Schwimmer erinnern
Sie sitzen am See und warten.
Neben ihm liegt "Die geheime Schachtel", von Angélique de Waard, einer niederländischen Kinderbuchautorin. Doch er liest es gerade nicht.
Obwohl sie wollte, dass er es liest.
Sie hätte bestimmt anderen daraus vorgelesen, den Kindern am Strand vielleicht, aber es war ein sehr trauriges Kinderbuch und eigentlich nicht für Kinder. Zumindest nicht jetzt an so einem schönen Sommerabend.
Sie hatte in der Nacht geweint, in der sie es von Mitternacht bis zum Morgengrauen durchgelesen hat, weil sie nicht hatte schlafen können. Und sie war froh gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte. Wie auch.
Er hat noch nie wegen einem Buch geweint. Aber
Manchmal stand er Abends lange vor dem Spiegel
Und wenn es dann so war
Beobachtete er sich, wie er weinte
Wie seine Augen sich in den Adern erst mit Blut füllten und dann mit Tränen
Wie sie irgendwann überliefen, und die Wange herunter
Am Ende dann fielen
Dieser Weg von den Augen auf die Fliesen oder ins Waschbecken war eigentlich schon an sich die vollendete Metapher für Trauer.
Irgendwann läuft es über.
Sucht sich seinen Weg nach unten.
Bis es einen wieder verlässt.
Und entweder im Waschbecken mit anderem Wasser zusammen verschwindet
Oder auf den Fliesen vertrocknet und in die Luft fliegt und flieht.
Jeder Liter auf der Erde wurde schon drei mal von einem anderen Lebewesen getrunken.
Und wie oft wurde jede Träne geweint?
Es bringt vielleicht nichts, ins Waschbecken oder in die Küchenspüle auf seinen eigenen Tränen zu sehen.
Ja, auch wenn es nichts bringt.
Dafür nimmt es etwas.
Vielleicht den Weltschmerz der Weltentfremdung.
Bleib am Leben. Ganz nah dran.
Er denkt an sie und an Tränen und plötzlich fällt ihm auf.
Das Meer ist aus Salzwasser.
Er blickt auf die andere Seite des Sees.
Er kann sie nicht erkennen mit ihrem schwarzen Badeanzug und dem grauen Handtuch zwischen all den bunten Strandkörben und farbenfrohen Sonnenschirmen.
Er selbst sitzt hier in einer kleinen Bucht zwischen dem Schilf, auf der Schattenseite, dort wo auch die Angler sind.
Und denkt an Tränen und sie, anstatt das Kinderbuch zu lesen dass sie ihm gegeben hat.
Doch jetzt ist die Sonne hinter den Bäumen, endlich, und er lässt das Buch einfach weiter liegen und geht ins Wasser.
Ganz langsam, genießt jeden Zentimeter Kälte mehr auf seiner Haut, welcher sich schon bald darauf in ungewohnte Wärme verwandelt.
Er spürt es, so eindeutig, und das ist ihm gerade lieber als etwas zu fühlen.
Und jetzt schwimmt er.
Und sie auch.
Aufeinander zu.
Endlich.
Das war ihre Art, einen Abend am See zu verbringen. Und gemeinsam Schwimmen zu gehen.
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