hat eine andere Auswirkung."

Bedeutungsvoll sah er John in die Augen. Der verstand nur Bahnhof.

"Und das wäre?" fragte John vorsichtig nach einer kurzen Pause. Er sah wie Sherlock errötete.

"Menschen sind auf der Entwicklungsstufe wie Tiere." begann Sherlock. John hatte keine Ahnung worauf er hinaus wollte. "Sie ... sie müssen sich physisch vermehren. Meermenschen nicht."

John blinzelte. Hatte er das gerade richtig verstanden?

"Meermenschen haben sich weiterentwickelt, sie können durch das Aufbringen von genug Energie Leben produzieren." versuchte Sherlock zu erklären. "Aber keine elektrische Energie wie Menschen sie machen. Ich rede von Unsichtbarem, das was man nur fühlen kann. Zu vergleichen mit dem was ihr als Magie bezeichnet." 

John fand keine Worte. Er fand nicht mal Gedanken. Das war doch vollkommen absurd.

"Wenn sich zwei Meermenschen - oder Wesen aus den 4 Gruppen, die ich dir genannt habe - verbinden, dann können sie ein neues Lebewesen erschaffen. Wenn ihre gebündelte Energie stark genug ist." fügte Sherlock hinzu.

John musste ziemlich verstört aussehen, denn Sherlock verzog besorgt das Gesicht.

John blickte ihn sprachlos an. Energien? Bündeln? Leben produzieren? Er war den Bruchteil einer Sekunde davon entfernt auszurasten.

Sherlock wartete eine ganze Weile bis er schüchtern fragte: "Soll ich dir die Frage noch beantworten?"

John musste automatisch genickt haben ohne es zu merken, denn Sherlock holte noch einmal Luft.

"Energien entstehen und bündeln sich durch Berührungen." stieß er leise aus.

"Es kann schon beim Händeschütteln passieren, dass sich zwei Wesen verbinden." fügte er flüsternd hinzu. "Es ist fast unmöglich seine gesamte Energie mit mehreren zu teilen. Es gibt in einem Leben nur eine andere Person die man seine Energie spüren lässt, abgesehen von den Geschwistern. Und ... und wenn man jemandem das Leben nehmen will."

Eine gefühlte Ewigkeit starrte John ihn irritiert an. Er konnte sich nicht entscheiden ob er lachen oder schreien sollte.


-

Kapitel 9 Ende

Ein kürzeres Kapitel ;) Was es wohl mit den Energien noch so auf sich hat? 

Sollte es Fragen geben, oder ihr irgendetwas nicht ganz versteht, dann fragt einfach nach ;)



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