Essen lesen
Sie sitzen sich gegenüber am Tisch.
Man weiß nicht ganz, ob hier gerade ihre Geschichte beginnt, ob das also gerade so etwas wie ihr erstes Treffen ist, oder ob sie sich schon länger kennen.
Es ist kaum erkenntlich, denn keiner von beiden zeigt auch nur ein Zeichen von Unsicherheit oder Neugier.
Es ist aber ein merkwürdiges Bild, wie sie sich so gegenüber sitzen.
Warum?
Nun ja, sie haben beide ein Buch vor der Nase.
Die des Mädchens versinkt fast darin, während der Junge es flach vor sich auf den Tisch auf das alte dünne Holz gelegt hat.
Es sind schöne Bücher. Ein Hellgrünes mit einem Foto von einem Mädchen mit einer Maus auf der Schulter, und ein Hellblaues mit einem gemalten Portrait von einem Jungen, welcher als Bild ja gerade auf die kerbige und klebrige Tischplatte schaut und so auch für andere nicht sichtbar ist.
Der Blick des Mädchens auf ihr Buch ist unschlüssig, fast abgeneigt, als versuche sie Abstand von dem zu gewinnen was ihre flinken Pupillen da auf den Papierseiten erhaschen. Ihre Augenbrauen sind unruhig, ihre Wimpern haben keine Geduld und könnten Augen reden, so müsste das Zwinkern ein aufgeregtes Gespräch sein.
Er hingegen ist seinem Buch näher, obwohl es weiter weg liegt.
Ruhig gleiten seine halbgeschlossenen Augen über die Seiten, seine Lider lächeln und sind eher schweigsam.
Melancholisch, wie sein Buch:
"Der Junge bekommt das Gute zuletzt"
von Dirk Sterrmann.
Kein Buch für Kinder, oder depressive Jugendliche. Oder depressive Erwachsene.
Ihr Buch ist aber auch melancholisch.
"Tote Maus für Papas Leben"
Ein niederländischer Kinderbuchklassiker.
Sie liebte solche Kinderbücher.
Sie verlor sich so gern in ihrer bewussten Naivität, wenn sie tief in sich drin fühlte, dass sie mehr verstand von der Welt, als sie wollte.
Zum Beispiel in den Momenten in denen sie erkannte, wie wenig sie eigentlich von der Erde überblickte.
So sitzen sie sich gegenüber und lesen, anstatt sich zu unterhalten.
Oder mal anzusehen.
Bestellt haben sie schon, Wasser und Salat und Pizza.
Sonst haben sie noch gar nichts gesagt. Doch das ändert sich jetzt.
"Hör mal."
Sie richtet sich auf, wobei ein Bein aus ihrem Schneidersitz entkommt, und ihr Fuß gegen seinen stößt, vielleicht für die Aufmerksamkeit, vielleicht aber auch einfach so.
Er schaut nicht sofort hoch, aber automatisch streckt er seine Beine, lehnt die übereinanderliegenden Füße nach vorn, stupst ihren auch nochmal an, wie eine kleine Begrüßung.
Kurz liest er noch seinen Satz zuende, dann schaut er hoch, muss erstmal realisieren wo er gerade ist, und hebt die Augenbrauen.
Sie hat gewartet, hebt ihre nun auch, das machen sie beide immer so, und dann schaut sie wieder ins Buch und liest vor:
"Ich ging wie sonst auch in die Schule.
Ein bisschen komisch war das schon.
Vielleicht hätte ich traurig sein sollen."
Er lächelt.
Sie auch.
Dann schaut sie aber gleich wieder in ihr Buch.
Einige Sekunden blickt er sie noch an, ehe auch er weiterliest.
So versinken sie wieder in getrennte Welten, obwohl sie doch eigentlich am selben Tisch sitzen, nur durch dessen Fläche und eine darauf stehende Blumenvase getrennt.
Ohne von seinem Buch hochzusehen lehnt er sich auf seinem Stuhl etwas zurück und streckt die Beine mehr zu ihrer Seite unter dem Tisch.
Sie schaut unter ihrem Buch und der Tischkante entlang auf seine Schuhe, doch ändert ihre Sitzposition nicht. Er dann auch nicht mehr.
Und so sitzen sie da
Ohne Verbindung
Ohne Worte
Doch sie lesen beide ein Buch
Beide ein Melancholisches
Und sie haben beide wirre wilde Haare
Und milde irre Gedanken.
Und teilen sich dann ein stilles Wasser und einen bunten Salat und ne vegane Pizza.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top