Kapitel 13

Da war es, in seinen Händen. Dieses einfache Stück Papier, das so unglaublich schwer auf seinen Fingern lag. Er konnte es kaum halten.

Die Haustür öffnete sich und kurz darauf kam Mike mit Einkaufstüten unterm Arm ins Zimmer geschwankt. Erst als er sie auf dem kleinen Tisch abgestellt hatte, bemerkte er John, wie er versteinert vor der Terrassentür stand. "Guten Morgen!" Rief Mike fröhlich und ging auf seinen Mitbewohner zu. "Was ist denn das?" Er nahm John den Brief aus der Hand.

"Das ist ja großartig!" stieß er aus, als er ihn gelesen hatte. Voller Freude für John schlug Mike ihm auf die Schulter. "Was für ein Zufall, dass ich etwas zum Anstoßen gekauft habe!" 

"Großartig." wiederholte John abwesend. Er nahm den Brief wieder entgegen und drehte ihn gedankenverloren herum.

Als er damals den Befehl bekommen hatte in den Krieg zu ziehen, war es ein Schock gewesen. Doch jetzt war es als bräche seine Welt zusammen. Dabei war es nur eine einfache Aufforderung im Gegensatz dazu, die er in den Händen hielt. Er sollte froh darüber sein; eine solche Beförderung bekam nicht jeder. Doch wie konnte er, wenn das bedeutete alles aufgeben, alles vergessen zu müssen, was in den letzten Tagen und Wochen passiert war? 

Der erste Morgen an dem Sherlocks Augen in seinem Kopf herum gespukt waren - John wusste nicht mehr ob es ein Wunder oder ein Fluch gewesen war. 

Die Angst, die wie durch Zauberhand zu Faszination und Verlangen wurde. Wenn John daran dachte, war es als würde er ihre ganze Geschichte noch einmal durchleben.

Im ersten Moment hatte er Sherlock für eine Frau gehalten, wegen den langen Locken und den langen Wimpern, den perfekt geschwungenen Lippen, den Wangenknochen, den Augen ... diese verdammten Augen.

Er spürte wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Es war eine gelungene Überraschung gewesen, dass sie, also er, ein Meermann war.

Eigentlich hatte John nie weiteres Interesse in andere Männer gehabt, außer trainierter zu sein oder besser aussehend. Doch das was Sherlock mit ihm machte, war unglaublicher als es je mit einer seiner Freundinnen gewesen war. 

John sah wieder auf das Papier in seinen Händen. Wie sollte er es Sherlock nur sagen?

Er konnte es nicht.


John war nicht an ihrem Ort.

Beunruhigt verließ Sherlock die Grotte. Er hatte schon den ganzen Morgen ein ungutes Gefühl gehabt. 

Der Hafen war mittlerweile so belebt, dass er sich nicht hinter seinem Felsen hervortraute. Besonders nicht nach dem Aufruhr wegen Mycroft.

Also schwamm Sherlock zu der Bucht. Er tauchte neben den Stein auf, auf dem er John das erste Mal gesehen hatte.

Sofort bemerkte er jemanden im Sand sitzen.

John.

Als er schon den feinen Sand unter seinen Schuppen spürte, hob John den Kopf. Jetzt sah Sherlock auch wieso er ihn in seinen Armen vergraben hatte. Gerötete Augen sahen ihn überrascht und verzweifelt an. Trotz des seichten Wassers zog sich Sherlock so weit zu seinem Freund wie es ging. John rührte sich nicht, er wand sogar sein Gesicht ab.

Sherlock konnte gar nicht beschreiben, wie sehr ihn das durchstach.

"John?" flüsterte er zaghaft. John schluchzte. Es zerriss Sherlock, dass sich John nicht von ihm trösten ließ. Er streckte seine Hand soweit es ging aus und berührte Johns Arm. Abrupt sah dieser auf und schwang die Arme zur Seite. "Nein, Sherlock verstehst du nicht?" Traurig, wütend und verzweifelt sah er Sherlock in die Augen. Schnell wand er sich wieder ab und Tränen liefen über sein Gesicht.

Jetzt hielt es Sherlock nicht mehr aus. Mit aller Kraft zog er sich über den Sand zu seinem Mensch. Er schlang die Arme um ihn und legte die Flosse so um ihn herum, dass er ihn nicht entwischen konnte.

John so zu sehen, raubte ihm die letzte Freude, trotzdem versuchte er ihn so viel positive Energie spüren zu lassen, wie er nur konnte.

Erst versuchte John sich aus seinen Armen zu winden, doch er hatte keine Chance. Dann rollte er sich doch in Sherlocks Brust und schlang seine Arme um den glatten Rücken und er weinte. Sein bebender Körper machte es Sherlock schwer nicht auch zu weinen, John nicht in die Augen zu sehen und ihn sagen zu lassen das alles ok war. Er kniff die Augen zusammen, denn es war klar, dass nicht alles in Ordnung war. Definitiv nicht. Und das machte ihm Angst.

"Ich bin da. Ich bin ja da." murmelte Sherlock in Johns Ohr. Doch das brachte John nur zu lauterem Schluchzen.

"John ich bin da." flüsterte er weiter. Es kam Sherlock kaum über die Lippen. "Ich werde immer da sein." brachte er brüchig hervor, während eine salzige Träne seine Wangen hinunter rollte. 

Jetzt hob John den Kopf und sah Sherlock direkt in die Augen. Doch auch diesmal konnte er seinem Blick nicht stand halten. "Sherlock." begann er zittrig, während er den Blick abwand. "Da ist etwas ... Es gibt etwas, das ... dass ich dir ..."John schaffte es nicht weiter zu reden. Er biss sich auf die Lippe und sah starr aufs Meer hinaus. 

Er brauchte nichts weiter zu sagen. Sherlock wusste es.

Wenn er Alles ausschloss, was John in diesen Zustand versetzten konnte, das nicht möglich war, dann blieb nur noch eine Lösung übrig. Eine Einzige. Und die aller Schlimmste.

Sherlock hielt es nicht mehr aus, John so neben sich zu sehen. Wie er ausdruckslos aufs Meer sah und versuchte einen Halt zu finden, der er nicht sein konnte. John wollte Sherlock nicht an sich heranlassen, was den Meermann zerbrach. Alleine wollte er John nicht lassen, nicht jetzt, niemals. Doch es ging nicht anders, er musste weg, brauchte Zeit um das zu verarbeiten.

Ohne ein Wort löste er sich von seinem Mensch, kroch zurück ins Wasser und schwamm so schnell und weit wie er konnte, schrie und floh vor diesem Gefühl, das einem das Herz aus der Brust riss.


Leichte Schritte näherten sich über den harten Sand. Lautlos setzte sich Mary neben ihn ans Wasser und zog die Beine an. "Ziemlich windig heute." 

Keine Reaktion von John.

"Mike hat mir erzählt, dir wurde ein Handelsposten im Landgebiet ein paar Tage entfernt angeboten."

"Es ist kein Angebot. Es ist ein Befehl." korrigierte der Ex-Soldat kalt.

"Dann bleibt dir die Überlegung sowieso erspart." meinte Mary aufmunternd. "Wieso sitzt du dann hier und denkst nach?"

John schluckte schwer, doch brachte nichts heraus. Mary schien seine geröteten Augen gesehen zu haben, denn sie schwieg.

Nach einer Weile wand sie sich wieder zu John. "Es ist wegen ihm, hab ich recht?" 

Das brachte John fast dazu vor ihr los zu heulen. Er war ein Soldat, Soldaten weinten nicht. Er würde wieder ein Soldat sein müssen ... Jetzt rollten die Tränen über seine Wangen. Es war ihm egal, ob Mary das sah. Alles war ihm egal. Soll es doch die ganze Welt wissen.

"Ich will nicht dort hin." presste John zwischen den Tränen hervor, die nun über sein Gesicht liefen. 

Mary sah nachdenklich aufs Meer. "Es gibt einen Weg, wie du nicht dorthin brauchst."

Irritiert wand John sich zu ihr.

Die Krankenschwester sah in verschmitzt an.

"Indem du nie ankommst."


Er kam sich dämlich vor es schon wieder zu tun. Über sich selbst augenrollend rief Greg den Namen des Meermanns erneut.

Das er die Geschichte mit den Meermenschen vergessen konnte, hatte sich wohl erübrigt. Dabei wusste der Polizist gar nicht, ob er es gut oder schlecht fand. Was für irre Gedanken; kann Mycroft nicht endlich kommen?

Genau in diesem Moment tauchte er auf. Er schien sehr verwirrt und besorgt, als hätte er gerade Wichtigeres zu tun und hatte trotzdem auf den Ruf gehört.

Doch davon wollte sich Greg nicht abhalten lassen, seine Angelegenheit war mindestens genauso wichtig, schließlich ging es um seine Freunde und auch um einen von Mycrofts  Untertanen.

"Mycroft, ich möchte das du dein Versprechen einlöst. Jetzt kannst du deine Schuld begleichen." Greg wunderte sich selbst über den fordernden Ton - und  dass es klang als würde er aus einem Roman zitieren. Damit hatte er den Meermensch auf jeden Fall überrumpelt, denn der sah perplex zurück.

"Greg, es tut mir Leid, aber das kommt gerade sehr ungelegen." Doch bevor Mycroft verschwinden konnte rief der Mann ihn zurück. "Es ist unglaublich wichtig, hör es dir an, es geht auch um einen Meermensch!"

Damit hatte er Mycroft.

"Ich weiß, dass du ein Problem mit Menschen hast." begann Greg beschwichtigend. "Aber mein Freund kann sich nicht von einem von euch trennen und es ist sehr kompliziert, aber ich brauche deine Hilfe." Er sog tief Luft ein um angespannt auf Mycrofts Antwort zu warten.

Dem Wesen schien es die Sprache verschlagen zu haben. Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte der Meermann kaum merklich. Dankbar atmete Greg aus. Er streckte die Arme aus, um Mycroft zu bedeuten, er solle sich nicht rühren. Dann lief er um die Ecke zu Mary, die am Hafen wartete. Sofort machte sie sich auf den Weg zu John und Greg ging zurück zum seinem Meermenschen.

Die Mittagssonne hatte Mycrofts Haare wieder zu den hellen Locken getrocknet, die jetzt um seinen Kopf herum wehten. Es war wirklich verdammt heiß heute, hoffentlich kam bald ein Gewitter und hoffentlich genau zur richtigen Zeit.

Sie sahen sich einfach nur an. Anscheinend wusste Mycroft auch nicht was er sagen sollte, genau wie Greg, dem es langsam peinlich wurde sich von ihm mustern zu lassen. Verlegen fuhr er sich durch die Haare und hielt nach John und Mary Ausschau.

"Was ist es?" fragte der Meermann auf einmal.

"Was?" 

"Die Schuldbegleichung. Was willst du das ich tue?"

Greg zögerte. "Zuerst brauchen wir den Meermensch von John, den aus der Grotte." Jetzt hob Mycroft misstrauisch die Augenbraue. "John kommt gleich, um ihn zu beschreiben, damit du weißt wer ..." Bevor Greg zu Ende gesprochen hatte tauchte Mycroft schon schwungvoll unter Wasser.

"Halt! Du weißt doch gar nicht wen wir meinen!" rief der Mann ihm hinterher, doch Mycroft war schon verschwunden.

Was jetzt?

Nach ein paar Minuten stolperte Mary mit John im Schlepptau durchs Gebüsch, zu der Stelle an der Greg mittlerweile sitzend wartete. Als er die beiden bemerkte nahm er die nassen Füße aus dem Wasser. Aus irgendeinem Grund hatte er sich zum Wasser hingezogen gefühlt. Es war ihm plötzlich unheimlich peinlich, doch bei Johns Anblick empfand er es als belanglos. Sein Freund sah schlimm aus. Aufgequollene Augen, der starre Blick und die aschfahle Haut wirkten noch beängstigender durch die halbnasse, sandige Kleidung, die unordentlich an seinem Körper hing. 

Greg öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder, denn er hatte keine Ahnung, wie er den beiden erklären sollte, das die Hälfte des Plans gerade verschwunden war.

"Und was nun?" ertönte die vertraute Stimme hinter ihm. Greg schnellte herum und sah in ein Spiegelbild von Johns Zustand. Der Meermensch, der neben Mycroft im Wasser schwamm, oder besser gesagt gerade so versuchte nicht unter zu gehen, hatte tiefe Augenringe und das Leuchten in seinen Augen schien leblos im Gegensatz zu denen des anderen. Greg hatte keinen Zweifel mehr, dass es der Richtige war.

"Da-danke, woher wusstest du ...?" begann er verwirrt, doch Mycroft blickte ihn an, als sollte er still sein.

"Das ist Sherlock, mein kleiner Bruder." stellte Mycroft den schwarz gelockten Meermann vor. Sein Bruder? Jetzt lösten sich einigen Fragen, obwohl auch noch mehr Verwirrung dazu kam.

Sherlock rührte sich nicht, er konnte die Menschen nicht ansehen. Dabei war es doch der ältere, der eine so große Abneigung gegen sie hatte, dachte Greg.

Es war fast als flimmerte die Luft zwischen John und dem jungen Meermensch.


Als sich niemand gewillt sah etwas zu sagen, ergriff Mary das Wort. "John wird auf einem kleinen Handelsschiff mit wenig Besatzung mitgenommen."

Sherlock machte ein Geräusch, das wie ein unterdrücktes Schluchzen klang, woraufhin er den Blick noch tiefer senkte.

John riss es endlich aus der Starre und er ließ sich auf den Boden vor die Meermenschen fallen. Jetzt merkte Greg wie seine Hände zitterten und er den Tränen nahe war. "Sh-Sh ..." stotterte John mit bebenden Lippen.

Greg drehte es fast den Magen um, es war als würde er spüren wie sehr er sich Sorgen um Sherlock machte - Moment. Warum fühlte er, wie Mycroft gerade empfinden musste?

"Sher-Sherlock ..." John fiel jetzt ganz nach vorne und streckte die Hände in Richtung des Lockenkopfs. "Sherlock, ich werde nicht wegfahren." schluchzte er verzweifelt auf eine Reaktion hoffend. Sein Kopf sank auf den Boden und er konnte die Tränen nicht mehr zurück halten.

Die Angst seine Liebe zu verlieren, die Hoffnung es nicht zu müssen, und alles dazwischen floss aus ihm hinaus. Dieses Gefühl Sherlock nahe zu sein, war unbeschreiblich. Und genauso schlimm war es ihm fern zu sein. Alleine die Vorstellung ... nein er konnte es sich nicht vorstellen.

Da durchfuhr ihn ein warmer und zugleich kühlender Strom, der von einer winzigen Berührung an seinen Fingerspitzen ausging. John hob den Kopf und blickte in die vertrauten ozeanblauen Augen. Ein leichter Schimmer leuchtete durch die glänzenden Tränen hervor, als Sherlock seine Hände mit seinen eigenen umschloss. John lachte glücklich auf, was seinen Meermann ebenfalls zum Lächeln brachte. 

"Ich werde dich niemals verlassen. Niemals, hörst du?"

Nickend strich Sherlock seinem Menschen die Tränen aus dem Gesicht.

"Ich liebe dich."


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Kapitel 13 Ende :)

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